Juli 2025 |
250701 |
ENERGIE-CHRONIK |
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Seit 2023 nimmt die Anzahl der Stunden mit Negativpreisen am Strom-Spotmarkt wieder stark zu. Der 2024 erreichte Rekord von 457 Stunden dürfte in diesem Jahr noch übertroffen werden, denn schon in den ersten sechs Monaten wurde der Stand des Vorjahrs zu vier Fünfteln erreicht. |
Die Anzahl der Tage und Stunden mit negativen Strompreisen hat in diesem und im vergangenen Jahr ungewöhnlich stark zugenommen. In der deutschen Stromhandelszone war sie 2024 ungefähr viereinhalbmal so groß wie im langjährigen Mittel seit 2015. Voraussichtlich wird sie in diesem Jahr nochmals steigen. Lediglich im Februar gab es keine Stunden mit Negativpreisen. Im gesamten ersten Halbjahr erhöhte sich deren Anzahl jedoch gegenüber dem Vorjahr von 224 auf 379 Stunden.
Am 1. Mai stürzte der Preis im vortägigen Handel an der Epex Spot sogar bis auf minus 120 Euro/MWh, und am darauffolgenden Sonntag (Muttertag) noch tiefer bis auf minus 250 Euro/MWh. In der ersten Julihälfte gab es dagegen nur zwei Tage mit insgesamt zehn Stunden, an denen der Börsenpreis schwach in den negativen Bereich eintauchte. An zwei weiteren Tagen blieb er mit null Euro/MWh knapp darüber.
Auswirkungen hat das vor allem für die Betreiber von EEG-geförderten Stromerzeugungsanlagen: Schon seit 1. Januar 2016 entfiel gemäß § 24 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes für neue EEG-Anlagen die Förderung, wenn die Preise an der Epex Spot an mindestens sechs aufeinanderfolgenden Stunden negativ waren (161209). Fünf Jahre später senkte dann das EEG 2021 in § 51 für neue Anlagen ab 500 Kilowatt diese Schwelle auf vier aufeinanderfolgenden Stunden (201201). Zugleich gewährte es in § 51a erstmalig eine Verlängerung der Förderung um die Gesamtzahl aller Negativpreis-Stunden, die bis zum Ende des zwanzigjährigen Vergütungszeitraums erreicht sein würden. Das EEG 2023 kürzte dann den vierstündigen Mindestzeitraum stufenweise auf drei Stunden (für 2024 und 2025), zwei Stunden (für 2026) und eine Stunde (ab 2027).
Durch das Gesetz zur Änderung des Energiewirtschaftsrechts zur Vermeidung von temporären Erzeugungsüberschüssen", das am 25. Februar in Kraft trat (250112), wird seit kurzem in § 51des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) die Zahlung der EEG-Förderung für jede Stunde gestoppt, in der die Preise am Spotmarkt negativ sind. Ersatzweise wird den Betreibern in § 51a nach Ablauf der zwanzigjährigen Vergütungsdauer eine Verlängerung der Vergütung gewährt, die sich nach der Anzahl der angefallenen Stunden mit Negativpreisen richtet. Speziell für Solaranlagen wird dabei für alle zwölf Monate des Jahres jeweils eine bestimmte Anzahl Volllaststunden genannt, die als Berechnungsgrundlage dienen. Da es meistens die bei hoher Sonneneinstrahlung auftretenden Solarspitzen sind, die den Preis unter die Null-Euro-Grenze absinken lassen, wird die Neuregelung umgangssprachlich auch als "Solarspitzengesetz" bezeichnet. Die Neufassung der §§ 51 und 51a im Erneuerbare-Energien-Gesetz gilt für Neuanlagen. Die Betreiber von Bestandsanlagen haben aber gemäß § 100 Abs. 47 EEG die Möglichkeit, sie auch auf ihre Anlagen anwenden zu lassen.
