April 2023

230404

ENERGIE-CHRONIK


Die drei letzten Reaktoren wurden endgültig abgeschaltet

Die drei letzten von einst 20 deutschen Kernkraftwerken, die im Jahr 2001 in Betrieb waren, wurden am 15. April von ihren Betreibern endgültig abgeschaltet: Den Anfang machte RWE mit dem Reaktor Emsland, der am Samstagabend um 22.37 vom Netz ging. Um 23.52 Uhr folgte E.ON mit Isar 2. Sieben Minuten später - genau eine Minute vor dem Fristablauf um 24 Uhr - nahm dann auch die EnBW ihren Reaktor Neckarwestheim 2 vom Netz. Alle drei Reaktoren hätten aufgrund des Atomgesetzes eigentlich schon zum Jahresende 2022 abgeschaltet werden müssen. Aufgrund einer politischen Kampagne, die maßgeblich von den beiden Unionsparteien und der rechtsextremen AfD getragen wurde, aber auch von der mitregierenden FDP unterstützt wurde, kam es dann jedoch zu einer Verlängerung des Abschalttermins um 15 Wochen (220906).

Union und AfD beschäftigen das Parlament mit Schaufenster-Anträgen

Fünf Wochen vor der endgültigen Abschaltung hatte die Union im Bundestag erneut einen Antrag eingebracht, die Laufzeiten der drei Reaktoren bis Ende 2024 zu verlängern, wobei durchaus erkennbar war, dass dies nur die Vorstufe zu einem unbegrenzten Weiterbetrieb sein sollte (230311). Parallel dazu beantragte die AfD eine Änderung des Atomgesetzes, die zusätzlich die Reaktivierung der bereits stillgelegten Reaktoren Grohnde, Gundremmingen C und Brokdorf ermöglichen sollte. Außerdem verlangten die Rechtsextremisten eine grundsätzliche Neuausrichtung des Atomgesetzes auf die Förderung der Kernenergie sowie eine zehnjährige Entschädigungsgarantie für den Gewinnausfall, falls den in Betrieb befindlichen Reaktoren irgendwelche Beschränkungen auferlegt werden sollten. Nachdem die Abschaltung erfolgt war, beantragte die AfD überdies, den Rückbau der drei Kernkraftwerke "wegen drohender Strommangellage" zu verbieten. Der Bundestag beerdigte diese AfD-Anträge am 28. April vorläufig durch Überweisung an die Ausschüsse, musste sich aber zuvor eine dreiviertel Stunde lang mit ihnen befassen.

Der Schaufenster-Antrag der Union wurde am 16. März in erster Lesung über eine Stunde lang von insgesamt zwanzig Rednern aller Fraktionen in einer durchaus vorhersehbaren Weise debattiert, bevor er in den zuständigen Ausschüssen landete. Ebenfalls nur propagandistisch motiviert war eine "Aktuelle Stunde" zu diesem Thema, die auf Verlangen der Unionsparteien am 19. April stattfand. Der FDP-Abgeordnete Karl Stockmeier kritisierte diese erzwungene Zeitvergeudung des Parlaments, indem er an die atombesessenen Kollegen von der Union die Scherzfrage richtete, was ihre Einlassungen vom Reaktor eines Atomkraftwerks unterscheidet: "Im funktionierenden Reaktor kommt heißer Dampf raus, mit dem man richtig was machen kann, nämlich Energie erzeugen - und bei Ihnen ist es im Wesentlichen heiße Luft, die im medialen Raum verpufft, die rein gar nichts antreibt und die uns in der Energieversorgung dieses Landes auch nicht voranbringt."

Der "Freistaat" Bayern will aus eigener Machtvollkommenheit ein "Revival der Kernenergie" erreichen

Solche heiße Luft waren auch die Tiraden, mit denen der bayerische CSU-Vorsitzende und Ministerpräsident Markus Söder die Abschaltung von Isar 2 und der beiden anderen Reaktoren begleitete. Als ob Bayern kein normales Bundesland wäre und nicht der Bundesgesetzgebung unterliegen würde, verlangte Söder die Übertragung der atomrechtlichen Zuständigkeit auf die Landesregierung, um Isar 2 weiter betreiben zu können. Ebenso großsprecherisch wie verquast kündigte er an, dass seine Regierung alle Möglichkeiten nutzen werde, "um die Zeitachsen nicht zu beschleunigen, sondern so zu gestalten, dass ein Revival der Kernenergie vielleicht noch entsprechend möglich wäre". Überdies werde der "Freistaat" in die Forschung zur Kernfusion einsteigen, prüfe hierzu die Errichtung eines eigenen Forschungsreaktors und werde ein Konzept zur Erhaltung der kerntechnologischen Kompetenzen an den Universitäten vorlegen.

