Juli 2015

150702

ENERGIE-CHRONIK


Netzentgelt-Befreiung von Großverbrauchern basiert auf falschen Voraussetzungen

Die weitgehende Befreiung großer Stromverbraucher von den Netzentgelten führt größtenteils zu Mitnahme-Effekten und ist von ihrer netztechnischen Begründung her grundsätzlich fragwürdig. Zu diesem Befund gelangt die Bundesnetzagentur in ihrem "Evaluierungsbericht zu den Auswirkungen des § 19 Abs. 2 StromNEV auf den Betrieb von Elektrizitätsversorgungsnetzen", den sie gemäß § 32 Abs. 11 der Stromnetzentgeltverordnung dem Bundeswirtschaftsministerium vorzulegen hatte (siehe auch Hintergrund).

Regelung bewirkt größtenteils Mitnahme-Effekte

Eine Umfrage der Behörde unter den Netzbetreibern ergab, daß diese Regelungen beim Großteil der begünstigten Stromverbraucher überhaupt keinen Einfluß auf deren Lastverhalten haben. Lediglich bei 13 Prozent der Antragsteller könne davon ausgegangen werden, daß sie ihre Produktionsprozesse zumindest teilweise anpassen, um in den Genuß der Netzentgelt-Reduzierung kommen. Dies gelte beispielsweise in ganz besonderem Maße für Pumpspeicherkraftwerke. Bei den übrigen 87 Prozent der Antragsteller sei die Reduzierung des Netzentgelts ein reiner Mitnahme-Effekt.

Wo es tatsächlich einen Anreiz gibt, ist dieser fragwürdig

Aber auch die mögliche Anpassung des Lastgangmanagements kann zu gesamtwirtschaftlich höheren Kosten und ökologischen Fehlanreizen führen. Zum Beispiel macht es die bestehende Regelung betriebswirtschaftlich sinnvoll, nicht benötigte Maschinen einfach weiter laufen zu lassen, anstatt sie abzuschalten. Aus ihrer eigenen Genehmigungspraxis kennt die Bundesnetzagentur Unternehmen, die ein tatsächlich nicht vorhandenes Bandlastverhalten erst durch technische Umstrukturierungen fingiert haben. Zum Beispiel wurden Eigenerzeugungsanlagen entkoppelt, um die aus dem Netz der Allgemeinen Versorgung rein rechnerisch entnommene Entnahmemenge zu erhöhen.

Der triftigste Einwand gegen die bestehende Vergütungsregelung ist allerdings, daß es überwiegend keinen Grund gibt, den gleichmäßig hohen Bezug von Strommengen besonders zu honorieren. Der damit geschaffene Anreiz, die Leistungsaufnahme unverändert auf hohem Niveau zu halten, kann sich nach Feststellung der Bundesnetzagentur "sogar extrem nachteilig auf die Netzstabilität auswirken". Diese Regelung behindere nämlich die Synchronisierung zwischen Erzeugung und Verbrauch, wie sie in Zukunft mit der Abschaltung weiterer konventioneller Kraftwerke und dem weiteren Zubau erneuerbarer Stromquellen mit schwankender Einspeisung noch wichtiger werde.

Bundesnetzagentur hält zumindest eine "deutliche Modifizierung" des § 19 StromNEV für notwendig

Trotz aller Kritik hält die Bundesnetzagentur eine ersatzlose Abschaffung der Netzentgelt-Reduzierungen für "nicht unmittelbar geboten". Sie plädiert aber für eine "deutliche Modifizierung" des § 19 StromNEV, um Mitnahme-Effekte zu minimieren einerseits und die Anreizwirkung zu einem tatsächlich netzdienlichen Abnahmeverhalten zu erhöhen. Die weitergehenden Reduzierungen oberhalb von 7.000 Benutzungsstunden, die das Netzentgelt bis auf zehn Prozent des Normalsatzes senken, seien kontraproduktiv und sollten gestrichen werden. Ferner sei die Vergünstigung auf Letztverbraucher ab der 110-kV-Ebene zu beschränken, da sich ein positiver Effekt überwiegend auf den hohen Spannungsebenen erzielen lasse. Zudem schlägt sie vor, die aus § 19 Abs. 2 entstehende finanzielle Belastung zu deckeln, um die Allgemeinheit der nicht-privilegierten Letztverbraucher vor weiteren Kostensteigerungen zu schützen.

