Oktober 2021

211003

ENERGIE-CHRONIK


EU-Kommission will Gas- und Strompreis nicht entkoppeln

Die EU-Kommission hat am 13. Oktober einen "Werkzeugkasten" mit Instrumenten vorgegelegt, die sie für geeignet hält, die Auswirkungen des derzeit ungewöhnlich starken Anstiegs der Energiepreise zu mildern. Die vor allem von Frankreich und Spanien erhobene Forderung nach einer Entkoppelung von Gas- und Strompreisen ist in dieser "toolbox" jedoch nicht enthalten. Die Kommission verteidigt sogar ausdrücklich das bisherige Strommarkt-Design, das der seit elf Jahren bestehenden Marktkopplung zugrunde liegt (140206). Dabei räumt sie durchaus ein, dass das hohe Strompreisniveau durch den Gaspreis neunmal so stark beeinflusst wurde wie durch den ebenfalls stark gestiegenen Preis für EUA-Emissionszertifikate, der inzwischen um die 60 Euro pro Tonne Kohlendioxid beträgt und damit endlich eine klimaschützende Wirkung erreicht hat (210903).

Mindestens sechs Mitgliedsstaaten halten das Strommarkt-Design für reformbedürftig

Außer Frankreich und Spanien sind auch Griechenland, Rumänien, Tschechien und Ungarn der Ansicht, dass im gegenwärtigen Strommarkt-Design der besonders teuere Energieträger Gas einen viel zu großen Einfluss auf die Preisbildung am Spotmarkt hat, weil diese nach Abarbeitung der "Merit Order" von den Betriebskosten des teuersten Kraftwerks abhängt, das zur Deckung der Nachfrage jeweils noch nötig ist. In der Regel sind das Gaskraftwerke. Der Strompreis dürfe deshalb nicht von den " Grenzkosten" abhängig gemacht werden, sondern müsse die durchschnittlichen Erzeugungskosten widerspiegeln (siehe hierzu Hintergrund).

Frankreich dringt auf "tiefgreifende Veränderung des europäischen Energiemarktes"

"Der europäische Energiemarkt ist ein Irrweg", erklärte der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire am 30. September. "Es gibt keinen Grund, weshalb Frankreich die Grenzkosten der Gasverstromung in Deutschland oder anderswo bezahlen soll. So ist es aber. Wir passen den Strompreis an den Grenzpreis von Gaskraftwerken an. Das ist die Realität auf dem europäischen Energiemarkt." Gemeinsam mit der französischen Umwelt-Ministerin Barbara Pompili habe er deshalb einen Brief an den Präsidenten der Euro-Gruppe, Paschal Donohoe, geschrieben. Darin werde Donohoe ausdrücklich aufgefordert, "über eine tiefgreifende Veränderung des europäischen Energiemarktes nachzudenken", was er für absolut notwendig halte.

"Grenzkosten von Gaskraftwerken sind mehr als doppelt so hoch wie die von Kernkraftwerken"

"Wir sind uns bewusst, dass sich das nicht im Handumdrehen bewerkstelligen lässt", erklärte der Minister weiter. "Aber ich kann nicht akzeptieren, dass unsere Mitbürger die Grenzkosten für die Stromerzeugung mit Gaskraftwerken bezahlen, obwohl wir Kernkraftwerke haben, die es uns ermöglichen, den benötigten Strom für rund 40 Euro pro Megawattstunde zu erzeugen. Die Grenzkosten für Gaskraftwerke sind mit über 100 Euro mehr als doppelt so hoch. Es gibt keinerlei Grund, weshalb Frankreich diese Grenzkosten bezahlen soll."

