Juni 2000

000601

ENERGIE-CHRONIK


Regierung und KKW-Betreiber einigen sich auf Restlaufzeiten

Nach eineinhalb Jahren Verhandlungen einigten sich die Bundesregierung und die vier größten Kernkraftwerksbetreiber am 15.6. auf die Rahmenbedingungen für die weitere Nutzung der Kernenergie in Deutschland bzw. die von der Regierungskoalition angestrebte "geordnete Beendigung der Kernenergie". Die Regelung billigt den Kernkraftwerken eine Regellaufzeit von 32 Kalenderjahren zu. Für die 19 Reaktoren, die derzeit in Deutschland am Netz sind, ergibt sich daraus insgesamt eine "Reststrommenge" von 2 516,05 Terawattstunden (TWh). Diese erhöht sich um weitere 107,25 TWh als Entschädigung dafür, dass RWE auf die Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich verzichtet. Die für die einzelnen Kernkraftwerke geltenden Reststrommengen können grundsätzlich auch übertragen werden, so dass sich aus dieser Vereinbarung keine exakten Restlaufzeiten für einzelne Kernkraftwerke ableiten lassen.

Der Vereinbarung wurde seitens der Kernkraftwerksbetreiber von Veba (PreussenElektra), Viag (Bayernwerk), RWE (RWE Energie) sowie der Energie Baden-Württemberg zugestimmt. Sie muss aber noch von den Aufsichtsgremien gebilligt werden. Ausserdem steht noch die Zustimmung der Hamburgischen Electricitäts-Werke und anderer Betreiber von Kernkraftwerken aus, die nicht an den Verhandlungen mit der Bundesregierung beteiligt waren.

Die Einzelheiten waren in den vergangenen Wochen von einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Chefs des Bundeskanzleramts, Frank-Walter Steinmeier, ausgehandelt worden. Die Mitglieder dieser Arbeitsgruppe paraphierten auch die vom 14.6. datierte Vereinbarung. Die Bundesregierung will nun auf dieser Grundlage eine Novelle zum Atomgesetz entwerfen. Die endgültige Unterzeichnung der Vereinbarung durch den Bundeskanzler, den Bundeswirtschafts- und den Bundesumweltminister sowie die Vorstandsvorsitzenden der Energiekonzerne erfolgt nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens.

Wiederaufarbeitung nur noch bis 2005 - "Erkundung" in Gorleben vorläufig ausgesetzt

Die Entsorgung radioaktiver Abfälle wird ab Juli 2005 auf die direkte Endlagerung beschränkt. Bis dahin bleiben die Wiederaufarbeitung und die damit verbundenen Transporte zulässig. Um die Zahl der Nukleartransporte zu verringern, errichten die KKW-Betreiber standortnahe Zwischenlager für die Aufnahme abgebrannter Brennelemente. Die Erkundung des Salzstocks bei Gorleben wird mindestens drei, längstens jedoch zehn Jahre unterbrochen. Die Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben soll in Betrieb gehen, wird aber vorläufig nur für die Reparatur schadhafter Behälter verwendet. Beim Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle im Schacht Konrad bei Salzgitter wird das Planfeststellungsverfahren zu Ende geführt, aber nicht auf sofortiger Vollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses bestanden.

Auch der Parteitag der Grünen stimmt zu

Die Vereinbarung wurde von mehreren Umweltverbänden scharf kritisiert. So erklärte Greenpeace, das Konsenspapier habe mit einem Atomausstieg nichts zu tun, sondern garantiere den KKW eine "Betriebsgenehmigung auf Lebzeiten". Die BUND-Vorsitzende Angelika Zahrnt sprach von einem "Geschenk an die Atomindustrie", das den Kernkraftwerken zum "Bestandsschutz mit garantierten Privilegien" verhelfe.