"Fehlt nur noch, dass Markus Söder eine siebentägige Staatstrauer anordnet, so heftig ist der Atomschmerz", spottete die in der bayerischen Hauptstadt erscheinende "Süddeutsche Zeitung". Die Selbstbezeichnung Bayerns als "Freistaat" (die sich nach dem Zusammenbruch der DDR auch das wiederbelebte Land Sachsen zugelegt hat) erinnert ein bißchen an die Spinnereien der "Reichsbürger"-Szene oder der vom Verfassungsschutz als Rechtsextremisten beobachteten "Freien Sachsen". Sie hat aber andere Wurzeln: In Bayern gründet sie sich auf Artikel 3 der Landesverfassung aus dem Jahr 1946, wo diese Bezeichnung tatsächlich verwendet wird und immerhin klarstellt, dass eventuelle Ansprüche der Wittelsbacher auf Wiederherstellung der Monarchie in Bayern keine Chancen haben. In dem so proklamierten Freistaat regierte allerdings noch nicht die CSU. Stattdessen hatte die US-Besatzungsmacht das unumschränkte Sagen. 

Im Unterschied zu ihrer Münchener Rivalin SZ bekundete die "Frankfurter Allgemeine" tief empfundenes Beileid für den Atomschmerz der Union, indem sie auf der ersten Seite eine dreispaltige Überschrift der Nachricht widmete, dass auch der hessische Ministerpräsident Boris Rhein die Abschaltung der drei Reaktoren für einen schweren Fehler halte. "Den Ausstieg aus der Kernkraft, der sich nur sehr schwer umkehren ließe, werden wir noch bitter bereuen", zitierte sie den CDU-Politiker, der sich bei einem Gespräch mit dem Blatt außerdem für die Verwendung von E-Fuels in Verbrennungsmotoren ausgesprochen habe. Diese Exklusiv-Nachricht war ungefähr so sensationell wie jene vom 19. Oktober 2022, als der ehemalige BASF-Chef Jürgen Hambrecht seine schon immer bekannte Unzufriedenheit mit dem Atomausstieg nochmals ausdrücklich der FAZ anvertrauen durfte und es für ratsam hielt, "über die möglichen Vorteile der Kernenergie noch einmal neu nachzudenken". 

 


Hintergrund

Die neue Offensive der Atomstrom-Fetischisten

Die treibende Kraft sind anscheinend Wirtschaftskreise, die weder von Nukleartechnik noch vom Rechnen viel verstehen

(zu oben)

"Der deutsche Ausstieg aus der Kernkraft ist eine Opfergabe an die alten grünen Männer", erkannte die "Frankfurter Allgemeine" in ihrem Leitartikel vom 14. April. Wahrscheinlich fand sie es sehr witzig, auf diese Weise den Jargon der political correctness zu parodieren, der sich selbst mit seinen albernsten Auswüchsen wie dem allgegenwärtig gewordenen Gender-Gaga auch und besonders in Kreisen der Grünen großer Beliebtheit erfreut.

Verfasser war der Redakteur Jasper von Altenbockum. Er wollte wohl suggerieren, dass Männer wie Robert Habeck (54) oder Jürgen Trittin (68) einer Generation angehören, deren politischer Einfluss im umgekehrten Verhältnis zur Zeitgemäßheit ihrer Ablehnung der Kernenergie steht. Mitgemeint waren sicher auch weibliche Gegner der Kernenergie wie Annalena Baerbock (43), die noch erheblich jünger ist und mit ihren am 1. März verkündeten "Leitlinien zur Feministischen Außenpolitik" (die sie als Fortsetzung von "Gender-Mainstreaming" in der Innenpolitik verstanden wissen möchte) selbst in grünen Kreisen bedenkliches Kopfschütteln ausgelöst hat.

Der FAZ-Redakteur ist seinerseits 61 Jahre alt. Damit mag er zwar ein Grünschnabel im Vergleich zur APO-Generation und deren politischen Erben sein, auf die seine humoristisch verpackte Invektive von den "alten grünen Männern" zielt. Aber gegenüber Habeck oder Baerbock wirkt er eben doch schon wie ein ziemlich alter Bock, von den massenhaft vorhandenen jüngeren Kernkraft-Gegnern ganz abgesehen, die ihn wohl indigniert zu den "alten schwarzen Männern" vom Schlage des einstigen FAZ-Innenpolitikers Friedrich Karl Fromme zählen würden.