Mit der Transparenz ist es wieder mal nicht weit her

Weder das Ministerium noch die Regulierungsbehörde veröffentlichten bisher eine Mitteilung zu dem 65 Seiten starken Bericht. Die Bundesnetzagentur hat ihn zwar im Mai auf Anforderung der Initiative "Frag den Staat" zukommen lassen, die ihn auf ihrer Internet-Seite veröffentlichte. Eine größere Öffentlichkeit erfuhr davon aber erst durch einen Bericht der "Süddeutschen Zeitung" (8.5.).

 

Links (intern)

 

 

Hintergrund

Das Märchen von der netzstabilisierenden Bandlast

Die Begründung für die weitgehende Befreiung der Großstromverbraucher von den Netzentgelten wirkte schon immer unglaubwürdig und vorgeschoben

 

Mit ihrem Evaluierungsbericht (siehe oben) kratzt die Bundesnetzagentur an einer Legende, die bisher von Lobbyisten und Politikern strapaziert wurde, um die weitgehende Befreiung der Großstromverbraucher von den Netzentgelten zu rechtfertigen. Dieser Legende zufolge dient es der Netzsicherheit, wenn die Leitungen von "Bandlasten" – d.h. konstant hohen Stromlieferungen – in Anspruch genommen werden. Wie man jetzt erfährt, ist eher das Gegenteil der Fall, weil ein konstant hoher Leistungsbedarf den notwendigen Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch behindert und sich sogar "extrem nachteilig auf die Netzstabilität auswirken" kann.

Das Argument wirkte schon immer vorgeschoben und unglaubwürdig, da es schlicht blödsinnig ist, ein ohnehin vorgegebenes Lastverhalten, das von betrieblichen Zwängen diktiert wird, noch extra zu honorieren. Die Bundesnetzagentur bezeichnet diese Geldverschwendung zu Lasten der übrigen Stromverbraucher als "Mitnahme-Effekte", was eine sehr dezente Wortwahl ist. Nach der selben Logik könnte man übrigens auch die Kleinverbraucher von den Netzentgelten befreien, die dieses Geschenk an die Großstromverbraucher bezahlen müssen. Deren Lastverhalten ist nämlich in der Gesamtheit ebenfalls ziemlich konstant und so gut vorhersehbar, daß es sich mit standardisierten Lastprofilen erfassen läßt.

Wie aus dem Evaluierungsbericht hervorgeht, wären lediglich 13 Prozent der Antragsteller zumindest teilweise in der Lage, ihr Lastverhalten überhaupt zu beeinflussen. Aber auch da bewirkt die Netzentgelt-Reduzierung eher falsche Anreize. Manche Unternehmen lassen dann eben ihre Maschinen durchlaufen, anstatt sie abzuschalten, wie es sonst die betriebswirtschaftliche Vernunft gebieten würde. Oder sie strukturieren ihre Eigenerzeugung derart um, daß rechnerisch eine Bandlast aus dem Netz der allgemeinen Versorgung entsteht, die es eigentlich gar nicht gibt. Falls überhaupt nicht getrickst wird, ist der Anreiz zu einem gleichmäßig hohen Leistungsbedarf schon deshalb fragwürdig, weil ein derartiges Lastverhalten grundsätzlich nicht mehr zu den Erfordernissen eines flexiblen Netzbetriebs paßt, der sowohl auf der Verbraucher- als auch auf der Erzeugerseite von erheblichen Schwankungen geprägt wird.

Das kümmerte die Lobby und deren politische Handlanger im Bundestag freilich nicht, als sie 2011 für Großstromverbraucher sogar die Netznutzung zum Nulltarif einführten und dies wieder mal mit der angeblich netzstabilisierenden Wirkung von Bandlasten begründeten. Zum Glück gab es wenigstens Richter, die sofort erkannten, daß das Energiewirtschaftsgesetz überhaupt keine Grundlage für einen solchen Nulltarif bietet und daß die diesbezügliche Änderung der Stromnetzentgeltverordnung auch sonst nicht ordnungsgemäß zustande gekommen war.