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Als Folge der Negativpreise ist der "Phelix Peak" (rot) zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren niedriger geworden als der "Phelix Base" (blau). Und das sogar gleich zweimal drei Monate nacheinander (siehe Pfeile). Der "Phelix" ist ein 2002 gestarteter Preisindex für den deutschen Strom-Spotmarkt, der den stundengewichteten Durchschnittspreis pro Tag für die Stunden 1 - 24 (base) sowie für die Stunden 9 - 20 bis August 2024 erfasst. Da der "Phelix Peak" die Tageszeit mit besonders hohem Stromverbrauch und erhöhten Strompreisen widerspiegelt, ist er normalerweise deutlich höher als der "Phelix Base". Die durchschlagende Wirkung der Negativpreise auf den "Phelix Peak" erklärt sich daraus, dass die stark preissenkenden Solarspitzen nur in den Stunden 9 - 20 auftreten können. |
Sie sind nur eine börsenmäßige Ersatz- und Notlösung für eis Regelproblem, das bisher vernachlässigt wurde
(siehe oben)
Negative Preise sind ein Spezifikum der Strombörse. Wenn man bei Google die Frage eingibt "An welchen Warenbörsen gibt es negative Preise?" lautet die Antwort zwar ein bißchen anders: "Negative Preise können an verschiedenen Warenbörsen, insbesondere im Bereich Energie, auftreten." Was dann folgt, bezieht sich aber ausschließlich auf Strombörsen. Und diese Auskunft ist wie üblich eine Zusammenfassung einschlägiger Texte durch die "Künstliche Intelligenz", die Google neuerdings den Antworten auf Suchanfragen voranstellt.
Die natürliche Intelligenz zieht daraus den Schluss, dass negative Preise für andere Waren wie Gas, Öl oder bestimmte Agrarprodukte zwar schon mal vorkamen oder vorkommen können, aber doch ziemliche Ausnahmen sind. Obwohl sich Strom und Kaffee eigentlich schlecht vergleichen lassen, fällt einem da zum Beispiel die brasilianische Kaffeekrise vor hundert Jahren ein, die in der "Ballade von den Säckeschmeißern" zu klassenkämpferischen Zwecken in Versform gebracht und von Hanns Eisler vertont wurde. Hier zwei Kostproben:
Es gibt zuviel Kaffee auf der Welt.
Und darum pro Zentner zu wenig Geld.
Drum wird, so will es das Weltgewissen,
Die halbe Ernte ins Wasser geschmissen.Sie werfen den Weizen ins Feuer!
Sie werfen den Kaffee ins Meer.
Und wann werfen die Säckeschmeißer
Die fetten Räuber hinterher?
Solche dramatischen Preis-Abstürze in die Wertlosigkeit wurden damals noch nicht auf einer eigens dafür bereitgehaltenen Minus-Skala an der Börse notiert. Das geschieht erst heute, beim vortägigen Stromhandel am Spotmarkt, wo der Absturz unter die Null-Grenze dann bei minus 500 Euro pro Megawattstunde vorsorglich gestoppt wird. Beim Intraday-Handel können sich die Preise theoretisch sogar zwischen plus 9.999 Euro und minus 9.999 Euro bewegen. Dabei beschränken sich die negativen Preise im wesentlichen auf den Handel am Spotmarkt. Beim Terminhandel ist das Abgleiten in den negativen Bereich eher selten. In der Regel handelt es sich dann um Geschäfte, mit denen versucht wurde, sich gegen die Schwankungen am Spotmarkt abzusichern.