Die Ablehnung der Kernenergie ist jedenfalls grundsätzlich keine Frage des Alters oder der politischen Sympathien, sondern der Vernunft. An dieser Vernunft hapert es bei der FAZ seit ungefähr zwei Jahren, sobald es um die Kernenergie oder Themen wie Fracking geht. Zunächst mag es nur regelmäßigen Lesern des Blattes aufgefallen bzw. aufgestoßen sein, wie da mehr und weniger diskret für eine Wiederbelebung der Kernenergie in Deutschland getrommelt wurde, noch bevor die letzten Reaktoren abgeschaltet wurden oder auch nur eine größere Diskussion darüber entstand. Nach einiger Zeit konnte aber kein Zweifel mehr bestehen, dass hier eine bestimmte Nachrichtengebung und Kommentierung nicht zufällig zustande kamen, ohne dass es einer speziellen Anweisung an das Redaktionspersonal bedurft hätte. (Siehe Hintergrund, Juni 2022)

Gerade wegen dieser Abwesenheit von sichtbarem Zwang wirkte alles ein bißchen so unheimlich wie der "Glottisschlag" und andere sprachliche Verrenkungen, mit denen die öffentlich-rechtlichen Medien plötzlich zu gendern begannen, als ob eine neue Gleichschaltung durch ein Propagandaministerium befohlen worden wäre, obwohl vermutlich keinem Nachrichtensprecher und keinem Schreiber mit der Entlassung gedroht wurde, falls er den sprachlichen Blödsinn nicht mitmacht. Die FAZ blieb von dieser linguistischen Corona-Seuche bisher verschont (im Unterschied etwa zur taz) und lehnt sie sogar entschieden ab. Umso verwirrender war dieser regelmäßig wiederkehrende Zungenschlag "Atomkraft? - Ja bitte!", der bei energiepolitischen Fragen die Nachrichtengebung und Kommentierung begleitete.

Ein ähnliches Unbehagen beschlich übrigens schon Hans Magnus Enzensberger, als er vor über sechzig Jahren in seinem noch heute lesenswerten Aufsatz "Journalismus als Eiertanz" die Sprache der FAZ analysierte und zuweilen den Eindruck hatte, "als wäre, was sie veröffentlicht, unter Zensur geschrieben". ­- Schon damals ein falscher Eindruck, wie er sofort klarstellte: "An einer solchen Zeitung ist nichts zu entzaubern; sie bedarf keiner Hintermänner; jeder ihrer Verantwortlichen ist sein eigener Hintermann. Wer die Sprache der Herrschaft spricht, braucht um seine Unabhängigkeit nicht zu bangen; keine Macht wird ihn dessen berauben, was ohnehin ihr zugute kommt."

Beim Krach in der Hayek-Gesellschaft trennten sich die intelligenteren Kernkraft-Fans von den rechtsradikalen Leugnern des Klimawandels

Im Vergleich mit der Adenauer-Ära, als Enzensbergers Untersuchung entstand und die FAZ mit Ausnahme des Feuilletons wie ein medialer Resonanzboden des regierungsamtlichen "Bulletins" wirkte, ist sie heute deutlich informativer, interessanter, pluralistischer und häufig sogar ein Lesevergnügen. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite gibt es nach wie vor mehr als zarte Bande, welche sie mit bestimmten Wirtschaftskreisen und der neoliberalen Ideologie der Gralsritter vom Mont Pèlerin verbinden. So gehören oder gehörten eine ganze Reihe von FAZ-Journalisten zu den Mitgliedern der Friedrich A. Hayek-Gesellschaft, die als deutscher Ableger des Mont-Pelerin-Netzwerks eine "Vereinigung zur Förderung von marktradikalen Ideen" ist, wie Lobbypedia knapp und zutreffend den Zweck umreißt. Zuletzt hat diese neoliberale Vereinigung vor allem dadurch von sich reden gemacht, dass ihre Vorsitzende Karen Horn - von 1995 bis 2007 Wirtschaftsredakteurin bei der FAZ - die prominenten AfD-Politikerinnen Alice Weidel und Beatrix von Storch loswerden wollte, weil die Mitgliedschaft dieser und anderer Rechtsradikalen wie des AfD-Abgeordneten Peter Boehringer von den gemäßigteren Marktradikalen als kompromittierend empfunden wurde. Der Erfolg dieser Bemühungen war allerdings gering, weshalb die Wirtschaftsjournalistin Horn im Juli 2015 mit zahlreichen weiteren Mitgliedern austrat. Unter diesen befanden sich der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, der Ökonom Lars Feld und der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel.