Zunächst durfte das Netzentgelt um höchstens fünfzig Prozent reduziert werden

Die Begünstigung von Großverbrauchern war von Anfang an ein Bestandteil der Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV), die vor zehn Jahren – zeitgleich mit dem novellierten Energiewirtschaftsgesetz, dem Gesetz über die Bundesnetzagentur und drei weiteren Verordnungen zur Strom- und Gaswirtschaft – am 13. Juli 2005 in Kraft trat (050701). In § 19 Abs. 2 sah und sieht diese Verordnung für "Sonderformen der Netznutzung" eine starke Ermäßigung der Netzentgelte vor. Die Nutznießer sind Großstromverbraucher, die entweder einen zeitweilig hohen Leistungsbezug zu Schwachlastzeiten haben (Satz 1) oder eine konstant hohe Leistung aus dem Netz der allgemeinen Versorgung beziehen (Satz 2). In beiden Fällen müssen die Übertragungsnetzbetreiber den Großstromverbrauchern ein"individuelles Netzentgelt" anbieten.

Die Begünstigung von Pumpspeicherkraftwerken nach Satz 1 leuchtet ja noch einigermaßen ein, obwohl diese Anlagen im liberalisierten Strommarkt ihre frühere Unschuld als rein netztechnische Instrumente verloren haben und unter den neuen Bedingungen nur als "Marktspeicher" sinnvoll zu betreiben sind, wie die Bundesnetzagentur schon vor dreieinhalb Jahren feststellte (120110). Die atypische Netznutzung durch Golfplätze, die nachts ihren Rasen bewässern, verdient dagegen sicher keine Unterstützung. Fragwürdig sind auch die individuellen Netzentgelte, die den Großstromverbrauchern nach Satz 2 angeboten werden müssen. Dabei handelt es sich vor allem um Betriebe der Aluminium-, Chemie-, Elektro-, Glas-, Metall- und Papierbranche sowie Rechenzentren, für die nach der derzeitigen Regelung das Netzentgelt bis auf zehn Prozent des Normalsatzes abgesenkt werden kann.

Zur Legitimierung der ermäßigten Netzentgelte wird der "physikalische Pfad" erfunden

In der anfänglichen Fassung von § 19 Abs. 2 StromNEV durfte das individuelle Netzentgelt nicht weniger als die Hälfte des normalen Netzentgelts betragen. Hinzu kam die Einschränkung, daß die Stromabnahme über mindestens 7500 Stunden im Jahr erfolgen und zehn Gigawattstunden übersteigen mußte. Als Richtschnur für die Höhe des gewährten Nachlasses enthielt der Verordnungstext ferner die vage Vorschrift, daß das individuelle Netzentgelt "den Beitrag des Letztverbrauchers zu einer Senkung oder zu einer Vermeidung der Erhöhung der Netzkosten dieser und aller vorgelagerten Netz- und Umspannebenen widerzuspiegeln" habe.

Dieser Satz hatte legitimatorischen Charakter. Er unterstellte, daß die starke Ermäßigung der Netzentgelte kein willkürliches Geschenk an die Großstromverbraucher zu Lasten der Kleinverbraucher sei, sondern ein Dankeschön dafür, daß die Unternehmen einen Beitrag zur Senkung der Netzkosten leisten. Mit der vagen Formulierung war freilich nichts anzufangen. Es kostete die Bundesnetzagentur viel Gehirnschmalz und schier scholastisch anmutende Anstrengungen, daraus eine halbwegs praktikable Methode abzuleiten, die mit den Erwartungen des Verordnungsgebers übereinstimmte. In ihrem ab 2011 geltenden "Leitfaden zur Genehmigung individueller Netzentgeltvereinbarungen" gab sie als Berechnungsgrundlage einen sogenannten physikalischen Pfad vor. Es handelt sich dabei um die Kosten, die beim fiktiven Bau einer Direktleitung vom Großstromverbraucher zum nächsten "Grundlastkraftwerk" oder zu einem "Netzknotenpunkt" entstehen würden. Aus der Differenz zwischen den Kosten dieses fiktiven Direktleitungsbaus und den allgemeinen Netzentgelten ergibt sich dann der Beitrag des Großstromverbrauchers zu einer Senkung oder zur Vermeidung einer Erhöhung der Netzkosten.

Bei dieser Rechnung wird freilich großzügig von den tatsächlichen Kosten abstrahiert, die der Bau einer Direktleitung mit sich bringen würde – falls er überhaupt realisiert werden könnte – und beispielsweise von einer bestehenden Trasse ausgegangen. So fügt sich das mit enormem bürokratischen Aufwand ermittelte Ergebnis dann auch in den Rahmen der vorgesehenen Netzentgelt-Reduzierung und kann diese legitimieren.

