November 2020

201101

ENERGIE-CHRONIK


 


Klang zwar amtlich, war aber falsch: Das Bundesumweltministerium machte aus einer vorläufig-unverbindlichen Einschätzung der Generaldirektion Energie die angeblich "verbindliche" Mitteilung der EU-Kommission, dass für die Entschädigungsregelungen in der 16. Atomgesetz-Novelle keine beihilferechtliche Genehmigung erforderlich sei. Deshalb ist nicht bloß die Entschädigungsregelung verfassungswidrig, sondern die gesamte Novelle nie in Kraft getreten.

Große Koalition hat Änderung des Atomgesetzes verschlampt

Der deutsche Gesetzgeber hat seine Verpflichtung zur Änderung des Atomgesetzes, die ihm das Bundesverfassungsgericht vor vier Jahren auferlegte (161201), bis heute nicht erfüllt. Zu dieser überraschenden Feststellung gelangte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem Beschluss, den er am 12. November veröffentlichte. Zum einen habe eine unerlässliche formale Voraussetzung gefehlt, um die am 13. Juli 2018 im Bundesgesetzblatt veröffentlichte 16. Atomgesetz-Novelle tatsächlich rechtswirksam werden zu lassen. Zum anderen werde es nicht ausreichen, die Novelle nach Beseitigung dieses formalen Mangels unverändert in Kraft zu setzen. Auch die darin enthaltene Entschädigungsregelung für die unverbrauchten Reststrommengen der KKW-Betreiber sei verfassungswidrig und müsse durch eine "alsbaldige Neuregelung" ersetzt werden.

Die Karlsruher Richter gaben damit einer Verfassungsbeschwerde statt, die der Vattenfall-Konzern am 3. Juli 2019 gegen die 16. Atomgesetz-Novelle erhoben hatte. Als Betreiber der Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel warf Vattenfall dem Gesetzgeber vor, gleich mehrfach gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2016 verstoßen zu haben, das in mehreren Punkten die Änderung der 13. AtG-Novelle aus dem Jahr 2011 bis zum 30. Juni 2018 verlangt hatte. Außerdem sei die angefochtene Novellierung nur scheinbar bis zu dem genannten Termin erfolgt. In Wirklichkeit sei sie trotz ihrer Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt nie rechtswirksam in Kraft getreten, weil die EU-Kommission die neu eingefügten Entschädigungsregelungen in den Paragraphen 7e - 7f weder beihilferechtlich genehmigt noch verbindlich mitgeteilt habe, dass eine solche Genehmigung nicht erforderlich sei.

Regierung gab voreilig grünes Licht für das Inkrafttreten der Novelle

Das Bundesverfassungsgericht folgte diesem Argument, weil das Inkrafttreten der 16. AtG-Novelle tatsächlich von der Erfüllung einer dieser beiden Voraussetzungen abhängig gemacht wurde. Wörtlich lautet der diesbezügliche Artikel 3 im Änderungsgesetz:

"Dieses Gesetz tritt an dem Tag in Kraft, an dem die Europäische Kommission die beihilferechtliche Genehmigung erteilt oder verbindlich mitteilt, dass eine solche Genehmigung nicht erforderlich ist; das für die kerntechnische Sicherheit und den Strahlenschutz zuständige Bundesministerium gibt den Tag des Inkrafttretens im Bundesgesetzblatt bekannt."

Es gab indessen weder eine beihilferechtliche Genehmigung noch eine verbindliche Mitteilung der EU-Kommission, dass eine solche nicht erforderlich sei. Die Bundesregierung verfügte lediglich über einen sogenannten "Comfort-Letter" vom 4. Juli 2018, in dem die EU-Generaldirektion Energie ihr als vorläufige und unverbindliche Einschätzung mitteilte, dass auf eine förmliche Anmeldung der Gesetzesänderung wohl verzichtet werden könne – gefolgt von dem Hinweis, dass die Kommission "im Falle einer zukünftigen förmlichen Beschwerde in dieser Sache selbstverständlich zu deren beihilfenrechtlicher Prüfung verpflichtet" sei.

