Udo Leuschner / Zur Geschichte des deutschen Liberalismus

Inhalt


 

Walther Rathenau

Ein Dissident seiner Klasse, seiner Rasse und seines Geschlechts


Walther Rathenau gehörte 1919 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). In seiner kurzen Amtszeit als Wiederaufbau- und danach als Außenminister wurde kein anderer Politiker von den Deutschnationalen und Völkischen derart mit Haß verfolgt, geschmäht und verleumdet ("Stecht ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau"). Am 24. Juni 1922 wurde er von Fanatikern der Rechten ermordet. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ließ Hitler den Mördern einen Gedenkstein errichten (1).

Der Haß galt dem Vertreter einer an den Realitäten orientierten "Erfüllungspolitik", die das damalige Deutsche Reich schrittweise aus seiner wirtschaftlichen Isolierung herausführen sollte. Der größte Wurf gelang Rathenau - wenn auch widerstrebend und auf Drängen des Reichskanzlers Wirth - mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag von Rapallo, der die politische Isolierung Deutschlands beendete. Obwohl die Sowjetunion in diesem Vertrag auf jegliche Kriegsentschädigung verzichtete, zeterten die Deutschnationalen erneut von "Verrat". Ihr Führer Karl Helfferich forderte gar im Reichstag, Rathenau vor den Staatsgerichtshof zu stellen. Dies war das Klima, in dem die tödlichen Schüsse fielen. Sie galten nicht einem Linken, nicht mal einem unzweifelhaften Liberalen, sondern dem Repräsentanten einer pragmatischen Politik, die das blindwütige, vor Revanchismus, Antibolschewismus und Chauvinismus triefende Konzept der Deutschnationalen zu durchkreuzen drohte.

Als Sohn des 1915 verstorbenen AEG-Gründers Emil Rathenau war Walther Rathenau einer der reichsten Männer Deutschlands. Er war Präsident der Allgemeinen Electricitäts-Gesellschaft (AEG) und hatte Zutritt beim Kaiser. Als Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium dirigierte er während des ersten Weltkriegs die Schlüsselindustrien der deutschen Wirtschaft. In der Weimarer Republik war er zweimal Minister und hatte noch andere politische Positionen inne. Er kann also als führender Repräsentant des deutschen Großkapitals gelten. Zugleich entsprach er aber gar nicht dem üblichen Bild eines Wirtschaftskapitäns, der außer Profit und Marktanteilen nichts im Kopf hat. Sein Intimfeind, der RWE-Herrscher Hugo Stinnes, hat diesen Mangel an Koofmich-Mentalität instinktsicher erfaßt, indem er als Rathenaus größte Schwäche seine "zu ästhetische Einstellung allem gegenüber" bezeichnete (1).

Im Kaiserreich vertrat Rathenau jenen Flügel der herrschenden Kreise, der anstelle der aggressiven Eroberungspläne der "Alldeutschen" auf die wirtschaftliche Überlegenheit des deutschen Kapitals innerhalb des mitteleuropäischen Wirtschaftsraumes setzte. Ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkriegs warnte er eindringlich vor der heraufziehenden, durch die Flottenrüstung gegen England beschleunigten Konfrontation mit allen anderen europäischen Großmächten. Nachdem der Krieg nicht mehr zu verhindern war, stellte er sich aber ebenso entschieden in den Dienst des Versuches, die Ziele des deutschen Imperialismus mit militärischen Mitteln zu erreichen. Die von ihm geleitete Kriegsrohstoffabteilung entstand als staatlich dirigierter Super-Konzern auf seine Anregung hin. Rathenau schreckte auch nicht vor dem Vorschlag zurück, die Belgier zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu deportieren. Als sich die militärische Niederlage abzeichnete, veröffentlichte er einen flammenden Appell gegen einen Waffenstillstand. Er forderte statt dessen die Fortsetzung des Kriegs durch eine "Erhebung des Volkes" - ähnlich dem "Volkssturm", mit dem am Ende des Zweiten Weltkriegs der Nationalsozialismus tatsächlich versucht hat, seinen endgültigen Zusammenbruch zu verhindern.

"Um die Diktatur, um den Sozialismus hat man uns betrogen!"

Derselbe Rathenau vollführt nach der Niederlage Deutschlands und Umwandlung des Kaiserreichs in eine Republik eine erstaunliche Wendung. Er beklagt nun in seinem Buch "Der neue Staat", daß die Arbeiterschaft um den Sozialismus betrogen worden sei:

Es ist kein Zweifel: das Volk ist tief enttäuscht; schlimmer: es fühlt sich betrogen.