Das war nicht immer so. Beim Start der deutschen Strombörse European Energy Exchange (EEX), die 2002 aus der Fusion von zwei Vorgänger-Börsen entstand (011008), gab es sowohl am Spotmarkt als auch am Terminmarkt nur positive Preise, die bei Null endeten. Das änderte sich erst mit der Zunahme des Spotmarkt-Handels und der Erneuerbaren-Einspeisung. Es begann mit einer ein- bis zweistelligen Anzahl von Stunden pro Jahr, in denen der Preis im vortägigen Handel bis auf Null sank. Der Strom war in diesen Stunden also nicht nur zur Ramschware geworden, sondern sogar zum lästigen Ballast, dessen man sich durch Verschenken zu entledigen versuchte. Daraufhin beschloss die neu gegründete Epex Spot SE (091209), die Preisskala ab 1. September 2008 in den negativen Bereich zu verlängern. Prompt ergaben sich für den Rest des Jahres 15 Stunden und für das folgende Jahr 2009 insgesamt 71 Stunden mit negativen Preisen.
Damit wurde ein altes Problem der Netzsteuerung börsentechnisch gelöst – oder besser gesagt: nur scheinbar gelöst – , das nun mal darin besteht, dass die Stromerzeugung in jeder Sekunde dem Stromverbrauch ("Last") entsprechen muss. Wenn außerhalb einer bestimmten Schwankungsbreite die Erzeugung und der Verbrauch nicht übereinstimmen, kann das sehr schnell zum Zusammenbruch der gesamten Stromversorgung führen, wie es soeben in Spanien und Portugal geschehen ist (250601).
Diese Gefahr besteht indessen nicht beim vortägigen Handel am Spotmarkt. Da antizipiert der Handel rein virtuell den vorhersehbaren Überschuss bzw. die Knappheit durch niedrigere oder höhe Preise pro Megawattstunde. Unabhängig von dieser vollelektronisch ablaufenden Börsenauktion gehen die Netzbetreiber ihrem üblichen Geschäft nach, die Stromeinspeisung mit der Lastkurve in Übereinstimmung zu bringen. Selbst Preisexplosionen wegen Verknappung oder abgrundtiefe Negativpreise wegen eines Überschusses an angebotenem Strom haben deshalb keine Auswirkungen auf die Sicherheit der Stromversorgung.
Das gilt auch für die heftigen Eruptionen, die schon kurz nach der Verlängerung der Preisskala in den negativen Bereich auftraten. Sie hatten mit einer Neuregelung des EEG-Abrechnungsverfahrens zu tun, die von der Bundesregierung parallel zu der Neuerung an der Strombörse – vermutlich sogar in kausalem Zusammenhang damit – im Mai 2009 beschlossen wurde. Diese "Verordnung zur Weiterentwicklung des bundesweiten Ausgleichsmechanismus" hat entgegen ihrer euphemistischen Bezeichnung den bisherigen Ausgleichsmechanismus nicht weiterentwickelt, sondern gänzlich abgeschafft. Die Übertragungsnetzbetreiber wurden nun nämlich beauftragt, den gesamten EEG-Strom am Spotmarkt zu verkaufen – besser gesagt zu verramschen. Da die bescheidenen Erträge die Förderkosten nicht decken konnten, musste dies die EEG-Umlage in die Höhe treiben (siehe Hintergrund, Oktober 2012). Zugleich begünstigte das neue Verfahren die Entstehung von Negativpreisen.
Bis dahin waren die Förderkosten den geförderten Strommengen gleichmäßig gefolgt. Als Folge der Neuregelung (die von den Übertragungsnetzbetreibern probeweise schon vor dem offiziellen Inkrafttreten praktiziert wurde) stiegen sie nun prozentual viel stärker an als die damit geförderten Mengen (siehe Grafik). Schon am 9. Oktober 2009 ließ ein hohes Windstromaufkommen den Spotmarktpreis bis auf die Untergrenze von minus 500 Euro pro Megawattstunde abstürzen. Zwischen ein und sechs Uhr morgens mussten die Übertragungsnetzbetreiber und andere Anbieter den Strom nicht nur verschenken, sondern ihm auch noch 14 Millionen Euro hinterherwerfen, um ihn überhaupt loszuwerden (091201).