Damit trennten sich die intelligenteren Kernkraft-Fans von den rechtsradikalen Leugnern des Klimawandels, die nicht einsehen wollen, dass sie mit ihren Tiraden gegen den "Klimaschwindel" und dem gleichzeitigen Eintreten für Kohle und Kernkraft das einzige halbwegs einleuchtende Argument der Kernenergie-Propaganda gefährden. Zum Beispiel brachte Alice Weidel als AfD-Fraktionsvorsitzende im Oktober 2019 im Bundestag den Antrag ein, er möge "die Aufgabe aller Klimaschutz- und Energiewendeziele" beschließen, und zwar "mit sofortiger Wirkung". Dazu gehöre die Rückgängigmachung aller diesbezüglichen Gesetze, Verordnungen und sonstigen Vorschriften in der Klima- und Energiepolitik. Ferner sollten alle mit dem Klimaschutz zusammenhängenden nationalen und internationalen Verpflichtungen aufgekündigt sowie alle damit befaßten Arbeitsplätze "sozialverträglich abgebaut" werden (191015). Im November 2021 stellte die AfD gleich drei Anträge, die ein Loblied auf Kernenergie und fossile Energieträger mit der Leugnung des Klimawandels und der Forderung nach Rückgängigmachung der Energiewende verbanden (211106).

Zu denjenigen, die 2015 nicht aus der Hayek-Gesellschaft austraten, gehörten der für den Wirtschaftsbereich verantwortliche FAZ-Mitherausgeber Holger Steltzner und die für Wirtschaftspolitik zuständige Heike Göbel. Steltzner wurde dann zum Verhängnis, dass er mit den anderen Mitherausgebern aus persönlichen Gründen über Kreuz lag. Auch seine Bezweiflung des Klimawandels könnte eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls verlor Steltzner im März 2019 Knall auf Fall seinen Posten. Das Führungsgremium des Blattes, das sich jeweils durch Kooptierung ergänzt und infolge eines Pensionsfalls bereits von fünf auf vier geschrumpft war, stand damit vor der Notwendigkeit, aus den Reihen der Redakteure einen neuen Herausgeber zu bestimmen. Als Favoritin galt Heike Göbel, die wie Steltzner eine bekennende Hayek-Jüngerin ist und wie dieser im Verein geblieben war. Das Rennen um die Gunst des Herausgeber-Triumvirats machte dann aber der für Finanzpolitik zuständige Gerald Braunberger, der allerdings zumindest dem Dunstkreis der Hayek-Gesellschaft zuzurechnen ist. Zum Beispiel hat er dem SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, als dieser sich nachträglich und sehr zaghaft von Schröders Marktradikalismus zu distanzieren versuchte, ein falsches Feindbild vorgeworfen: "Es existiert keine Alternative zu den neoliberalen Rezepten." (Siehe hierzu und zum Neoliberalismus die Geschichte der FDP).

Die einen träumen von unerschöpflich viel Strom - andere eher von deutschen Atomwaffen

Die neoliberalen Rezepte haben insofern eine besondere Affinität zur Kernenergie, als sie von einem Voluntarismus geprägt sind, der nur vom gewünschten Ergebnis her denkt und dabei den Staat rücksichtslos zur Finanzierung und Durchsetzung privater Profitinteressen einsetzen will. Das gewünschte Ergebnis ist in diesem Fall ein vermeintlich unerschöpfliches Füllhorn an Strom, mit dem sich über die bisherigen Stromanwendungen hinaus große Teile der fossilen Primärenergieträger ersetzen ließen, die in den Bereichen Verkehr und Gebäude bisher noch absolut dominieren. Nicht zuletzt soll dies mit Wasserstoff geschehen, der per Elektrolyse mittels Atomstrom erzeugt wird. Den erneuerbaren Stromquellen wäre dabei langfristig nur eine ergänzende Rolle zugedacht, wie das früher der Fall war, als die auf fossile Brennstoffe und Kernenergie fixierten Kraftwerksbetreiber bewusst abschätzig von "additiven Energien" sprachen.