Es fühlt: seit siebzig Jahren hat man unseren Vätern und uns die Revolution, die Diktatur des Proletariats, den Staat des Glückes und der Gerechtigkeit versprochen. Zwei Geschlechter sind in Zweifel und Hoffnung ins Grab gestiegen. Auch wir haben gezweifelt und gehofft, gezweifelt für uns, gehofft für unsere Kinder und Kindeskinder.

Wir haben die Hölle erlebt und sind nicht verzweifelt. Da wurde Licht im Osten.

Wir haben die Revolution gemacht, die Republik, die Diktatur des Proletariats, den sozialen Staat. Was ist es?

Nichts.

Wir haben mehr Lohn und können nicht mehr kaufen. Man sagt uns, und es scheint so, daß unser erhöhter Lohn die Wirtschaft zugrunde richtet. Wenn die Waren billiger werden, wird er also sinken müssen.

Was Reichstag hieß, heißt Nationalversammlung. Wo Bethmann saß, sitzt Scheidemann, wo Wilhelm thronte, thront Ebert, wo Ludendorff kommandierte, kommandiert Noske. Was geht uns das an? Es ist uns gleichgültig, ob unsere Machthaber bessere oder schlechtere Manieren haben, ob sie ihre Ämter ererben oder erreden.

In unseren Fabriken sieht es aus wie früher. Etwas verwahrloster, etwas ungezügelter, es wird weniger und lustloser gearbeitet. Die Reichen fahren spazieren und schwelgen in ihren Palästen, wir hungern und frieren in unseren Kasernen.

Wo bleibt der Mehrwert, der alle wohlhabend machen sollte? Wo bleibt unser Bestimmungsrecht in der Wirtschaft? Wo bleibt das Leben der Brüderlichkeit und Menschlichkeit? Es ist uns gleichgültig, ob die Zechen syndiziert werden und ob im Kohlensyndikat Beamte und Delegierte sitzen. Es kommt nicht darauf an, wer die Kohlen und wer die Elektrizität verteuert. Es ist glatter Schwindel, Sozialisierung zu nennen, was simple Fiskalisierung ist.

Demokratie! Wir wissen, daß der Bauer am Alten hängt, daß der Händler den Händler, der Katholik den Katholiken wählt. Nun sitzt in einem bürgerlichen Parlament eine verkappt bürgerliche Regierungsmehrheit. Marx hatte recht: nur die Diktatur des Proletariats konnte es schaffen, sie war der Kern des Sozialismus.

Um die Diktatur, um den Sozialismus hat man uns betrogen. Was übrigbleibt, ist eine Bürgerrepublik, mit Herren von sozialistischer Vergangenheit an der Spitze. (2)

Rathenau schreibt zwar einleitend, daß sich das Volk betrogen fühle: Die hinter dem Doppelpunkt folgenden Ausführungen werden dann aber so apodiktisch und unter häufiger Verwendung des gemeinschaftsstiftenden Wortes "unser" vorgetragen, daß enttäuschtes Volk, Verfasser und Leser zu einer Einheit verschmelzen.

Damit erinnert dieses Zitat an Pamphlete, wie sie auch die Anfänge der NSDAP bestimmten: Der "Verrat", den die revolutionäre Arbeiterbewegung den SPD-Führern vorwirft, kommt plötzlich als Echo von rechts. Es wird ein "Sozialismus" eingefordert, der auf eine emotionale "Brüderlichkeit und Menschlichkeit" reduziert ist. Dafür wird die "Diktatur des Proletariats", auf die bereits Marx und Engels unter demokratischen Verhältnissen verzichten zu können glaubten, zum "Kern des Sozialismus" erklärt.

Man könnte Rathenau deshalb für einen hartgesottenen Demagogen halten, der sich zum Anwalt der Frierenden in den Mietskasernen aufwirft, während er selber höchst komfortabel am Schreibtisch seiner Villa im Grunewald oder seines Schlosses Freienwalde sitzt. Aus dem Munde des Großkapitalisten Rathenau muß es wie eine zynische Parodie des Zeitgeistes klingen, wenn er die Revolution in Rußland als Vorbild und Bundesgenossen für die soziale Umgestaltung der Verhältnisse in Deutschland empfehlt: "In Gemeinschaft mit Rußland und anderen Gebieten, die sich freiheitlich gestalten, werden wir die Träger des Geistes einer neuen Zeit sein." (3)

Immerhin gehört zur selben Zeit, da der Generaldirektor der AEG diese Sätze schreibt, der Geheimrat Felix Deutsch als Vertreter der AEG zu einem hochkarätigen Wirtschaftskreis um Hugo Stinnes, der 500 Millionen Reichsmark für die Propaganda der "Antibolschewistischen Liga" lockermachen möchte. Es ist kaum anzunehmen, daß Deutsch den AEG-Beitrag ohne Wissen und Billigung Rathenaus beisteuert. Die ganze Arbeit der "Antibolschewistischen Liga" ist aber darauf gerichtet, die Nachahmung eben jenes "freiheitlichen" russischen Modells zu verhindern, dem Rathenau hier seine Reverenz erweist. Außerdem gehört der AEG-Geheimrat Deutsch innerhalb dieses exklusiven Kreises zu den Bremsern, denen schon der "deutsche Sozialismus" des Chefpropagandisten Stadtler als demagogische Konzession an den Zeitgeist zu weit geht. Was müßte er da erst von den schriftlichen Auslassungen seines Generaldirektors halten?