Zu ähnlichen Negativpreis-Rekorden kam es an Weihnachten 2009 (100101),
Weihnachten 2012 (130101), Weihnachten 2016 (161209),
an Pfingsten 2019 (190606) oder häufig auch an Sonntagen
(200306). Solche Kosten gingen fortan in die EEG-Umlage
ein, die bis 2022 die Verbraucher belastete. Und zwar gleich doppelt: Zum einen
durch die Förderung der EEG-Strommengen, die überflüssigerweise ins Netz eingespeist
wurden, obwohl kein Bedarf da war, und zum anderen durch die Kosten, die anschließend
ihre "Entsorgung" über Negativpreise verursachte.
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Am 11. und 12. Dezember 2024 explodierte der Strompreis im vortägigen Handel an der Epex Spot bis auf 936 Euro/MWh, weil die notwendigen konventionellen Kraftwerkskapazitäten zum Ausgleich einer "Dunkelflaute" nicht rechtzeitig aktiviert wurden und deshalb auf teuere Importe zurückgegriffen werden musste. Quelle: Energy-Charts
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Als jüngeres Beispiel für eine Preisexplosion im positiven Bereich der Skala
können die beiden Tage im Dezember 2024 dienen, an denen der Großhandelspreis
im vortägigen Handel bis auf 936 Euro/MWh stieg und im Intraday-Handel sogar
bis zu 1.158 Euro/MWh erreichte (241201). Der Grund
war, dass nicht genügend konventionelle Kraftwerksreserven bereit gehalten wurden,
um eine "Dunkelflaute" bei den erneuerbaren Stromquellen Wind und
Sonne auszugleichen (was normalerweise kein Problem hätte sein dürfen). Die
Netzbetreiber mussten deshalb die nicht rechtzeitig bereitgehaltene konventionelle
Kraftwerksleistung durch teuere Importe ersetzen. Die Sicherheit der Stromversorgung
war aber auch durch diese netztechnische Panne nicht gefährdet (siehe Grafik
1).
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Am 2. Juli 2023 kam es zu einer Preisexplosion im negativen Bereich der Preis-Skala, die erst bei 500 Euro/MWh gestoppt wurde. Ursache war in diesem Fall eine "Hellbrise" mit einer so hohen Erzeugung von Erneuerbaren-Strom, dass diese den gesamten inländischen Bedarf überstieg. Ein Leistungsüberschuss von bis zu 12,3 Gigawatt musste deshalb exportiert werden, was nur mit Negativpreisen gelang. Quelle: Energy-Charts
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Da inzwischen der größte Teil des Strombedarfs aus erneuerbaren Quellen gedeckt wird – vor allem durch die fluktuierende Einspeisung von Windkraft- und Solaranlagen – , können auch erhebliche Stromüberschüsse entstehen (analog zur "Dunkelflaute" wird dann von einer "Hellbrise" gesprochen). Der Stromhandel am Spotmarkt antizipiert solche Überschüsse durch einen Preisverfall, der nicht bei null endet, sondern mehr oder weniger weit in den negativen Bereich führt. Es wird also ein sonst nicht bestehender Anreiz geschaffen, diese überschüssigen Strommengen abzunehmen und irgendwie zu verbrauchen. Beispielsweise können so die Betreiber von Elektrokesseln zur Absicherung der Fernwärmeversorgung, deren Betrieb zum üblichen Strompreis unwirtschaftlich und nur in Notfällen sinnvoll ist, den Strom sogar gratis bekommen und eine mehr oder minder große Zuzahlung kassieren (230603). Der überschüssige Strom ist damit kein Überschuss mehr, sondern kann tatsächlich ins Netz eingespeist werden. Oder es finden sich Abnehmer außerhalb Deutschlands, so dass die überschüssigen Strommengen exportiert werden können.