Schwarz-Gelb beglückte die Großstromverbraucher sogar mit einem Nulltarif für die Netznutzung

Mit dem "Gesetz zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze" vom 21. August 2009 (Artikel 4) kam es zu einer ersten Ausweitung der Begünstigung nach § 19 Abs. 2 StromNEV: Das individuelle Netzentgelt sank nun von 50 auf nur noch 20 Prozent des Normalsatzes. Außerdem wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2011 die Schwelle für die Stromabnahme auf 7000 Stunden im Jahr verringert. Dieses Geschenk an die Großstromverbraucher kam unter der schwarz-roten Koalition zustande. Es war im ursprünglichen Gesetzentwurf nicht vorgesehen gewesen und wurde ihm erst aufgrund der Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses als Artikel 4 eingefügt.

Noch dubioser verhielt sich der Wirtschaftsausschuß des Bundestages, als er im Juli 2011 dem zur Verabschiedung anstehenden "Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften" in letzter Minute einen Artikel 7 einfügte, der Großverbraucher grundsätzlich von allen Netzentgelten befreite, sofern die Stromabnahme mindestens 7000 Stunden im Jahr erfolgt und mehr als 10 Gigawattstunden beträgt (111004). Der nunmehr schwarz-gelb dominierte Bundestag nickte diese Unverschämtheit anstandslos ab. Der Wirtschaftsausschuß begründete die Einführung des Nulltarifs damit, daß stromintensive Unternehmen "aufgrund ihrer Bandlast netzstabilisierend wirken" würden. Jener Passus im Verordnungstext, wonach das individuelle Netzentgelt "den Beitrag des Letztverbrauchers zu einer Senkung oder zu einer Vermeidung der Erhöhung der Netzkosten dieser und aller vorgelagerten Netz- und Umspannebenen widerzuspiegeln" habe, wurde dagegen ersatzlos gestrichen, obwohl ihn die Bundesnetzagentur eben erst mühsam mit der Berechnungsmethode des "physikalischen Pfads" zu interpretieren versucht hatte ...

Die angeblich netzstabilisierende Wirkung von Bandlasten als Begründung für den völligen Verzicht auf Netzentgelte überzeugte schon damals niemanden, der seine fünf Sinne einigermaßen beieinander hatte. "Es mutet wie ein schlechter Witz an, daß ausgerechnet die Firmen, die die Netze am intensivsten nutzen, dafür nun nichts mehr zahlen müssen", empörte sich der Bund der Energieverbraucher. "Der Wirtschaftsausschuß hat sich vor den Karren der Großindustrie spannen lassen."

Anstelle des Nulltarifs gilt jetzt eine Senkung des Normalsatzes bis auf zehn Prozent

Der "Mitternachtsparagraph", wie die Neufassung von § 19 Abs. 2 wegen des handstreichartigen Vorgehens der Lobby und ihrer Hilfstruppe im Bundestag bezeichnet wurde (111109), wies auch juristisch schwerwiegende Mängel auf. Das Oberlandesgericht Düsseldorf stoppte zunächst die rückwirkende Geltung der Totalbefreiung (121203) und erklärte sie dann insgesamt für ungültig, weil sie über keine ausreichende Rechtsgrundlage im Energiewirtschaftsgesetz verfügte sowie schon formell nicht ordnungsgsgemäß zustande gekommen war (130303).

Die schwarz-gelbe Bundesregierung, die das schlitzohrige Stück zu verantworten hatte, steckte allerdings nur soweit zurück, wie es ihr unbedingt notwendig erschien. Sie ersetzte nun die Totalbefreiung durch eine Mindestbeteiligung an den Netzentgelten, die je nach Benutzungsstundenzahl 10, 15 oder 20 Prozent des Normalsatzes beträgt (130714). Außerdem knüpfte sie die Gewährung dieser enormen Vergünstigungen ab 2014 wieder an die Voraussetzung, daß sich darin der Beitrag widerspiegeln müsse, den der Großstromverbraucher zu einer Senkung oder zur Vermeidung einer Erhöhung der Netzkosten leiste. Es wurde also die alte legitimatorische Fiktion wieder aufgegriffen. Die im Leitfaden der Bundesnetzagentur beschriebene Berechnungsmethode zum "physikalischen Pfad" brauchte damit doch nicht dem Papierkorb überantwortet zu werden, sondern ersetzte nun das allzu plumpe Argument mit der angeblich netzstabilisierenden Wirkung von Bandlasten.