Das Bundesumweltministerium interpretierte diesen sibyllinischen Bescheid dennoch als grünes Licht, um die bereits unter Zeitdruck geratene Atomgesetz-Novelle endlich unter Dach und Fach bringen zu können. Im Bundesgesetzblatt vom 13. Juli 2018 erschien der Text des "Sechzehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes" mit dem Ausfertigungsdatum vom 10. Juli, an dem es vom Bundespräsidenten unterzeichnet worden war – und zusammen mit dem ministeriellen Hinweis, dass die EU-Kommission "verbindlich" eine beihilferechtliche Genehmigung nicht für erforderlich halte und die Novelle deshalb schon am 4. Juli in Kraft getreten sei (siehe Faksimile).

Entschädigungsansprüche von Vattenfall wären auf falscher Basis kalkuliert worden

Wesentlicher als dieser formale Anfechtungsgrund, den sich die Vattenfall-Anwälte natürlich nicht entgehen ließen, war freilich die inhaltliche Kritik an den neu eingefügten Entschädigungsregelungen. Hier beanstandete Vattenfall insbesondere § 7f Abs. 1 Satz 2, der die finanzielle Entschädigung für den Reaktor Brunsbüttel auf zwei Drittel und für den Reaktor Krümmel auf die Hälfte der die nicht abgearbeiteten Reststrommengen beschränkt. Das entspricht zwar genau der Höhe der Vattenfall-Beteiligung an den beiden Kernkraftwerken, ignoriert aber den Umstand, dass nicht Vattenfall der Empfänger der Entschädigungszahlungen ist, sondern die Betriebsgesellschaften der beiden Kernkraftwerke, an denen Vattenfall zu zwei Dritteln bzw. zur Hälfte beteiligt ist. Dadurch reduzierte sich für Vattenfall der Entschädigungsanspruch für Brunsbüttel von 66,7 auf 44,5 Prozent und der für Krümmel von 50 auf 25 Prozent. Den Rest hätte der Mitgesellschafter E.ON bekommen.

Das bedeutete nicht nur eine Benachteiligung des Vattenfall-Konzerns, dem alle Möglichkeiten zur Abarbeitung der ihm noch zustehenden Reststrommengen genommen worden sind, sondern auch eine weitere Privilegierung des E.ON-Konzerns, dem bei der Revision des Atomgesetzes im Jahr 2011 eine ungewöhnlich großes Zeitfenster zur Abarbeitung seiner Reststrommenge von 339.620 Gigawattstunden eingeräumt wurde. Die zusätzlich eingeführten Abschalttermine waren für E.ON so großzügig bemessen, dass sie unter Berücksichtigung der bisherigen durchschnittlichen Jahresproduktion die Abarbeitung von weiteren 91.555 Gigawattstunden ermöglicht hätten (110601).

"Der lediglich rudimentär angelegte Ausgleich durfte nicht den beteiligten Konzernen überlassen bleiben"

Vermutlich geschah diese Privilegierung des E.ON-Konzerns nicht rein willkürlich, sondern in der Erwartung, dass er auch die Reststrommengen seines Geschäftspartners Vattenfall übernehmen würde, die sich auf insgesamt 51.460 Gigawattstunden beliefen. Grundsätzlich wäre es den noch verbliebenen drei KKW-Betreibern möglich gewesen, die Abarbeitung aller Reststrommengen im Rahmen der zusätzlich eingeführten Abschalttermine zu vollziehen, sofern sie sich auf einen konzernübergreifenden Ausgleich der jeweiligen Restguthaben verständigt hätten. Nur der RWE-Konzern hätte sich etwas anstrengen müssen, um die fiktive Reststrommenge für das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich innerhalb des ihm zugebilligten Zeitfensters abzuarbeiten. Voraussetzung wäre aber unbedingt eine gesetzliche Regelung gewesen, die diesen konzernübergreifenden Ausgleich sicherstellt. Noch besser und wesentlich einfacher wäre es gewesen, von vornherein auf die zusätzlichen Abschalttermine für die einzelnen Kernkraftwerke zu verzichten, durch die der verfassungsrechtliche Konflikt mit dem Vorrang der Reststrommengen überhaupt erst entstanden ist.