Als Beispiel für eine solche "Hellbrise" kann der 2. Juli 2023 dienen, als der Preis wieder mal die ganze Börsen-Kellertreppe hinunter abstürzte, bis auf minus 500 Euro/MWh. Diese Untergrenze hat man vorsorglich eingeführt, während die positive Preisskala erst bei 3000 Euro/MWh endet. Der Großhandelspreis war an diesem Sonntag ganze 15 Stunden lang negativ, weil allein schon die verfügbare Erneuerbaren-Einspeisung den Bedarf um bis zu 17 Prozent überstieg. Die Deckung der "Residuallast" entfiel damit (stattdessen wurde diese rechnerische Größe mit minus 1709 Megawatt negativ). Inklusive des kleineren Anteils an konventioneller Kraftwerksleistung ergab sich insgesamt ein Leistungsüberschuss von bis zu 12,3 Gigawatt, der die gleichzeitig nur 42,8 Gigawatt betragenden inländische Verbrauchslast um fast 30 Prozent überstieg (siehe Grafik 2).
Eine solche Diskrepanz zwischen Last und Einspeisung – gleichgültig ob zu hoch oder zu niedrig – würde keine Stromversorgung auch nur eine Sekunde überleben. Das deutsche Stromnetz ist aber kein inselartiges Gebilde, sondern eng mit den Nachbarländern und dem kontinentaleuropäischen Stromnetz verflochten. Deshalb war auch an diesem Tag die Stabilität der Stromversorgung nie gefährdet. Bei den erwähnten 12,3 Gigawatt handelte es sich nämlich um Strom, der zwar im Inland erzeugt und an der Strombörse gehandelt wurde, dann aber über die grenzüberschreitenden Leitungen in die Nachbarländer exportiert wurde. Zum Leidwesen der Exporteure gelang das allerdings nur mit Negativpreisen.
Wenn beim vortägigen Handel an der Strombörse die Preise pro Megawattstunde in den Sinkflug übergehen, weil der Bedarf zu gering oder das Angebot zu groß ist, könnte man eigentlich erwarten, dass die Kraftwerksbetreiber entsprechend reagieren. Spätestens ab Erreichen der Null-Euro-Grenze bekommen sie ja kein Geld mehr, sondern müssen dem Käufer eine Zuzahlung leisten. Seltsamerweise speisen aber viele Erzeuger auch dann noch Strom ein, wenn sie diesen nicht nur verschenken, sondern sogar eine Zuzahlung leisten müssen. Das zeigte sich bereits 2008, als die Epex Spot ihre bisherige Preisskala über null Euro hinaus in den negativen Bereich erweiterte und damit prompt ein bislang verborgenes Potential für Zuzahlungen sichtbar machte.
Im Juni 2014 veröffentlichte die Initiative "Agora Energiewende" eine Studie, die 97 Stunden mit negativen Strompreisen untersuchte, die zwischen Dezember 2012 und Dezember 2013 bei der vortägigen Auktion an der Epex Spot aufgetreten waren. Sie gelangte zu dem Ergebnis, dass die konventionelle Stromerzeugung nicht so zurückgefahren wurde, wie es die Erzeugung von Wind- und Solarstrom erfordert hätte (das im Jahr 2000 erstmals in Kraft getretene Erneuerbare-Energien-Gesetz verpflichtete die Netzbetreiber ausdrücklich zur vorrangigen Abnahme des gesamten Stroms aus erneuerbaren Quellen und trug sogar den Titel "Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien", bevor es 2014 in "Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien" umbenannt wurde). Die dadurch verursachten Negativpreise hätten das EEG-Konto mit fast 90 Millionen Euro belastet, hieß es. Sie seien indessen "nicht Ausdruck einer Überschuss-Situation von Strom aus erneuerbaren Energien, sondern auf mangelnde Flexibilität des Stromsystems zurückzuführen" (140608).