Hinzu scheint bei Teilen der Kernkraft-Fans die Absicht zu bestehen, die Neuerrichtung eines zivilen Nuklearkomplexes in Deutschland als Basis für den Aufbau einer eigenen Atomstreitmacht zu nutzen. Das klingt erst mal abenteuerlich, und ist es auch. Am 30. Oktober 2022 hat jedoch der FAZ-Mitherausgeber Berthold Kohler ganz ungeniert für eine nukleare Aufrüstung Deutschlands plädiert, weil es sonst gegenüber der mafiös entgleisten Atommacht Russland als "nuklearer Habenichts" schutzlos dastehe und sich im Ernstfall auch nicht mehr auf die Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien verlassen könne (221014). Solche Töne hatte man schon lange nicht mehr vernommen, seitdem Franz Josef Strauß nach Atomwaffen gierte. Besonders erstaunlich war der Exhibitionismus, mit dem Kohler den von der FAZ gewohnten seriösen Habitus ignorierte und die Hosen runterließ. Aber anscheinend hat sich daran niemand gestoßen. Da er regelmäßig auch satirische Texte schreibt und sein Plädoyer für eine deutsche Atomrüstung ebenfalls in einem ziemlich flapsigen Ton vortrug, mochte man zunächst im Zweifel sein, ob es überhaupt ernst gemeint war. Aber es war ernst gemeint.

In den sechziger Jahren wollte man Kernkraftwerke sogar mitten in Großstädten errichten

Abgesehen von diesem bemerkenswerten Vorstoß sind es jedoch die alten Träume von der zivilen Nutzung der Atomenergie als unerschöpfliche Stromquelle, die mit der gegenwärtig laufenden Kampagne neu belebt werden sollen: Zu Beginn der sechziger Jahre wollte man sogar in Berlin auf der Pfaueninsel im Wannsee allen Ernstes ein Kernkraftwerk errichten, um damit Westberlin zu versorgen. Nur die amerikanische Besatzungsmacht - die damit ihrer offiziellen Bezeichnung als "Schutzmacht" im doppelten Sinne gerecht wurde - hat die Bewag an der Durchführung des Projekts gehindert, obwohl den Auftrag höchstwahrscheinlich ein US-amerikanisches Unternehmen bekommen hätte. Aber in den USA wusste man schon ein bißchen mehr von den Risiken und hatte auch viel mehr Platz für Sicherheitsabstände. In Stuttgart gab es ebenfalls solche Pläne. Am bekanntesten wurde die 1967 verkündete Absicht der BASF, auf ihrem Werksgelände in der Großstadt Ludwigshafen - nur durch den Rhein von der benachbarten Großstadt Mannheim getrennt - ein firmeneigenes Kernkraftwerk mit einer Leistung von 600 MW zu errichten, um damit Wärme und Strom für den eigenen Bedarf zu erzeugen. Damit einher ging eine Propagandawelle für den Bau großstadtnaher Kernkraftwerke. Das totale Fehlen eines Sicherheitsabstands wurde dabei im Umkehrschluss als Beweis für die bereits erreichte hohe Sicherheit der Reaktoren gedeutet. So schrieb die FAZ am 4. Juli 1969, das BASF-Projekt setze "konstruktiv und betriebswirtschaftlich neue Maßstäbe, und das inmitten eines dichtbevölkerten Gebietes". Der Chemiekonzern widerlege damit "die Mär kohlenprotektionistischer Provinz, Kernkraftwerke kämen nur als Stromproduzenten in Betracht".

Heute klingt es nicht viel anders, wenn die Hayek-Jüngerin Heike Göbel am 13. April im Leitartikel des FAZ-Wirtschaftsteils über die unmittelbar bevorstehende Abschaltung der drei letzten Reaktoren lamentiert und behauptet, damit reiße "ein führendes Industrieland vorzeitig letzte Pfeiler einer technologischen Brücke ab, ohne die seine Umstellung auf erneuerbare Energien noch unwägbarer und teurer wird". Trotz "sprunghaft gestiegener Energiepreise und Blackout-Gefahren" wollten sich die Grünen nicht zu der "naheliegenden Neubewertung der Kernkraft" durchringen. In der Bevölkerung habe dagegen der Ukraine-Krieg zu einem Umdenken geführt, und eine knappe Mehrheit plädiere für eine längere Nutzung der Reaktoren. Auch die Union fordere das, nachdem sie ihre Atomkraft-Fahne seit Jahren nur nach dem grünen Wind gehängt habe. Aufgewacht sei auch die FDP.