Trotz oder gerade wegen dieser Widersprüche wird man Rathenau kaum absprechen dürfen, daß er seine Auslassungen bis zu einem gewissen Grad ernst meint. Gerade seine soziale Stellung spricht dafür: Ein Großbürger wie Rathenau hat es einfach nicht nötig, demagogische Traktate mit eigener Hand zu verfassen. Dafür gibt es ein Heer dienstbarer Geister, die aufgrund ihrer inferioren sozialen Stellung nicht nur glaubwürdiger wirken, sondern auch tatsächlich besser in der Lage sind, den realen Nöten und Sorgen der Bevölkerung eine demagogische Scheinlösung vorzugaukeln.

Bei Rathenau liegt der Fall anders. Hier denkt der Großbürger selbst. Er denkt nicht nur für sich und sein eigenes Interesse. Er versucht zumindest, das Gesamtinteresse seines Volkes zu artikulieren. Er scheitert dabei an der Unzulänglichkeit der äußeren wie der eigenen Voraussetzungen. Sein Ende ist tragisch. Die Schüsse der Mörder gelten weniger der Person als ihrer Denkweise. Sie signalisieren eine politische Weichenstellung, die nach dem Ende der wirtschaftlichen Stabilisierungsphase in den Nationalsozialismus führt. Der damalige Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) scheint das historische Verhängnis geahnt zu haben, als er nach der Ermordung Rathenaus im Reichstag ausrief: "Der Feind steht rechts!"


 

Einer der Briefe Wilhelm Schwaners an seinen Freund Walther Rathenau. Den Briefkopf zieren Hakenkreuze und das Motto: "Treu leben, todtrotzend kämpfen, lachend sterben!"
 

Im homoerotischen Dunstkreis der "Deutsch-Völkischen"

Rathenau erlebt die sozialen Widersprüche seiner Epoche über einen sehr individuellen Konflikt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei seine homoerotische Neigung. Es ist nicht bekannt, ob sich Rathenau jemals tatsächlich homosexuell betätigt hat. Die biographischen Einzelheiten lassen aber keinen Zweifel an der entsprechenden Veranlagung. Im ohnehin prüden Klima des wilhelminischen Kaiserreichs bedeutete manifeste Homosexualität das gesellschaftliche Todesurteil. Dem steht nicht entgegen, daß latente Homoerotik weit verbreitet war. Kaiser Wilhelm II. wies selbst homoerotische Züge auf. Die allgemeine Sexualunterdrückung und -heuchelei galt jedoch für homosexuelle Impulse in ganz besonderer Weise. Wie es einem Homosexuellen bei Bekanntwerden seiner Veranlagung ergehen konnte, illustriert der Fall des Fürsten von Eulenburg und Hertefeld, eines engen Vertrauten des Kaisers, dessen tiefer Sturz nur knapp an einer gerichtlichen Verurteilung vorbeiführte. Das kompromittierende Material gegen Eulenburg wurde von dem Publizisten Maximilian Harden in dessen Zeitschrift "Die Zukunft" veröffentlicht, für die auch Rathenau Beiträge verfaßte.

Rathenau hat somit allen Grund, seine Veranlagung zu verbergen und zu verdrängen. Der verschwiegene Konflikt larviert sich in ideologischer Form. Als zeitgemäßer Ausdruck verdrängter homosexueller Impulse bietet sich ihm der Kult um die germanische Rasse an, wie er im Dunstkreis der "Deutsch-Völkischen" und des Wandervogels gedeiht. So erklärt es sich, daß der Jude Rathenau nach 1914 sogar in intim-freundschaftlichen Kontakt mit Wilhelm Schwaner gerät, dem deutschvölkischen "Obmann des Bundes deutscher Volkserzieher", der seine Briefköpfe mit Hakenkreuzen und Runen zu verzieren pflegt. Er lädt auch führende Vertreter der Jugendbewegung zu Diskussionen in seine Villa ein. Einem Gerücht zufolge soll sich darunter sogar sein späterer Mörder Kern befunden haben, dem Rathenau, einer Bemerkung seines Biographen Harry Graf Kessler zufolge, "unbedingt vertraute".

"Höre Israel!"