Wie diese Studie weiter feststellte, hatten in den Zeiten negativer Strompreise nur Gas- und Steinkohlekraftwerke ihre Stromproduktion weitgehend gedrosselt. Die Kernkraftwerke blieben dagegen mit 65 Prozent und die Braunkohlekraftwerke mit 50 bis 40 Prozent ihrer Leistung am Netz. Hinzu haben wärmegeführte KWK-Anlagen zwangsläufig weiterhin Strom produziert. Im Ergebnis waren so immer 20 bis 25 Gigawatt konventioneller Kraftwerksleistung am Stromnetz. Die Ursachen dafür lägen unter anderem in den An- und Abfahrkosten dieser Kraftwerke, den aktuellen Regelungen für die Bereitstellung von Systemdienstleistungen sowie dem Gebotsdesign am Spotmarkt. Bei Negativpreisen zwischen null und zehn Euro/MWh könne aus betriebswirtschaftlicher Sicht der Weiterbetrieb konventioneller Wärmekraftwerke sogar über einen längeren Zeitraum lohnender als das Abfahren sein.
Infolge der Stilllegung sämtlicher Kernkraftwerke sowie etlicher Braunkohleblöcke ist inzwischen das größte Hemmnis für eine weitere Erhöhung des Erneuerbaren-Anteils entfallen. Im Jahresdurchschnitt kann der Grünstrom mehr als die Hälfte des Stromverbrauchs decken. An verbrauchsschwächeren Tagen würde es mitunter schon für den gesamten Bedarf reichen. Allerdings nur rechnerisch. Der alte Konflikt zwischen den Erneuerbaren und dem konventionellem Kraftwerkspark ist nämlich noch nicht ganz entschärft. Bis auf weiteres gibt es einen notwendigen Restbestand an konventioneller Kraftwerkskapazität, auf den aus verschiedenerlei Gründen vorerst nicht verzichtet werden kann und der auch dann bei Negativpreisen ins Netz einspeist, wenn er zur Deckung der Residuallast gar nicht benötigt würde. Meistens sind das mit Gas oder Kohle betriebene KWK-Anlagen, die als Wärmelieferanten weiterlaufen müssen.
Dass Stromerzeuger ihre Anlagen auch bei Negativpreisen weiter ins Netz einspeisen lassen, hat jedenfalls nichts mit Schlamperei oder mangelnden Rechenkenntnissen zu tun. Vielmehr handelt es sich in der Regel um wohlkalkulierte Entscheidungen. So hatten die Betreiber von Windkraft- und Solaranlagen lange Zeit gute Gründe, ihre Anlagen auch bei mäßig negativen Preisen nicht abzuschalten, weil sonst die "Marktprämie" entfallen wäre. Brennstoffkosten entstanden ihnen durch den Weiterbetrieb sowieso nicht. Unrentabel wurde die Einspeisung deshalb erst, wenn die Negativpreise die Einnahmen durch die EEG-Förderung überstiegen.
Ebenso gab und gibt es weiterhin einen Sockel an "preisunelastischer Erzeugungsleistung von konventionellen Kraftwerken". In ihrem zuletzt erschienenen "Bericht zur Mindesterzeugung 2021" veranschlagte die Bundesnetzagentur diesen Sockel mit etwa 16 bis 18 Gigawatt, nachdem sie ihn im ersten Bericht für das Jahr 2015 noch bis auf 28 Gigawatt geschätzt hatte. Die zum Ausgleich der Residuallast oder zur Bereitstellung von Regelenergie vorläufig noch notwendige "Mindesterzeugung" machte dabei aber nur zwischen einem Viertel und einem Drittel der gesamten "preisunelastische Erzeugungsleistung" aus.