Unkenntnis energiewirtschaftlicher Zusammenhänge begünstigte KKW-Propaganda

Daran stimmt nur soviel, dass die Propaganda für eine Verlängerung der Laufzeiten sich die in der Bevölkerung verbreitete falsche Vorstellung zunutze machen konnte, die 2022 erfolgte Strompreis-Explosion sei auf einen Strommangel zurückzuführen, dem durch Weiterbetrieb der Kernkraftwerke begegnet werden müsse. Außerdem wurde die panische Angst vor einem Gasmangel in unreflektierter Weise auf die Stromversorgung übertragen, deren Sicherheit man in ähnlicher Weise gefährdet sah, falls die drei Reaktoren planmäßig vom Netz genommen würden. In Wirklichkeit gab es diese Zusammenhänge gar nicht oder zumindest nicht so, wie sich das breite Publikum das vorstellte. Vor allem war es nicht Strommangel, der die Großhandelspreise für Strom im Monatsmittel bis auf das Zwölffache steigen ließ, sondern ein fataler Börsenmechanismus, der die Wahnsinnspreise, die den Verbrauchern aufgebürdet werden sollten, in Milliarden an Übergewinnen für Stromerzeuger verwandelte (Hintergrund, Januar 2023). Es stellt der medialen Öffentlichkeit in Deutschland ein denkbar schlechtes Zeugnis aus, dass diese Hintergründe kaum erörtert und kritisiert wurden, obwohl sogar mehrere EU-Staaten die Kommission in Brüssel aufforderten, dem faulen Börsenzauber ein Ende zu setzen. 

Für begnadete Populisten wie den bayerischen CSU-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Markus Söder war diese mangelnde Informiertheit des Publikums eine Steilvorlage, um zu demagogischer Hochform aufzulaufen und den Weiterbetrieb des Reaktors Isar 2 bis ultimo zu fordern, weil sonst eine "Riesen-Stromlücke" mit katastrophalen Folgen entstehen würde. Dass er von Energiewirtschaft und speziell von Kernenergie nicht viel Ahnung hat, war dabei kein Hindernis, sondern von großem Vorteil, denn "Je einfacher denken, ist oft eine wertvolle Gabe Gottes", wie Konrad Adenauer in einer berühmt gewordenen Rede erkannte, die er am 23. Mai 1956 vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie in Köln hielt. Er hätte hinzufügen können: Die Verbreitung und Nutzung einfachen Denkens ist Sache der Politiker, während die Wirtschaft das Lenken übernimmt.

Kampagne für Neubelebung der Kernenergie begann schon vor dem Überfall auf die Ukraine

So muss man sich wohl auch das Zustandekommen der Kampagne für eine Neubelebung der Kernenergie in Deutschland vorstellen, die sich bereits 2021 abzeichnete. Das war - wohlgemerkt - noch vor der Diskussion über eine Verlängerung der Laufzeiten für die drei letzten Kernkraftwerke, die erst durch den russischen Überfall auf die Ukraine "viral ging", wie man inzwischen zu sagen pflegt, wenn sich etwas epidemisch verbreitet. Zunächst spielte die Laufzeitenverlängerung aber noch gar keine Rolle. Es ging vielmehr um die Verbreitung einer besonders einfachen Denkweise in Sachen Kernenergie, die von der Sonntagsausgabe der "Frankfurter Allgemeinen" am 14. März 2021 mustergültig so formuliert wurde: "Die Nutzung der Kernkraft lässt sich mit einer Wette vergleichen, die man fast immer gewinnt: In den allermeisten Fällen bekommt man verlässlich viel Energie und es passiert nichts Schlimmes."