Epex Spot verteidigt das bisherige System als "transparentes Preissignal für alle europäischen Länder"

"Die durch den europäischen Preisbildungsprozess ermittelten Preise spiegeln die tatsächliche, derzeit angespannte Situation von Angebot und Nachfrage im Stromsystem wider", hieß es dazu in einer Stellungnahme der EEX-Tochter Epex Spot vom 27. Oktober. "Der Großhandelsmarkt wurde so konzipiert, dass er genau ein solches transparentes Preissignal für alle europäischen Länder liefert, um die notwendigen Investitionen voranzutreiben und gleichzeitig die Stromflüsse auf dem Kontinent zu optimieren. Ein neutraler und unverzerrter Preisbildungsprozess liegt nach wie vor im Interesse der Endverbraucher." Aus operativer Sicht habe der Preisbildungsprozess reibungslos funktioniert und die Märkte hätten sich trotz der angespannten Situation gut entwickelt. Die Zuverlässigkeit des Marktes sei auf höchstem Niveau gewährleistet. Als unabhängiges Gremium kontrolliere die Marktüberwachung weiterhin die Handelsaktivitäten aller Mitglieder, um geordnete Marktbedingungen zu gewährleisten und Marktmissbrauch zu bekämpfen.

Kommission hält bestehende Regelung ebenfalls für optimal und will Änderungswünsche lediglich "prüfen" lassen

In ihrer Mitteilung zu dem nun vorgelegten "Werkzeugkasten" räumt die EU-Kommission unter anderem und eher beiläufig ein, dass der EU-Strommarkt auf dem Grenzkostenprinzip basiere und ein "clearingpreisgebundener Markt" sei. Dadurch bekomme auf Großhandelsebene jeder denselben Strompreis. Da Gaskraftwerke häufig noch immer zur Deckung des Strombedarfs benötigt würden, habe der Gaspreis Auswirkungen auf die Kosten der Stromerzeugung mitsamt den derzeit deutlich werdenden negativen Folgen. Es bestehe jedoch allgemeiner Konsens darüber, dass das Grenzkostenmodell das effizienteste Modell für liberalisierte Strommärkte sei und sich für die Förderung eines wirksamen Stromhandels zwischen den Mitgliedstaaten auf dem Großhandelsmarkt am besten eigne. Zudem sei es ein maßgeschneidertes Instrument zur Förderung der Integration erneuerbarer Energien, mit denen die Preise sinken, da ihre Betriebskosten gleich Null sind.

Zum Schluss ihrer diesbezüglichen Ausführungen gelangt die Kommission zu einer kaum verhüllten glatten Absage an alle Änderungswünsche, die eine Abkehr vom Grenzkostenprinzip verlangen: "Wenngleich derzeit keine klaren Anzeichen dafür vorliegen, dass ein alternatives Marktmodell niedrigere Preise und bessere Anreize nach sich ziehen würde, wird die Kommission die Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) beauftragen, die Vor- und Nachteile der derzeitigen Gestaltung des Stromgroßhandelsmarktes zu prüfen."

Soziale Folgen des Preisanstiegs sollen gemildert werden

Der "Werkzeugkasten", auf den die Kommission ersatzweise verweist, ist dagegen eher eine Art Verbandskasten, um denjenigen Erste Hilfe zu leisten, die vom Anstieg der Energiepreise besonders arg betroffen sind. Für die Mitgliedsstaaten enthält er folgende Instrumente:

Damit derartige Preisanstiege künftig besser vorhersehbar und nach Möglichkeit gemildert anstatt noch verschärft werden, will die Kommission außerdem

 

Links (intern)

 

HINTERGRUND


Diese Grafik veranschaulicht den Zusammenhang zwischen der jeweils zur Verfügung stehenden Kraftwerksleistung aus erneuerbaren Quellen (grün) und nicht-erneuerbaren Quellen (grau) mit der abzudeckenden Lastkurve (schwarz) und den daraus resultierenden Preisen im vortägigen Handel an der Börse (rot) an sieben Tagen im Oktober 2021. Sie verdeutlicht, wie ein Mangel an grüner Leistung den Börsenpreis nach oben treibt bzw. ein Überschuss die für den Börsenpreis maßgeblichen Grenzkosten deutlich senkt.
Quelle: Energy-Charts

Grenzpreis statt Grenzkosten?

Die Strompreise am Spotmarkt sind durch die Orientierung am Gaspreis tatsächlich überhöht

(siehe oben)

Bei seiner furiosen Kritik am "Irrweg", auf dem sich der europäische Energiemarkt befinde, gebrauchte der französische Finanzminister Bruno Le Maire zwei Begriffe, die sehr ähnlich klingen, aber unterschiedliche Bedeutung haben. Der eine sind die Grenzkosten ("coût marginal"), der andere der Grenzpreis ("prix marginal").