"Wie diese komplexe Sach- und Rechtslage im Einzelnen zu verstehen ist, kann aber offen bleiben", heißt es dazu in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. "Gerade wegen des besonderen verfassungsrechtlichen Ausgleichs durfte die Konkretisierung des im Gesetz lediglich rudimentär angelegten Ausgleichs hier nicht den beteiligten Konzernen überlassen bleiben." Diese vier Konzerne würden "gegenläufige Interessen" verfolgen und seien nicht in der Lage, rechtzeitig vor der Abschaltung des letzten Kernkraftwerks eine gerichtliche Klärung herbeizuführen, welche Reststrommengen zu welchem Preis übertragen werden. Die in der 13. Atomgesetz-Novelle getroffene Regelung "wäre daher jedenfalls wegen unzureichender Bestimmtheit verfassungswidrig".

 


Entgegen landläufiger Ansicht bewirken die Abschalttermine, die der Reststrommengen-Regelung im Jahr 2011 hinzugefügt wurden, keineswegs eine Beschleunigung des Ausstiegs aus der Kernenergie, sondern dessen Verzögerung (Differenz zwischen blauer und roter Linie ab 2016). Die blaue Linie macht deutlich, dass ohne die Abschalttermine alle Reststrommengen schon Mitte 2022 entschädigungslos abgearbeitet wären. Die rote Linie endet dagegen beim letzten Abschalttermin 31. Dezember 2022, wobei eine unverstromte Elektrizitätsmenge von etwa 66000 Gigawattstunden übrig bleibt, die entschädigungspflichtig ist. Ihre gepunktete Fortführung zeigt, dass die drei letzten Reaktoren bei einem Weiterbetrieb noch gut zwei Jahre zur Abarbeitung der Reststrommengen benötigen würden (siehe Hintergrund).


Nach dem letzten Abschalttermin bleiben etwa 66.000 Gigawattstunden unverstromt

Die sechs Kernkraftwerke, die sich derzeit noch am Netz befinden, erzeugten im vergangenen Jahr 61.029,08 Gigawattstunden. Die Reststrommenge betrug noch 219.609,73 Gigawattstunden (GWh). Daraus lässt sich errechnen, dass sie bis Ende 2021, wenn Grohnde, Gundremmingen C und Brokdorf laut Atomgesetz stillgelegt werden müssen, noch insgesamt 122.058 Gigawattstunden abarbeiten können. Bis Ende 2022, wenn auch Isar 2, Emsland und Neckarwestheim abgeschaltet werden, können die drei noch verbliebenen Reaktoren weitere 81.024 Gigawattstunden erzeugen. Rein rechnerisch würden somit die zur Verfügung stehenden Kapazitäten die Abarbeitung von rund 203.082 Gigawattstunden ermöglichen. Allerdings würde dies unter Berücksichtigung der im jeweiligen Zeitabschnitt noch vorhandenen Verstromungskapazitäten erst bis Anfang 2025 gelingen. Tatsächlich müssen die drei letzten Kernkraftwerke laut Atomgesetz aber schon bis Ende 2022 stillgelegt werden. Es fehlen also mehr als zwei volle Jahre.

Entschädigungssumme könnte zehnstellig werden

Der letzte Abschalttermin im Atomgesetz wirkt sich besonders verhängnisvoll aus, weil er eben nicht bloß die Kapazitäten zur Abarbeitung ein weiteres Mal verkleinert, sondern die Verstromung völlig beendet. Deshalb verbleibt voraussichtlich ein nicht abgearbeiteter Rest von etwa 66.000 Gigawattstunden, die entschädigt werden müssen (siehe Grafik). Falls dabei der gegenwärtige Großhandelspreis von rund 30 Euro pro Megawatt als Orientierung dienen würde, ergäbe das eine Summe von rund zwei Milliarden Euro. Eine derart hohe Entschädigung wäre aber sicher nicht zu rechtfertigen. Indessen wäre auch die Hälfte oder weniger noch eine immense Summe, die dem Steuerzahler unnötigerweise durch eine verpfuschte Gesetzgebung und die Inkompetenz von Politikern auferlegt wird (siehe Hintergrund).

 

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