Meistens wird von den Kernkraft-Fetischisten aber nicht ganz so simpel argumentiert. Auch Heike Göbel sah sich bei ihrem bereits zitierten Lamento veranlasst, wenigstens ganz beiläufig zwei Hauptpunkte zu erwähnen, die gegen eine Neubelebung der Kernenergie sprechen. Zum einen ist das die Unwirtschaftlichkeit dieser Art der Stromerzeugung (die sie ein paar Zeilen zuvor allerdings ins Gegenteil verkehrt, indem sie eine Senkung "sprunghaft gestiegener Energiepreise" ausgerechnet durch Atomstrom suggeriert). Zum anderen sind das die radioaktiven Sicherheitsrisiken beim Betrieb der Anlagen und der Entsorgung ihrer Hinterlassenschaften. Unter Hinweis auf die russische Aggression in der Ukraine gelang ihr dazu die Erkenntnis, dass sowohl die Angst vor den hohen Kosten als auch die Angst vor den atomaren Risiken hinter dem übergeordneten "Sicherheitsinteresse" zurücktreten müssten, eine allzu große Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten oder Energiequellen zu vermeiden: "Das Sicherheitsinteresse kann höhere Preise rechtfertigen und es erfordern, heimische Ressourcen und Technologien zu nutzen, deren Risiken man Bürgern gern ersparte, ob Atomstrahlung, Kohlenstaub oder Frackingschäden." Letzteres darf man als Plädoyer dafür verstehen, aus der äußerst bescheidenen inländischen Erdgas-Förderung noch ein bißchen mehr herauszupressen, auch wenn dadurch in Niedersachsen die Landschaft, das Grundwasser und anderes beschädigt würde (221108) - so wie das bereits in Holland geschehen ist, wo die Erdgasförderung wegen zahlloser Gebäudeschäden drastisch zurückgefahren werden musste und gänzlich eingestellt werden soll (190513, 200410).

Der "Schnelle Brüter" in Kalkar ging zum Glück nicht mehr in Betrieb

Beim Betrieb von Dampfkraftwerken mit nuklear erzeugter Wärme ist grundsätzlich nicht viel neues zu erwarten. Das gilt auch für andere Konzepte als die 21 Druckwasser- und 10 Siedewasserreaktoren, die in Deutschland bis 1988 ans Netz gingen. Historisch an erster Stelle zu nennen wäre hier der von Siemens anfänglich favorisierte Schwerwasser-Reaktor mit Natururan als Brennstoff, wie er später mit der kanadischen Candu-Baureihe verwirklicht wurde. In Deutschland entstand so das Kernkraftwerk Niederaichbach, das aber schon kurz nach der Inbetriebnahme wegen technischer Probleme wieder abgeschaltet werden musste und nie mehr ans Netz ging. Neben dem "Versuchsatomkraftwerk" Kahl ist es bis heute die einzige Anlage, die restlos beseitigt wurde. Ferner gab es noch den von BBC gebauten Thorium-Hochtemperatur-Reaktor in Hamm (920611) sowie zwei kleinere Versuchs-KKW in den beiden Kernforschungszentren, die ebenfalls ins Stromnetz einspeisten: In Jülich war das der Hochtemperatur-Reaktor von BBC, bei dem es im Mai 1978 zu einem gravierenden Störfall kam, der von der Betreibergesellschaft verharmlost wurde (140616), und in Karlsruhe der Kompakte Natriumgekühlte Kernreaktor (KNK) von Siemens. Der Vollständigkeit halber wäre noch der "Schnelle Brüter" in Kalkar zu erwähnen, der zwar fertiggestellt, aber nach der Katastrophe von Tschernobyl nicht mehr in Betrieb genommen wurde (951006). - Zum Glück, muss man sagen, denn mit dieser ersten Verwirklichung des so harmlos wie verheißungsvoll klingenden Konzepts eines nuklearen "Brennstoffkreislaufs" wäre Deutschland in die Plutonium-Wirtschaft eingestiegen. (Siehe Hintergrund, Juni 2015, Hintergrund, Februar 2009, und Tabelle)

Kleinere Reaktoren sind keine Lösung, sondern vergrößern die Probleme nur

Trotzdem werden die Propagandisten der Atomstromerzeugung nicht müde, angeblich ganz neue und sichere Reaktorkonzepte anzupreisen. Sogar die immens teuere und deshalb international organisierte Forschung zur Kernfusion, die noch in den Baby-Schuhen steckt (160213), wird gern als demnächst verfügbare Technik dargestellt. Man denke nur an das dumme Geschwätz des bayerischen Ministerpräsidenten Söder, der quasi als Revanche für die Abschaltung von Isar 2 einen bayerischen Einstieg in die Fusionsforschung ankündigte. Oder an den totalen Unsinn, den der AfD-Abgeordnete Karsten Hilse am 11. November 2021 im Bundestag von sich gab, als er von angeblich bereits in Russland und China existierenden KKW sprach, bei denen überhaupt kein Atommüll entstehe, weil sie "hochradioaktive Reststoffe verarbeiten" und als Brennstoffe nutzen könnten. Vermutlich meinte er das keineswegs neue "Brüter"-Konzept, von dem man sich in allen westlichen Ländern inzwischen verabschiedet hat, weil es gerade durch die Verarbeitung und Neuerzeugung von Plutonium aus radioaktiven Abfällen hochgefährlich ist. Kabarettreif war auch sein Hinweis, dass die "Kommunisten" heute nicht mehr in Moskau oder Peking zu suchen sind, sondern unter den Klimaschützern: "Folgen Sie nicht weiter den Kommunisten, die unter dem Deckmantel, das Klima retten zu wollen, Deutschland zugrunde richten!"