Man muss jedenfalls kein Mitleid mit den Stromerzeugern haben, wenn sie ihre Ware nur gegen Zuzahlung loswerden, oder gar eine Gefährdung der Stromversorgung befürchten, wie das in einer Anfrage anklang, die der AfD-Abgeordnete Harald Weyel anläßlich des bereits erwähnten Negativpreis-Rekords vom 2. Juli 2023 an die Bundesregierung richtete. Für den damaligen Bundeswirtschaftsminister Habeck antwortete dessen Staatssekretär Nimmermann folgendermaßen:
"Welche Mehrkosten für diejenigen Stromerzeuger am 2. Juli 2023, die trotz der negativen Strompreise weiter produziert haben, durch das kurzfristige Auftreten von negativen Strompreisen entstanden sind, ist schwer zu beziffern. Wollte man etwa vereinfachend die gehandelte Strommenge mit dem negativen Preis multiplizieren, so würde dies zu erheblichen Unschärfen führen, weil dabei die unterschiedlichen Grenz- und Opportunitätskosten der jeweiligen Stromerzeuger unberücksichtigt blieben. Diese unterscheiden sich beispielsweise in Abhängigkeit von Brennstoff, Wirkungsgrad und Flexibilität erheblich. Insbesondere die Opportunitätskosten einzelner Stromerzeugungsanlagen sind nicht öffentlich zugänglich und ein Geschäftsgeheimnis."
Man würde demnach nur näherungsweise den Opportunitätskosten und anderen Geschäftsgeheimnissen auf die Spur kommen, wenn man die negativen Preise der insgesamt 15 Stunden an diesem Tag mit den jeweiligen Leistungswerten multipliziert. Mangels sonstiger verfügbarer Informationen ist es aber die Rechnung wert: Für insgesamt 666 746 MWh ergeben sich dann 75 Millionen Euro, welche die Einspeiser dem Strom hinterherwerfen mussten. Pro Megawattstunde sind das im Durchschnitt 112 Euro – ungefähr 34 Euro mehr, als im Juli 2023 die ganz normale Megawattstunde an der Epex Spot im Durchschnitt gekostet hat.
Der Staatssekretär unterstrich in seiner Antwort außerdem, das negative Preise eine wichtige Funktion im Strommarkt hätten: "Sie signalisieren, dass das Stromsystem trotz der starken Signale in dieser Zeit nicht flexibel reagiert hat, weder auf der Nachfrageseite noch durch die verbleibenden Kraftwerke im System. Sie setzen deshalb wichtige Anreize, in Flexibilisierung zu investieren."
In ähnlicher Weise verteidigt die Epex Spot die Negativpreise: "Negative Preise sind ein Signal, ein Indikator für Marktteilnehmer. Wenn Erzeuger sich dazu entscheiden, ihre Stromproduktion weiterlaufen zu lassen, haben sie errechnet, dass dies die wirtschaftlich beste Lösung für sie ist. Andernfalls müssten sie ihre Anlagen abschalten und wieder hochfahren – auch das kostet teilweise viel Geld und Zeit; Erneuerbare müssen ihr Förderregime berücksichtigen. Wenn die negativen Preise zu zahlreich werden, könnten sie die Wirtschaftlichkeit künftiger Produktionsanlagen in Frage stellen, aber sie könnten genauso gut auch für Verbrauchseinheiten oder Speicheranlagen sprechen."
Das stimmt zwar alles im großen und ganzen, darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass es keineswegs ein Idealzustand ist, wenn es bei der Herstellung des Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage derart knirscht, dass große Strommengen doppelte Kosten verursachen: Zuerst für ihre Herstellung und dann für ihre Entsorgung zu Aufpreisen. Das mag zwar aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht sowohl für den Erzeuger als auch für dessen Abnehmer vorteilhaft sein. Volkswirtschaftlich gesehen handelt es sich aber um Ballast, der über Opportunitätskosten und andere Geschäftgeheimnisse das Strompreisniveau in undurchsichtiger Weise zusätzlich belastet. Damit werden diese Kosten letztlich den Verbrauchern aufgebürdet. Man müsste deshalb die Rahmenbedingungen zumindest so verändern, dass die negative Preisskala zwar nicht abgeschafft wird – denn als Indikator ist sie in der Tat nützlich – , aber möglichst nicht in Anspruch genommen werden muss.
