Dezember 2020

201203

ENERGIE-CHRONIK



Die Bundesnetzagentur hat alle Tage penibel aufgelistet, an denen zwischen dem 4. November und dem 14. Dezember die Preise für Sekundärregelenergie (aFFR) und Minutenreserve (MFRR) in mindestens einer der sechs Zeitscheiben die Grenze von 9.999,99 Euro pro Megawattstunde überschritten. Diese Grafik veranschaulicht die so gewonnenen Ergebnisse für die Minutenreserve im November. Wie man sieht, wurde die genannte Preisgrenze nur an 4 von 27 Tagen nicht überschritten. Am 16. November waren sogar alle sechs Zeitscheiben betroffen. Am höchsten waren die so verursachten Kosten mit 200.590 Euro am 11. November. Insgesamt addierten sich die hier dargestellten Beträge zu 1,63 Millionen Euro.

Auch der "Regelarbeitsmarkt" funktioniert nicht richtig

Der neu eingeführte "Regelarbeitsmarkt", der mißbräuchlich überhöhte Preise für Regelenergie verhindern soll (180503) und seit Anfang November dieses Jahres praktiziert wird (200311), funktioniert genauso wenig wie die beiden Vorgänger-Modelle. Die Bundesnetzagentur zog deshalb am 16. Dezember die Notbremse: Sie kürzte die technische Obergrenze für die Preise am Regelarbeitsmarkt auf ein Zehntel des bisherigen Werts. Aber auch diese 9.999,99 Euro pro Megawattstunde sind noch immer weit entfernt vom durchschnittlichen Preis für Regelenergie, der nicht mehr als eine zweistellige Summe beträgt. Die Absenkung begrenzt deshalb allenfalls das Ausmaß des Schadens. Sie ändert indessen nichts am eigentlichen Problem, dass bisher für die Beschaffung von Regelenergie kein wirklich funktionierender Wettbewerb besteht (siehe Hintergrund).

Mindestens ein Drittel der Zuschläge entfiel auf Arbeitspreise von über 9.999 Euro/MWh

Die Behörde hat die Entwicklung der Regelarbeitspreise nach Inkrafttreten der neuen Regelung beobachtet und an 33 von 43 Tagen festgestellt, dass mindestens ein Drittel der bezuschlagten Gebote einen Arbeitspreis von über 9.999 Euro pro Megawattstunde aufwies. Einzelne Bieter nutzten sogar den technisch möglichen Höchstpreis von 99.999,99 Euro pro Megawattstunde voll aus und bekamen den Zuschlag. Sie kassierten so ganz legal mehr als das Dreitausendfache des durchschnittlichen Großhandelspreises für Strom am Spotmarkt. Die Durchschnittspreise für Regelenergie sind allenfalls zwei- bis dreimal so hoch.

Leidtragende dieser Mißbrauchsmöglichkeiten sind zunächst die Bilanzkreisverantwortlichen, denen die Arbeitspreise für Regelenergie als "Ausgleichsenergie" in Rechnung gestellt werden. Sie erhöhen so die Vertriebskosten und werden über diese an die Letztverbraucher weitergegeben. Die parallel dazu vorgehaltene Regelleistung, die nur in Notfällen aktiviert wird, zählt dagegen zu den Systemdienstleistungen und belastet über die Netzentgelte die Stromrechnungen.

Nach dem gescheiterten Reformversuch richteten sich alle Hoffnungen auf den "Regelarbeitsmarkt"

Ende 2017 hatte sich herausgestellt, dass das bisher praktizierte Verfahren zur Einholung von Angeboten für Regelenergie extrem überhöhte "Mondpreise" ermöglichte, die aber formal nicht zu beanstanden waren (171201). Die Bundesnetzagentur kürzte deshalb als Sofortmaßnahme den zulässigen Höchstpreis auf ein Zehntel (180101). Außerdem modifizierte sie das bisherige Verhältnis zwischen Leistungs- und Arbeitspreisen (180503). Auf Antrag eines Energiehändlers wurde dieses "Mischpreisverfahren" aber suspendiert (180707) und ein Jahr später für ungültig erklärt (190702). Damit trat automatisch die ursprüngliche Regelung wieder in Kraft, wobei die Bundesnetzagentur deren Mißbrauchsmöglichkeiten erneut zu entschärfen versuchte, indem sie den zulässigen Höchstpreis von 99.999,99 Euro pro Megawattstunde auf ein Zehntel reduzierte.

