März 2011

110303

ENERGIE-CHRONIK


Bundeskanzlerin begründet Kursschwenk in der Atompolitik mit "veränderter Lage"

In einer Regierungserklärung vor dem Bundestag hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 17. März plausibel zu machen versucht, weshalb die Bundesregierung nun sogar sieben deutsche Kernkraftwerke vorläufig abschalten ließ (110302), obwohl sie erst vor kurzem eine Verlängerung der Laufzeiten für sämtliche 17 deutschen Kernkraftwerke um bis zu 14 Jahre gegen erhebliche politische Widerstände durchgedrückt hat (100901, 101214). Im wesentlichen argumentierte Merkel damit, daß durch die Reaktorkatastrophe in Japan (110301) auch hinsichtlich der Sicherheitsanforderungen an die deutschen Kernkraftwerke eine "veränderte Lage" entstanden sei. Die Opposition forderte dagegen die Rückgängigmachung der Laufzeiten-Verlängerung und äußerte den Verdacht, daß die schwarz-gelbe Koalition mit ihrem Kursschwenk lediglich ein taktisches Manöver bezweckt, um bei den bevorstehenden Landtagswahlen keine allzu großen Einbrüche zu erleiden. "Sie versuchen nur, jetzt wahltaktisch mit den Ängsten der Menschen umzugehen", warf der frühere Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) der Kanzlerin vor.

"Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen"

"Die Katastrophe in Japan hat ein geradezu apokalyptisches Ausmaß, und es fehlen die Worte", sagte Merkel einleitend und versicherte die Opfer "unserer Anteilnahme", wofür sie von sämtlichen Parteien Beifall erhielt. Mit der Einigkeit war es dann allerdings bald vorbei, als die Kanzlerin mit der wiederholten Floskel "Ja, es bleibt wahr" ihre bisherige Atompolitik verteidigte und als ebenso richtig bezeichnete wie den nunmehr beschlossenen Kursschwenk. Zur Begründung führte sie an: "Die unfaßbaren Ereignisse in Japan lehren uns, daß etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden konnte." Es sei eine "neue Lage" entstanden, die zum Handeln zwinge. Deshalb könne man trotz der Richtigkeit der bisherigen Politik "nicht einfach zur Tagesordnung übergehen". Die neue Lage rechtfertige es auch, den § 19, Ab. 3 des Atomgesetzes als Rechtsgrundlage heranzuziehen. Das verfügte Moratorium gehe sogar weiter als die von den Grünen beantragte Rückgängigmachung der Laufzeiten-Verlängerung, weil sonst nur das Kernkraftwerk Neckarwestheim 1 abgeschaltet worden wäre. Und von dem im Jahr 2000 vereinbarten Atomkonsens unterscheide es sich dadurch, daß die rot-grüne Regierung den KKW-Betreibern damals ausdrücklich zugesichert habe, während der Restlaufzeiten keine Verschärfung der Sicherheitsvorschriften zu betreiben.

Den Vorwurf der Wahlkampftaktik hält Merkel für "absolut respektlos"

Den Vorwurf, lediglich einen wahltaktisch bedingten Schwenk zu vollziehen, wies Merkel mit dem Unterton moralischer Entrüstung zurück: "Sie werfen uns Täuschung, Trickserei, mehr oder weniger Rechtsbruch und natürlich Wahlkampftaktik und Ähnliches vor." Diese Art der Argumentation sei "absolut respektlos", der Situation "absolut nicht angemessen" und "an Niveaulosigkeit nicht zu überbieten". Denn es gehe hier um Fragen, "die die Welt vor eine neue Lage gestellt haben".

