Juli 2019

190701

ENERGIE-CHRONIK


Mangel an Regelenergie gefährdete dreimal die Netzstabilität

Wie Anfang Juli durchsickerte, hat ein drastischer Mangel an Regelenergie im Juni dreimal die Netzstabilität gefährdet. Auf Nachfrage von Medien bestätigten die Übertragungsnetzbetreiber in einer gemeinsamen Erklärung, dass am 6., 12. und 25. Juni der Bedarf an Regelenergie im Schnitt mehr als sechs Gigawatt betragen habe, was die kontrahierten und damit abgesicherten Reserven um mehr als das Doppelte überstiegen habe. "Die Lage war sehr angespannt und konnte nur mit Unterstützung der europäischen Partner gemeistert werden", hieß es in der Stellungnahme. Als Konsequenz hätten die Übertragungsnetzbetreiber die bisher übliche Ausschreibungsmenge für die sogenannte Minutenreserve ab 29. Juni erhöht. Derzeit werde gemeinsam mit der Bundesnetzagentur analysiert, weshalb es zu den ungewöhnlich großen Systembilanzabweichungen gekommen ist. Bei der von der Behörde vorgegebenen Methodik werde die dazu erforderliche Auswertung der Bilanzkreisabrechnung bis zu acht Wochen dauern. Bis dahin wolle man keine Mutmaßungen über die Ursachen anstellen und auch nicht darüber spekulieren, ob die dreimalige Gefährdung der Versorgungssicherheit "Konsequenzen für Marktteilnehmer oder die Methodik der Bilanzkreisabrechnung" haben werde.

Behörde will schärfer gegen "Kostenverschiebungen zu Lasten der Versorgungssicherheit" vorgehen

Die Bundesnetzagentur hat dann die Auswertung der Bilanzkreisabrechnung aber schon nach ungefähr drei Wochen abgeschlossen, wozu auch politischer Druck aus dem Bundeswirtschaftsministerium beigetragen haben dürfte. Am 18. Juli leitete sie ein Konsultationsverfahren zur kurzfristigen Umsetzung "struktureller Maßnahmen" ein, die eine Wiederholung von derart gravierenden Gefährdungen der Netzstabilität verhindern sollen. Die Behörde machte dabei unmißverständlich klar, dass sie die Ursache des unerwarteten Mangels an Regelenergie in einem Fehlverhalten von Marktteilnehmern sieht, dem durch schärfere Strafen für Regelverstöße begegnet werden müsse. "Wir wollen Risiken für die Versorgungssicherheit minimieren. Gefährliche Unterdeckungen der Bilanzkreise sollen sich nicht lohnen", erklärte Vizepräsident Peter Franke in einer begleitenden Pressemitteilung. "Wer Kosten einseitig zu Lasten der Versorgungssicherheit verschiebt, handelt rechtswidrig. Wenn sich der Verdacht solcher Verstöße im Einzelfall erhärtet, werden wir dagegen mit aller Konsequenz vorgehen."

Zockerei von Stromhändlern ist seit vielen Jahren ein bekanntes Risiko, ohne dass ihm wirksam vorgebeugt wurde

Der nicht weiter präzisierte Vorwurf, dass Marktakteure sich auf Kosten der Versorgungssicherheit bereichert hätten, bezieht sich auf Arbitrage-Praktiken, die schon seit vielen Jahren bekannt sind, ohne dass sie wirksam unterbunden wurden (120202). Dabei nutzen Stromhändler solche Situationen, in denen die "Ausgleichsenergie", die ihnen von den Übertragungsnetzbetreibern für die Regelenergie zum Ausgleich von Bilanzungleichgewichten in Rechnung gestellt wird, billiger zu haben ist als der Börsenstrom. Sie führen dann absichtlich ein Bilanzungleichgewicht herbei und erzielen aus der Differenz zwischen beiden Preisen einen Gewinn. Schon 2002 begründete die RWE Net AG – aus der später der heutige Übertragungsnetzbetreiber Amprion entstand – die Erhöhung ihrer Netzentgelte unter anderem mit einem steigenden Bedarf an Regelenergie wegen solcher Praktiken (020906). Die halbherzigen Maßnahmen, die von der Politik dagegen ergriffen (120208) und von der Bundesnetzagentur umgesetzt wurden (130216), haben offenbar nicht viel gefruchtet.