Der Grenzpreis ist ein Durchschnittspreis. Zum Beispiel die durchschnittlichen Kosten der Stromerzeugung mit Gaskraftwerken. Die Grenzkosten sind dagegen im Stromhandel an der Strombörse die Kosten, die mit der Erzeugung einer zusätzlichen Strommenge für die Deckung des Bedarfs zu einem bestimmten Zeitpunkt verbunden sind. Für den Spotmarkt sind dabei die kurzfristigen Grenzkosten entscheidend, die variable Kostenbestandteile beinhalten. Dazu zählen die Brennstoffkosten, die Kosten für Emissionszertifikate oder die Kosten durch Verschleiß. Die Fixkosten als weiterer Bestandteil der Stromerzeugungskosten eines Kraftwerks spielen hingegen für die Grenzkosten keine Rolle.

Die Preisbildung auf Grundlage der Grenzkosten bedeutet deshalb, daß der Börsen-Strompreis nicht die Durchschnittskosten der Stromerzeugung widerspiegelt, sondern sich nach den Kosten jenes letzten Kraftwerks bemißt, daß der Erzeugungs-Palette hinzugefügt werden muß, um die aktuelle Nachfrage zu befriedigen. Die Auswahl dieses Kraftwerks besorgt automatisch die sogenannte Merit-Order, welche die verfügbaren Stromangebote nach ihrem Preis auflistet und nach Bedarf abruft. An erster Stelle stehen dabei Wind- und Solarstrom, bei denen die "Brennstoffe" Wind und Sonnenlicht nichts kosten und die deshalb nur minimale Grenzkosten haben. Es folgen Kernenergie, Braunkohle, Steinkohle, GuD-Kraftwerke, Gasturbinen und Heizöl. Letzteres spielt im deutschen Kraftwerks-Mix allerdings kaum noch eine Rolle. Am Ende der Merit Order kommen deshalb Gaskraftwerke sowie Pumpspeicherkraftwerke zum Einsatz, die zwar überaus schnell und flexibel einsetzbar sind, aber auch die höchsten Grenzkosten haben.

Wieviel Strom aus welcher Quelle angefordert wird, ergibt sich aus der Notwendigkeit, die sogenannte Residuallast abzudecken. Das ist jene Leistung, die nach Abzug der Einspeisung von Wind- und Solarstrom noch erbracht werden muss, damit Erzeugung und Nachfrage im Gleichgewicht bleiben. Diesen Ausgleich müssen steuerbare Kraftwerke übernehmen. Dazu gehören Kohle-, Gas- und Kernkraftwerke, aber auch erneuerbare Stromquellen wie Biomasse und Wasserkraft. Diese steuerbaren Kraftwerke eignen sich indessen nur in unterschiedlichen Maße zum Ausgleich kurzzeitiger Lastschwankungen. Die Preisspitze der Merit Order bilden deshalb oft die besonders flexiblen Gaskraftwerke. Und wenn die zum Zuge kommen, wird es wegen ihrer hohen Grenzkosten so richtig teuer, wie das zur Zeit der Fall ist.

Schon in der Vergangenheit gab es Kritik an dieser Konstruktion. So machte der Energieexperte Uwe Leprich 2006 publik, dass die vier deutschen Strom-Oligopolisten und die französische EDF allein in den Jahren 2005 und 2006 "Windfall-Profits" von über zwanzig Milliarden Euro eingestrichen hätten. Das liege daran, dass die Grenzkosten nicht die tatsächlichen Stromerzeugungskosten widerspiegeln bzw. an den enormen Differenzen zwischen ihren tatsächlichen Stromerzeugungskosten und den an den Strombörsen ermittelten Preisen (060303).