Fortan richteten sich alle Hoffnungen auf den nach EU-Vorgaben gestalteten neuen "Regelarbeitsmarkt", der mit einer nochmals anderen Kombination bzw. Separierung von Leistungs- und Arbeitspreisen dem legalen Betrug einen Riegel vorschieben sollte (191007). Die Übertragungsnetzbetreiber wären verpflichtet gewesen, diese Neuregelung bis spätestens 1. Juni 2020 umzusetzen. Sie sahen sich dazu aber wegen technischer Probleme mit der notwendigen Umstellung ihrer elektronischen Datenverarbeitung nicht in der Lage und erwirkten deshalb einen Aufschub bis Anfang November(200311).

Der neue "Regelarbeitsmarkt" sollte das bisherige Nebeneinander von Leistungs- und Arbeitspreisen mit dem daraus sich ergebenden Problem der jeweiligen Gewichtung beider Faktoren vermeiden. Zur Erreichung dieses Ziels wurden zwei getrennte Märkte für Regelarbeit und Regelleistung eingeführt: Die Regelarbeit wird von den Unternehmen, die sich als Anbieter von Regelenergie "präqualifiziert" haben, separat angeboten. Wenn der voraussichtliche Bedarf gedeckt ist, werden die nicht benötigten Gebote zur weiteren Vermarktung freigegeben. Die Regelleistung ist dagegen eine Art "Versicherungsprodukt", wie die Bundesnetzagentur es formulierte. Die an diesem Markt bezuschlagten Gebote sollen lediglich sicherstellen, dass genügend Regelreserve zur Verfügung steht, wenn der Regelarbeitsmarkt beispielsweise wegen technischer Probleme ausfällt. Die Vergütung der dann erbrachten Regelarbeit erfolgt nach einem Ersatzarbeitspreis, der "die individuellen Kostenstrukturen des Anbieters möglichst nachzeichnet".

Noch kein genauer Termin für die Umstellung der Preisobergrenze

Nun stellt sich heraus, dass der mit großen Vorschusslorbeeren bedachte Regelarbeitsmarkt ebensowenig eine vernünftige Lösung ergibt wie die vorherigen Verfahren. Und erneut hat man den Eindruck, dass die Übertragungsnetzbetreiber ihre IT-Struktur nicht so recht im Griff zu haben scheinen. Jedenfalls wird es mehr als zwei Wochen dauern, bis sie in der Lage sind, eine Notfallmassnahme wie die von der Bundesnetzagentur beschlossene Kürzung des zulässigen Höchstpreises überhaupt technisch umzusetzen: Man habe "die Machbarkeit der Umstellung" geprüft, hieß es in einer Verlautbarung der vier Übertragungsnetzbetreiber, und man werde die neue Preisobergrenze "zum Anfang Januar 2021 einführen". Näheres zum Zeitplan und zu Details werde noch mitgeteilt.

 

Hintergrund

Legale Abzocke mit Regelenergie

(siehe oben)

Die Liste der präqualifizierten Anbieter von Regelenergie umfasst derzeit 57 Unternehmen, von denen 29 Primärregelung (FCR), 35 Sekundärregelung (aFRR) und 40 Minutenreserve (mFRR) anbieten (PDF). Gegenüber dem Vorjahresstand sind das sechs Unternehmen weniger (PDF). Offenbar reicht dieser eher rückläufige Anbieterkreis nicht aus, um tatsächlich einen Wettbewerb in Gang zu bringen, bei dem die Gebote im realistischen Bereich bleiben und mißbräuchlich überhöhte Preise keine Chance haben. Deshalb ist die Reduzierung des technisch möglichen Höchstpreises auf 9.999,99 Euro pro Megawattstunde trotz der zehnfachen Absenkung keine Lösung, sondern lädt weiter zur legalen Abzocke ein.

Damit spekulative Höchstpreis-Angebote keine Chance auf Zuschlag haben und deshalb auch gar nicht erst abgegeben werden, müsste das Eingabe-Limit mindestens auf 1.000 Euro gesenkt werden. Es läge damit noch immer zigfach über dem Durchschnittspreis für Regelenergie. Eine solche Vorsichtsmassnahme brächte sicher mehr als ein erneutes Herumbasteln an anderen Algorithmen. Falls der Markt dann noch immer nicht funktioniert, sollte man einfach darauf verzichten, ihn weiterhin künstlich am Leben zu erhalten.