Gabriel erinnert an Forsmark und Brunsbüttel

In der folgenden Debatte schloß sich Sigmar Gabriel (SPD) als erster Redner der Beleidsbekundung der Kanzlerin für Japan an, wofür er ebenfalls den Beifall sämtlicher Parteien erhielt. Er bezweifelte dann aber, "ob es angemessen ist, wenn wir uns gegenseitig unterstellen, wir seien respektlos und würden uns unanständig benehmen". Den Vorwurf, daß es der schwarz-gelben Koalition lediglich um Wahltaktik gehe, ließ er er sich jedenfalls nicht nehmen. Er wiederholte ihn dann in seiner Rede etwas später.

"Wir erleben gerade das Ende des Atomzeitalters" meinte Gabriel und erinnerte an vorangegangene KKW-Katastrophen wie Harrisburg und Tschernobyl. Speziell verwies er auf die Panne im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark 1 (060807), bei der ebenfalls die Notstromversorgung versagte, "und zwar völlig ohne Erdbeben und Tsunami". Die deutschen KKW-Betreiber hätten damals behauptet, daß so etwas bei ihnen nicht passieren könne, bis sich herausstellte, daß es im KKW Brunsbüttel ähnliche Probleme gab (060808). Als damals amtierender Umweltminister der Großen Koalition habe er diese Aufklärung erst erzwingen müssen. Im Unterschied zu Merkel habe er sich dabei zu Recht auf § 19, Ab. 3 des Atomgesetzes berufen, weil tatsächlich eine "ganz konkrete reale Gefahr" vorgelegen habe. Wasserstoff-Explosionen seien in deutschen Kernkraftwerken ebenfalls möglich, wie das Beispiel Brunsbüttel zeige (020215). Dennoch habe ihn die Bundeskanzlerin Angela Merkel seinerzeit schriftlich aufgefordert, die Laufzeiten für Biblis A und Neckarwestheim 1 - "zwei der ältesten und gefährlichsten Atommeiler in Deutschland" - zu verlängern (080401, 080604).

"Neues Regelwerk zur KKW-Sicherheit wurde von Schwarz-Gelb verhindert"

Während Gabriel damals sämtliche Anträge der KKW-Betreiber auf Laufzeiten-Verlängerung ablehnte, will er sich bei der Verschiebung des Inkrafttretens des neuen Regelwerks für die KKW-Sicherheit (090603) einem Verlangen der Union und der Koalitionsdisziplin gebeugt haben. Inzwischen habe die schwarz-gelbe Koalition das Inkrafttreten dieses verbesserten Regelwerks mit seinen über tausend Seiten vollends verhindert. Sie habe sich damit begnügt, in § 7d des Atomgesetzes einen einzigen Satz hineinzuschreiben, der in Deutschland ohnehin seit langem geltende Rechtslage sei. Sie habe dies getan, weil sonst eine ganze Reihe von Kernkraftwerken die modernen Sicherheitsstandards nicht erfüllt hätten. Sie habe so dem Druck der KKW-Betreiber nachgegeben und in unverantwortlicher Weise "Sicherheit gegen Geld getauscht". Wenn die Kanzlerin nun eine "tabulose Prüfung" aller deutschen Kernkraftwerke verspreche, brauche Sie damit gar nicht erst anzufangen, weil die geltenden Sicherheitsanforderungen vor über 30 Jahre erlassen worden und völlig veraltet seien. Mit der Berufung von Gerald Hennenhöfer zum neuen BMU-Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit (091217) habe sie zudem "einen Cheflobbyisten der Atomwirtschaft zum obersten Aufseher der Reaktorsicherheit in Deutschland gemacht". Wenn Merkel "auch nur einen Funken Glaubwürdigkeit zurückerobern" wolle, müsse Sie den ehemaligen E.ON-Manager Hennenhöfer sofort entlassen.