Auch in den Reihen des grünen Koalitionspartners gab es Widerstand. Während Bundesvorstand und Fraktion der Einigung mit großer Mehrheit zustimmten, forderte die Vorstandssprecherin Antje Radcke den zwei Wochen später stattfindenden Parteitag der Grünen zur Ablehnung des Kompromisses auf und schloss deshalb auch einen Bruch der Koalition nicht aus. Am 23.6. folgten dann aber 433 der 673 Delegierten der Linie des Bundesvorstands, wie sie vor allem von Bundesaussenminister Joschka Fischer und Bundesumweltminister Jürgen Trittin unterstützt wurde.

Union behält sich Ausstieg aus dem Ausstieg vor

Aus ganz anderen Motiven lehnten die Unionsparteien und Teile der Wirtschaft die Vereinbarung ab. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel erklärte, dass eine unionsgeführte Bundesregierung den Ausstieg aus der Kernenergie nicht weiter verfolgen werde. Die unionsregierten Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern und Hessen kündigten an, rechtliche Schritte zu prüfen. Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Olaf Henkel, wertete die Vereinbarung als Ergebnis einer "Nötigung". Die Kernkraftwerksbetreiber betonten, dass die Wiederherstellung eines parteienübergreifenden Energiekonsenses weiterhin Aufgabe der Politik bleibe.

Zähe Verhandlungen über Restlaufzeiten für Kernkraftwerke

Den "Einstieg in den Ausstieg" aus der Kernenergie hatten SPD und Grüne nach der Bundestagswahl von 1998 in einem energiepolitischen Koalitionspapier vereinbart (981001). Die KKW-Betreiber erklärten sich grundsätzlich bereit, das Ziel einer geordneten Beendigung der Nutzung der Kernenergie "aus Gründen des Primats der Politik" zu akzeptieren, doch lagen die beiderseitigen Vorstellungen über eine einvernehmliche Lösung zunächst erheblich auseinander (siehe u.a. 981201, 990101, 990203, 990421, 990501). Auch ein Papier, das Bundeswirtschaftsminister Werner Müller am 5.6.99 gemeinsam mit den Vorstandsvorsitzenden von EnBW, RWE, Veba und Viag erarbeitete und das für die Kernkraftwerke eine Laufzeit von 35 Kalenderjahren vorsah, erwies sich als nicht konsensfähig (990620). Das Bundeskabinett vertagte das Thema daraufhin bis zum Herbst (990734) und drohte den KKW-Betreibern mit einer gesetzlichen Regelung des Ausstiegs, falls bis Jahresende keine einvernehmliche Lösung zustande komme (990924). Im Dezember akzeptierte die Bundestagsfraktion der Grünen eine "flexible Ausgestaltung der Laufzeiten einzelner Anlagen", wobei sie von einer Gesamtlaufzeit von längstens 30 Jahren ausging (991202). Auf dieser Basis wurden im Januar dieses Jahres die Verhandlungen mit den Stromversorgern wieder aufgenommen (000103). Die KKW-Betreiber bestanden allerdings auf einer Laufzeit von 35 Jahren. Angesichts der divergierenden Positionen wurden die weiteren Verhandlungen Anfang Februar einer Expertenrunde übertragen, welche die jetzt paraphierte Vereinbarung erzielte. Schon damals bekundete die Bundesregierung ihre Bereitschaft, die Restlaufzeiten der Kernkraftwerke in Gesamtstrommengen umzurechnen, wobei es im Rahmen dieser Gesamtstrommengen den Betreibern überlassen bleibt, wann sie welches Kernkraftwerk vom Netz nehmen (000205). Parallel zu der sich anbahnenden Verständigung erlaubte das Bundesamt für Strahlenschutz die Wiederaufnahme von Castor-Transporten (000104), während die KKW-Betreiber bereits die Errichtung standortnaher Zwischenlagern beantragten, wie sie die jetzt getroffene Vereinbarung verbindlich vorsieht (000106).