Neuerdings werden besonders kleine Reaktoren als zukunftsträchtige Neuerung angepriesen, obwohl es diese Ausführungen schon seit den fünfziger Jahren für den Antrieb von U-Booten und andere Zwecke gibt. So hat der französische Präsident Macron angekündigt, die maroden Reaktoren des Landes ab dem Jahr 2030 durch kleine modulare Kernreaktoren (SMR) zu ersetzen, die mit Leistungen unterhalb von 300 Megawatt angeblich sicherer sind und bei der Entsorgung der radioaktiven Abfälle weniger Probleme bereiten. Außerdem wolle man damit führend im Bereich des grünen Wasserstoffs werden (211008). Man kann sich das ja mal ausrechnen: Falls die Leistungen der 56 aktiven Bestandsanlagen, die zwischen 900 und 1500 Megawatt liegen, restlos durch solche "Small Modular Reactors" mit 300 MW ersetzt würden, liefe das auf mehr als zweihundert Reaktoren in ganz Frankreich hinaus. Bei SMR des untersten Leistungsbereichs, der bei 1,5 MW liegt, wären es sogar mehr als vierzigtausend – rund zehntausend mehr als die gegenwärtige Anzahl von Windkraftanlagen in Deutschland. Im ersten Fall träfe man ungefähr alle fünfzig Kilometer auf einen Reaktor, im zweiten alle vier Kilometer - aber nur bei gleichmäßiger Verteilung, was völlig unrealistisch ist, weil die Standorte erst mal geeignet sein müssen und es schon jetzt Probleme mit der Kühlwasserentnahme aus Flüssen gibt. In Deutschland würde bei derselben Leistung alles noch viel enger, da die Landfläche um ein gutes Drittel kleiner ist.

Der scheinbare Vorteil von Kernkraftwerken, im Vergleich mit Windkraft- und Solaranlagen auf einer kleineren Fläche eine größere und vor allem regelbar-kontinuierliche Leistung zu erzeugen, wird so minimiert und eher ins Gegenteil verkehrt, wenn man alles unter dem Aspekt der notwendigen Sicherheitsabstände betrachtet (die sowieso die Folgen eines Unfalls nur mildern könnten). Hinzu potenzieren sich bei derart vielen Anlagen auch die Risiken durch Entwendung und Missbrauch radioaktiver Stoffe oder gezielter Anschläge auf einzelne Reaktoren entsprechend. - Von dem noch immer ungelösten Problem ganz abgesehen, wie sich die hoch-, mittel- und schwachradioaktiven Abfälle langfristig einigermaßen sicher entsorgen lassen, denn diese jeweiligen Mengen würden enorm zunehmen. Auch die angebliche Unabhängigkeit von Importen ist keineswegs gegeben, weil die erforderlichen Mengen an Uran oder fertigen Brennstäben aus dem Ausland bezogen werden müssten.

Kernenergie ist unwirtschaftlich, wenn der Staat sie nicht massiv stützt und Profite garantiert

Ohne einen starken, notfalls sogar autoritären Staat wäre eine derartige Beglückung mit Atomstrom gar nicht finanzier- und durchsetzbar. In Deutschland würden sich für den Bau und Betrieb von Kernkraftwerken nur dann private Investoren finden, wenn ihnen die Bau-, Betriebs- und Entsorgungskosten so hoch subventioniert oder ganz abgenommen würden, dass sie trotz alledem eine garantierte Rendite kassieren können. Nach diesem Muster wurde soeben in Belgien verfahren, wo der französische Energiekonzern Engie seinen Widerstand gegen die von der Regierung beschlossene Laufzeitenverlängerung für zwei Reaktoren erst aufgab, nachdem er ihr seine Bedingungen diktieren konnte (220712). Und in Deutschland wäre das nicht anders, falls RWE oder auch Siemens ihre längst abgeschriebenen Nuklear-Aktivitäten auf Wunsch und Druck einer Bundesregierung neu beleben würden, was nach derzeitigem Stand der Dinge nicht ausgeschlossen werden kann, falls es nach der nächsten Bundestagswahl zu einer schwarz-gelben Koalition kommt.


 

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