Ähnlich sah das der Energieexperte Kevin Canty (Infracomp), der 2009 im Auftrag des Bundesumweltministeriums ein Gutachten erstellte, in dem er die mangelnde Transparenz der Strombörse kritisierte (090803):

"Zehn Jahre nach dem Beginn des Liberalisierungsprozesses hat sich angesichts jahrelang steigender Strom- und Gaspreise bei den Verbrauchern Ernüchterung breit gemacht. Gleichzeitig sind die Gewinne der Strom produzierenden Unternehmen so hoch wie selten zuvor. Dass die Unternehmensgewinne so hoch sind, liegt zu einem bedeutenden Teil daran, dass die kostenlos zugeteilten CO2-Zertifikate von den Stromversorgern vollständig eingepreist wurden. Ein weiterer Grund ist in dem Grenzkosten-orientierten Preisbildungsmechanismus zu sehen: Preisbestimmend an der Börse sind im allgemeinen Spitzenlastkraftwerke, deren variable Kosten deutlich über den variablen Kosten von Grund- und Mittellastkraftwerken liegen. Weil aber ein Großteil der Grundlastkraftwerke bereits vollständig oder weitgehend abgeschrieben ist, kommt es für diesen bedeutenden Teil des Kraftwerksparks zu erheblichen Gewinnmargen ('Windfall')."

Die Monopolkommission legte zur selben Zeit ein Sondergutachten zur Situation auf dem Strom- und Gasmarkt vor, in dem sie feststellte, dass nur bei ausreichendem Wettbewerb dem "missbräuchlichen Verhalten marktmächtiger Erzeuger wirkungsvoll entgegengewirkt" werden könne (090802):

"Die Monopolkommission weist darauf hin, dass zur Wahrung eines effizienten Kraftwerkseinsatzes entsprechend der Merit Order relevante Überkapazitäten insbesondere im Bereich der Grenzkraftwerke und hierbei insbesondere zu Spitzenlastzeiten benötigt werden. Denn im Bereich der Grundlast bestehen vergleichsweise viele Erzeugungsalternativen mit ähnlichen Grenzkosten, während im Bereich der Spitzenlast die Kostenunterschiede zwischen den verschiedenen Erzeugungsanlagen beträchtlich werden. Nur wenn die Überkapazitäten in ihrer Kostenstruktur denjenigen des effizienten Grenzkraftwerks entsprechen und sie sich in ausreichendem Maße in den Händen von im Wettbewerb stehenden Anbietern befinden, kann durch Wettbewerbsdruck missbräuchlichem Verhalten marktmächtiger Erzeuger wirkungsvoll entgegengewirkt werden."

Dieses mißbräuchliche Verhalten marktmächtiger Erzeuger gab es tatsächlich. So hat E.ON den Verkauf seines Übertragungsnetzes (heute TenneT) keineswegs ganz freiwillig vollzogen, sondern unter dem Druck der EU-Kommission (080201). Diese verfügte nämlich über eine Menge belastendes Material zu Marktabsprachen und anderem strafwürdigen Verhalten des Konzerns, zu dem wahrscheinlich auch Manipulationen an der Strombörse gehörten (060503, 070710, 080106). Als Gegenleistung für das Einknicken von E.ON hat sie dann das bereits eröffnete Verfahren eingestellt. Ähnlich verfuhr sie beim RWE-Konzern (081210).

Insofern ist es ganz erfrischend, wenn etliche EU-Staaten nun gegen diese Koppelung des Großhandelspreises an die Grenzkosten aufbegehren und eine Orientierung der Börsenpreise an den durchschnittlichen Kosten der Stromerzeugung verlangen. Denn bisher wird von den interessierten Kreisen gern so getan, als ob es sich dabei um ein in Stein gemeißeltes Gesetz handele, das betriebswirtschaftlich begründeter Rationalität entspringt. Dies gilt jedoch allenfalls für die Merit Order beim Abruf der jeweils kostengüngstigsten Kraftwerke zur Deckung der Residuallast. Hier ist kaum eine andere Lösung vorstellbar. Dass die dabei entstehenden Grenzkosten zugleich als Großhandelspreis akzeptiert werden, ist jedoch eine ziemlich willkürliche Festlegung und eigentlich das genaue Gegenteil jenes "unverzerrten Preisbildungsprozesses", von dem die Epex Spot in ihrer flammenden Verteidigungsrede spricht. Unbedingt beizupflichten ist ihr nur darin, dass die EU-Strommärkte "für einen immer höheren Anteil erneuerbarer Energien fit gemacht" werden müssten, denn diese haben von allen Stromquellen die niedrigsten Grenzkosten.