Ein richtiger Schritt in dieser Richtung ist das "Gesetz zur Änderung des Energiewirtschaftsrechts zur Vermeidung von temporären Erzeugungsüberschüssen", das am 25. Februar in Kraft trat (siehe 250112). Es stoppt in § 51des Erneuerbare-Energien-Gesetzes für neue Anlagen die Zahlung der EEG-Förderung für jede Stunde, in der die Preise am Spotmarkt negativ sind. Ersatzweise wird den Betreibern in § 51a nach Ablauf der zwanzigjährigen Vergütungsdauer eine Verlängerung der Vergütung gewährt, die sich nach der Anzahl der angefallenen Stunden mit Negativpreisen richtet. Eine ähnliche Regelung greift ab 2027 auch für Bestandsanlagen. Da die EEG-Strommengen den größten Teil der Erzeugung ausmachen, begründet das die Hoffnung, dass die Negativpreise künftig zwar noch nicht verschwinden, aber doch weniger häufig auftreten und weniger weit unter null liegen.
Damit die negativen Preise ganz verschwinden und der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage wie bei anderen Waren nur im positiven Bereich stattfindet, bedürfte es aber weiterer gesetzlicher und auch technischer Änderungen. Vor allem müsste endlich damit begonnen werden, die bei der Wind- und Solarstromerzeugung regelmäßig anfallenden Überschüsse so zu speichern, dass "Dunkelflauten" und "Hellbrisen" sich mit zeitlicher Verzögerung wechselseitig ergänzen und dadurch aufheben können. Das setzt eine "Speicherung" des überschüssigen Stroms mittels Energiewandlern wie Batterien, Pumpspeicherkraftwerken oder Elektrolyseuren voraus.
Batteriespeicher haben inzwischen eine enorme Leistungsfähigkeit erreicht. Sie eignen sich aber nur sehr bedingt für die längerfristige Speicherung großer Energiemengen. Pumpspeicherkraftwerke sind eine seit über hundert Jahren erprobte und weiterentwickelte Technik. Sie sind aber von topografischen und anderen Voraussetzungen abhängig, die es kaum noch irgendwo in Deutschland gibt. Deshalb wäre der vielversprechendste Weg die elektrolytische Umwandlung von Grünstrom-Überschüssen zu Wasserstoff, der ähnlich wie Erdgas in unterirdischen Speichern gelagert und bei Bedarf mittels Gaskraftwerken wieder in Strom umgewandelt wird – im Unterschied zu Erdgas aber absolut klimaunschädlich wäre.
Stattdessen kündigte die amtierende Bundeswirtschaftsministerin Reiche jetzt die Errichtung von bis zu zwanzig Gaskraftwerken an, die offenbar nur mit Erdgas betrieben werden sollen. Sie verzichtet dabei sogar auf das Feigenblatt "H2-ready", mit dem die Vorgänger-Regierung ihre diesbezüglichen Blößen gern verdeckte (250706). Deren Pläne für die Schaffung eines "Kapazitätsmarkts", der auch die bloße Vorhaltung von Kraftwerksleistung für netztechnische Zwecke honoriert, sahen nur halb soviel Gaskraftwerke vor, die aber immerhin perspektivisch auf Wasserstoff umgestellt werden sollten. Das hätte den Einstieg in das beschriebene Modell ermöglicht, das sowohl Dunkelflauten als auch Hellbrisen entschärfen und eine Netzstabilität ermöglichen könnte, bei der es weder zu Preisexplosionen noch zu Negativpreisen kommt. Aus dieser Hoffnung wird nun aber wohl vorerst nichts werden.