| November 2018 | 181113 | ENERGIE-CHRONIK | 
Das Gericht der Europäischen Union in Luxemburg erklärte am 15. November den Beschluss für ungültig, mit dem die EU-Kommission am 23. Juli 2014 die von Großbritannien geplante Beihilferegelung zur Einführung eines "Kapazitätsmarktes" für Strom genehmigt hat (140708). Ähnlich wie das vorangegangene Urteil zur Zulässigkeit der Subventionierung von Kernkraftwerken (180711) ist diese Entscheidung für Großbritannien selber nicht mehr von großer Bedeutung. Sie hat aber Auswirkungen auf alle Staaten, die in der EU verbleiben. Die EU-Kommission wird sich deshalb künftig schwerer damit tun, den Wünschen der konventionellen Kraftwerksbetreiber nach Einführung solcher Kapazitätsmärkte nachzukommen. Auch in Deutschland ist das Thema noch nicht vom Tisch. Auf Nachfrage der FAZ (23.11.) äußerten sich Sprecher der Kraftwerksbetreiber RWE und Uniper "enttäuscht und überrascht" über das Urteil.
Die britische Tempus-Gruppe, die in Luxemburg geklagt hat, ist ein Öl- und Gasunternehmen mit Sitz in Calgary, das über seine Tochter Tempus Energy Technology Ltd eine Software zur Senkung der Stromkosten vertreibt. Kunden sind Großverbraucher mit flexiblem Strombezug. Diese können mithin auch als Lastanbieter auftreten, wenn ein Überangebot an Strom besteht, das sonst durch Drosselung der Erzeugungskapazitäten abgeregelt werden müßte. Neben dem Einsparargument wirbt das Unternehmen damit, dass mit Hilfe seiner Software mehr Strom aus erneuerbaren Quellen bezogen und entsprechende Mengen an Kohlendioxid vermieden werden könnten. Hinzu entfalle teilweise die Notwendigkeit, teure Kohle- und Gaskraftwerkskapazitäten zur Abdeckung von Bedarfsspitzen bereitzuhalten.
Dieses Geschäftskonzept und generell den ganzen Bereich von "Demand-Side-Management" hat die EU-Kommission nach Auffassung der Luxemburger Richter nicht hinreichend berücksichtigt, als sie den Antrag Großbritanniens ohne Eröffnung eines Prüfverfahrens durchwinkte. Dabei habe es sich um eine wichtige, komplexe und neue Maßnahme gehandelt, und zwar insbesondere deshalb, weil die Kommission erstmals einen Kapazitätsmarkt zu bewerten gehabt habe. Auch seien die Beihilfebeträge mit 0,9 bis 2,6 Milliarden Pfund Sterling (GPB) pro Jahr besonders hoch. Die über zehn Jahre laufende Regelung werde langfristige Folgen für die Stromerzeuger wie für die Anbieter von Laststeuerung haben.
In Deutschland verlangen die konventionellen Kraftwerksbetreiber schon seit ungefähr acht Jahren die Einführung von "Kapazitätsmärkten", die bereits die bloße Vorhaltung von Kraftwerkskapazitäten zur Abdeckung von Spitzenlasten honorieren bzw. subventionieren würden (111104). Damit würde ein entsprechend hoher Sockel an konventioneller Stromerzeugung mittels Kohle- und Gaskraftwerken konserviert, um die kurzfristig oder saisonal auftretenden Schwankungen zwischen Erzeugung und Verbrauch auszugleichen. Das wäre freilich genau der falsche Weg, denn es entfielen die technische Notwendigkeit und der wirtschaftliche Anreiz zur Entwicklung von leistungsfähigen Stromspeichern, die im Zusammenspiel mit den Erneuerbaren eine CO2-freie Stromerzeugung ermöglichen können.
Der Branchenverband BDEW propagierte das Kapazitätsmarkt-Konzept unter dem 
  Schlagwort "neues Strommarktdesign" (130406), worauf 
  ihm der Forschungsverbund Erneuerbare Energien (FVEE) mit der Forderung nach 
  einem neuen "Stromsystemdesign" antwortete (130614). 
  Bei der schwarz-gelben Bundesregierung fand die Branchen-Lobby dagegen offene 
  Ohren (120502). Auch zu Zeiten der Großen Koalition 
  wurde die Forderung noch immer von einflußreichen Teilen der CDU/CSU unterstützt. 
  Auf Drängen der SPD sah der Koalitionsvertrag vom November 2013 jedoch keine 
  Dringlichkeit zur Einführung eines Kapazitätsmarktes (131101). Im erneuerten Koalitionsvertrag 
  vom Februar dieses Jahres taucht die Forderung auch nicht auf. Stattdessen heißt 
  es unverbindlich: "Die Herausforderung besteht in einer besseren Synchronisierung 
  von Erneuerbaren Energien und Netzkapazitäten. (...) Es ist mittelfristig ein 
  Kapazitätsmechanismus zu entwickeln, unter dem Gesichtspunkt der Kosteneffizienz 
  im Einklang mit europäischen Regelungen und unter Gewährleistung wettbewerblicher 
  und technologieoffener Lösung" (180206). Neben 
  der Schaffung eines weiteren Subventionstatbestands wollte man beide Male wohl 
  auch verhindern, daß sich diese neue Einnahmequelle der konventionellen Kraftwerksbetreiber 
  perpetuieren und zur klimapolitischen Bremse entwickeln würde.