Das Problem ließe sich nämlich ohne weiteres lösen, indem man den Übertragungsnetzbetreibern gestattet, die von ihnen benötigte Regelenergieleistung selber vorzuhalten und einzusetzen. Schließlich ist Regelenergie ein Betriebsmittel, das zum Geschäft der Netzbetreiber so untrennbar gehört wie das Löschwasser zur Feuerwehr. Früher, zu Zeiten der integrierten Stromversorgung, war das ganz selbstverständlich. Die Beschaffung von Regelenergie via Ausschreibung hätte schon deshalb als Schnapsidee gegolten, weil es dafür an der IT-Struktur fehlte, ohne die heute weder die Strombörse noch andere Veranstaltungen des liberalisierten Energiemarktes möglich wären.

Generell hatten die neoliberalen Wirtschaftsideologen am Ende des vorigen Jahrhunderts mehr Glück als Verstand, als sie die substanzlose Ware Strom, die mit Lichtgeschwindigkeit verbraucht wird und sich nur per Energieumwandlung "speichern" lässt, von ihren technischen Voraussetzungen so weit wie nur irgendwie möglich zu separieren versuchten. Sie wären damit sehr rasch an unüberwindliche Grenzen gestoßen, wenn sich die elektronische Datenverarbeitung und das Internet seitdem nicht so rasend schnell entwickelt hätten.

Die enorme IT-Abhängigkeit der heutigen Stromversorgung schafft indessen neue Probleme. Das fängt schon ganz banal mit ihrer Unübersichtlichkeit an, die sich nur noch Experten und selbst denen nicht in allen Details erschließt. Zum Beispiel waren die Übertragungsnetzbetreiber nicht in der Lage, die seit November 2017 vorliegende EU-Verordung zur Einführung des "Regelarbeitsmarkts" bis spätestens 1. Juni 2020 in eine entsprechende Software umzusetzen. Auch die Verlängerung der Frist um fünf Monate wollten sie unbedingt nochmals verlängert haben, bis der Bundesnetzagentur der Geduldsfaden riß und sie mit empfindlichen Ordnungsstrafen drohte.

Gefährlicher sind aber sicher die Mißbrauchsmöglichkeiten, die sich durch Ausnutzung von Schwachstellen dieser IT-Struktur eröffnen. Zum einen sind das potentielle "Hacker"-Angriffe von außen, die auf die Lahmlegung des Systems zielen – vor allem dann, wenn sie vorläufig unerkannt bleiben. Zum anderen droht aber auch der Mißbrauch der vollelektronisch ablaufenden Prozesse durch die Marktakteure selber. Bei der Regelenergie gehören dazu die bekannten Arbitrage-Geschäfte, die schon wiederholt zu einer gefährlichen Verknappung der Minutenreserve geführt haben (200407). In diesem Fall müssen die Ertappten immerhin mit Sanktionen durch die Bundesnetzagentur und mit Namensnennung rechnen. Völlig legal sind dagegen die "Mondpreise", die auf der Merit-Order-Liste für die sechs Zeitscheiben eines Tages plaziert werden dürfen und häufig tatsächlich abgerufen werden. Außerdem erfährt man hier nicht einmal, welche Unternehmen sich derart unverschämt auf Kosten der Stromverbraucher bereichern, weil alles im Schutz der Anonymität abläuft (siehe Hintergrund, Dezember 2017.

Der Markt für Regelenergie war schon immer eine schwachbrüstige Veranstaltung. Nach der 1998 in Kraft getretenen Liberalisierung des Strommarktes hat es rund zehn Jahre gedauert, bis er einigermaßen in Gang kam und mehr als eine reine Alibi-Veranstaltung war (siehe Hintergrund, Juli 2019). Es gibt keinen Grund, an dieser ebenso komplizierten wie manipulationsanfälligen Konstruktion um jeden Preis festzuhalten. Einziges Hindernis wäre die neoliberale Dogmatik, die auf einer strikten Trennung von Erzeugung und Netzbetrieb auch bei der Regelenergie besteht.

Zu welchen Verrenkungen diese Dogmatik führt, hat man bei den "Netzstabilitätsanlagen" gesehen, die dann auch noch zu "besonderen netztechnischen Betriebsmitteln" verschwiemelt wurden, um ja nicht den Eindruck entstehen zu lassen, es könne sich schlicht um Kraftwerke handeln. Diese Gaskraftwerke für Notfälle werden nun zwar mit Netzentgelten gebaut, gehören juristisch den Netzbetreibern und werden ausschließlich auf deren Anweisung eingesetzt. Ihr Betrieb muss aber laut Gesetz "Dritten" überlassen werden, die in der Praxis RWE, Uniper oder EnBW heißen (201107). Diesen Betreibern gehört natürlich auch die rentable Seite des Geschäfts. Die Kosten werden dagegen nach neoliberalem Muster sozialisiert und über die Netzentgelte auf die Verbraucher umgelegt.

 

 

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