"Machen Sie kein windiges Moratorium ohne juristische Grundlage"

"Daß Sie den Mut haben, hier dem Parlament die Unwahrheit über die Anwendung des § 19 des Atomgesetzes zu sagen, ist schon ein starkes Stück", meinte Gabriel. Süffisant fragte er, wie wohl die Rechtsakte aussehen werden, die Merkel auf dieser unsicheren Rechtsgrundlage zu erlassen gedenkt. Ironisch konzedierte er der Kanzlerin, einen "historischen Erfolg" erzielt zu haben, falls die Energiekonzerne tatsächlich einschneidende Sicherheitsauflagen akzeptieren würden. Wahrscheinlicher sei allerdings eine erneute Kungelei mit den KKW-Betreibern: "Dann haben Sie einen Deal gemacht. Dann wollen wir die Preise kennen."

Ähnlich wie Gabriel äußerten sich sein Fraktionskollege Frank-Walter Steinmeier sowie Jürgen Trittin und Sylvia Kotting-Uhl von den Grünen. Steinmeier hielt der Kanzlerin vor: "Das Leid in Japan zu instrumentalisieren, um hier in Deutschland eine Debatte über die Folgen einer falschen Politik nicht führen zu müssen, das wird nicht gehen, und das wird Ihnen auch die Bevölkerung nicht durchgehen lassen." Trittin erinnerte daran, wie er als Umweltminister im Jahre 2001 den baden-württembergischen Umweltminister Ulrich Müller (CDU) erst zwingen mußte, das Kernkraftwerk Philippsburg 1 vom Netz zu nehmen, bis die EnBW endlich ihr Fehlverhalten eingestand und für ein richtiges Sicherheitsmanagement sorgte (011001). Kotting-Uhl appellierte an die Kanzlerin: "Beugen Sie nicht das Atomrecht, und ziehen Sie nicht § 19 des Atomgesetzes zu etwas heran, wozu er nicht gedacht ist. Machen Sie kein windiges Moratorium ohne juristische Grundlage."

Linke für erneute Regulierung der Strompreise

Als Sprecher der Linken bekräftige Gregor Gysi ebenfalls deren Ablehnung der Kernenergie. Zugleich achtete Gysi aber auf Distanz zu SPD und Grünen, denen er vorwarf, sich in der rot-grünen Koalition viel zu sehr auf einen Kompromiß mit den KKW-Betreibern eingelassen zu haben, statt von vornherein den Bundestag über ein Ausstieg-Gesetz beschließen zu lassen. Einen besonderen Akzent setzte er ferner mit der Forderung nach einem sofortigen Strompreisstopp: "Die Politik muss wieder für die Strompreiskontrolle zuständig werden."

Unmut über die klägliche Rolle der IAEA

Verteidigt wurden die Kanzlerin und ihre Regierungserklärung von sämtlichen Sprechern der schwarz-gelben Koalition, zu denen neben dem CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder die beiden FDP-Abgeordneten Birgit Homburger und Michael Kauch sowie Christian Ruck (CSU), Georg Nüßlein (CSU), Jürgen Klimke (CDU), Erika Steinbach (CDU) und Thomas Bareiß (CDU) gehörten. Sie entledigten sich der undankbaren Aufgabe mit mehr oder weniger rhetorischem Geschick. Am bemerkenswertesten war noch die Kritik, die Jürgen Klimke an der kläglichen Rolle der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA übte: Sie verhalte sich bisher angesichts der Reaktorkatastrophe in Japan "wie gelähmt", verfolge eine "Beschwichtigungstaktik", halte "groteske Pressekonferenzen" ab und werde ihrer Wächterrolle insgesamt nicht gerecht. Aus Diplomatenkreisen höre man deshalb hinter vorgehaltener Hand bereits massive Beschwerden. Die Organisation dieses Gremiums sei offenbar nicht in Ordnung. Der UN-Sicherheitsrat müsse sich dieses Themas dringend annehmen.

Zu der Regierungserklärung lagen je ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke sowie zwei Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Erwartungsgemäß wurden die Entschließungsanträge der Opposition von der Regierungsmehrheit ebenso zurückgewiesen wie der Gesetzentwurf der Grünen, der die Laufzeiten-Verlängerung im Atomgesetz rückgängig machen wollte.

Links (intern)