In den neu erlassenen "Festlegungen" der Beschlusskammer 6 , zu denen die Marktakteure bis zum 9. August Stellung nehmen können, werden diese nun nochmals ausdrücklich ermahnt, sich bilanztreu zu verhalten. Diese Verpflichtung ergebe sich aus Artikel 17 Absatz 1 der EU-Verordnung zum Elektrizitätsbinnenmarkt (EB-VO) sowie aus § 4, Abs. 2, Satz 2 der Stromnetzzugangsverordnung. Die Behörde bezieht sich dabei noch auf die alte Fassung der EU-Verordnung, denn in der seit Juni geltenden Neufassung ist dieser Passus in Artikel 5 zu finden.

In beiden Fällen ist die Verpflichtung zur Bilanztreue aber nur sehr vage formuliert. Zum Beispiel begnügt sich die neueste Fassung der EU-Verordnung in Artikel 5 mit der lapidaren Feststellung: "Jeder Bilanzkreisverantwortliche trägt die finanzielle Verantwortung für seine Bilanzkreisabweichungen und bemüht sich, den eigenen Bilanzkreis auszugleichen oder dazu beizutragen, das Stromsystem auszugleichen" (siehe PDF). In der Stromnetzzugangsverordnung lautet der fragliche Passus so: "Bilanzkreisverantwortliche haben die ihnen übermittelten Daten rechtzeitig zu prüfen, insbesondere im Hinblick auf die Verwendung für die Bilanzkreisabrechnung, und Einwände gegen die Vollständigkeit oder Richtigkeit unverzüglich dem zuständigen Betreiber von Elektrizitätsversorgungsnetzen in elektronischer Form mitzuteilen." Wirksame Pönalien sind hier wie dort nicht vorgesehen. Äußerstenfalls könnte ein Akteur wohl von der Teilnahme am Regelenergiemarkt ausgeschlossen werden, aber auch dagegegen noch klagen oder den Ausschluss auf andere Weise umgehen.

Zu- und Abschläge für Ausgleichsenergie werden an reBAP gebunden

Die Bilanzkreisbetreiber werden nun von der Bundesnetzagentur mit sofortiger Wirkung verpflichtet, ihre Bilanzkreise spätestens 16 Minuten vor dem Erfüllungsbeginn durch eine entsprechende Fahrplanmeldung auszugleichen. Diese Regelung war bereits geplant, wird nun aber vorgezogen, anstatt erst zum 1. Mai 2020 in Kraft zu treten. Bei der Umlage der für die Regelenergie angefallenen Kosten, die den Bilanzkreisverantwortlichen als "Ausgleichsenergie" berechnet wird, gibt es weiterhin Zu- oder Abschläge, die einen zusätzlichen Anreiz zum Bilanzausgleich setzen sollen und in Kraft treten, wenn die Übertragungsnetzbetreiber mehr als 80 Prozent der vorgehaltenen Regelleistung abrufen müssen. Sie werden künftig aber an den Saldo des gesamten deutschen Netzregelverbunds gekoppelt. Das bedeutet, dass bei Unterspeisungen ein Zuschlag und bei Überspeisungen ein Abschlag auf den regelzonenübergreifenden Bilanzausgleichsenergiepreis (reBAP) gewährt wird, der jeweils 50 Prozent und mindestens 100 Euro/MWh beträgt. Mit dieser Bindung an den reBAP soll künftig vermieden werden, dass wegen eigener Aktivitäten der Netzbetreiber die 80-Prozent-Schwelle oft nicht erreicht und deshalb die tatsächliche Schieflage der Bilanzkreise nicht richtig widergespiegeltwird.

Zu den weiteren Neuerungen gehört, dass ab Oktober die viertelstündlich gemessenen Leistungswerte von Verbrauchs- und Erzeugungsanlagen künftig jeweils schon am folgenden Werktag gemeldet werden sollen. Die Übertragungsnetzbetreiber sollen dadurch frühzeitig eine belastbare Informationsgrundlage über die Ausgeglichenheit der Bilanzkreise in ihren Regelzonen bekommen. Bisher erhalten sie diese Messwerte erst rund sechs Wochen nach Ende des betreffenden Liefermonats im Rahmen der Bilanzkreisabrechnungsprozesse.

Das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 22. Juli, mit dem das 2018 neu eingeführte Mischpreisverfahren zur Beschaffung von Regelenergie für ungültig erklärt wurde (190702), hat nach Auskunft der Bundesnetzagentur "keine unmittelbaren Auswirkungen" auf das neue Konzept zur Beschaffung von Regelenergie und das dazu eingeleitete Konsultationsverfahren.

 

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