Eine selbstquälerische Auseinandersetzung Rathenaus mit seiner jüdischen Abstammung kommt erstmals in dem Pamphlet "Höre Israel" zum Ausdruck, das er 1897 unter dem Anagramm W. Hartenau in der "Zukunft" veröffentlicht. Man darf vermuten, daß er sich dabei weniger mit seiner rassischen Abstammung als mit seiner unterdrückten homoerotischen Neigung auseinandersetzt. Bei seinem Freund Schwaner entspricht dem, daß er über den antisemitischen Schatten der Völkischen springt und den Juden Rathenau im "Volkserzieher" als Führer der Deutschen apostrophiert: "Da steht vor Dir in merkwürdiger Vereinigung der hohe König und hohe Priester der Juden und zugleich der Zukunftslehrer und -arbeiter der Deutschen." Damit ist Schwaner freilich, im Überschwang seiner intimen Beziehung zu Rathenau, zu weit gegangen. Der Wandervogel-Führer Otger Gräff hält ihm entgegen, daß es eine Schande wäre, wenn ein Semit den Retter des deutschen Volkes darstellen würde. (1)

Auf einer abstrakteren Ebene schlägt sich Rathenaus individueller Konflikt in einer eigenartigen Furcht-Mut-Theorie nieder, die er in seiner "Mechanik des Geistes" (1913) zum Ausdruck bringt (4). Der Furchtmensch ist der rassisch, sozial und geistig Minderwertige, der Mutmensch ist der in jeder Hinsicht Überlegene. Der Furchtmensch orientiert sein Denken und Handeln an Zwecken, der Mutmensch erhebt sich zu zweckfreiem Denken und Handeln. Die Seele ist zweckfrei, der Verstand zweckhaft. Die Seele nährt sich vom Lebensdrang, der Verstand von der Todesfurcht. Zum Furchtmenschentum gehört für Rathenau die bestehende, auf Profitgier des Kapitalisten und Existenznot des Proletariats gegründete Gesellschaft. Er übt teilweise sehr treffende Kritik an den Strukturen politisch-sozialer Herrschaft und an der zweckhaften Entäußerung der menschlichen Existenz unter dem Gesetz des Kapitals. Seine Kritik der Entfremdung ist allerdings nicht marxistisch inspiriert. Sie bezweckt vielmehr die Überwindung der sozialdemokratischen Ideologie, die er als Streben nach materiellem Wohlergehen der Massen versteht, das der kapitalistischen Profitgier verwandt sei.

Für den Großbürger Walther Rathenau, der materielle Not nie kennengelernt hat, steht das Problem der eigenen Entfremdung im Vordergrund. Im Unterschied zu seinem Vater oder einem despotischen Wirtschaftslenker wie Hugo Stinnes sah er den Sinn des Lebens nicht in der rastlosen Hingabe an den Zweck der Kapitalvermehrung: Emil Rathenau hätte nach dem Verkauf seiner Maschinenfabrik mit seiner Familie ein sorgenfreies und luxuriöses Leben führen können. Statt dessen investierte er das Geld in den Erwerb und die Auswertung der Edison-Patente. Er lebte ausschließlich für die von ihm gegründete AEG. Der Sohn Walther revoltiert gegen diese Lebensauffassung seines Vater. Er verachtet die Jagd nach Geld, weil er mehr als genug davon hat und den Preis kennt, der dafür entrichtet werden muß. Gleichwohl vermag er den Bannkreis seiner Klasse nicht zu durchbrechen. Die Revolte des einsamen Großbürgers endet in der Nähe der kleinbürgerlichen Reformgeisterei der Jahrhundertwende. Aufgrund seiner homoerotischen Veranlagung führt sie ihn sogar zeitweilig in die mythischen Gefilde des präfaschistischen Rassenwahns.

Rathenaus Schicksal ist ein ausgesprochen tragisches. Als Dissident seiner Klasse, seiner Rasse und seines Geschlechts scheitert er gleich dreifach. Seine persönliche Problematik ist nicht diejenige, welche Millionen bewegt. Nur da, wo es zu Überschneidungen kommt, zeigt sich Massenwirksamkeit. Den größten Erfolg hat Rathenau mit seinem 1916 veröffentlichten Buch "Von kommenden Dingen", das dem Geist des Wandervogels und anderer kleinbürgerlicher Reformgeisterei abgelauscht ist (5). Er entwickelt darin den Gedanken einer "Gemeinwirtschaft", in der das private Profitstreben dem Allgemeininteresse untergeordnet sein soll. Er fordert die Beschränkung des Erbrechts, radikale Besteuerung des Luxus, Ausgleich von Besitz und Einkommen, Hebung der Volksbildung, Mitbestimmung der Arbeiter, Beseitigung von Monopolen, Spekulationen und Müßiggang. "Im Staat darf und soll nur einer unangemessen reich sein: der Staat." Überall soll der Staat regelnd eingreifen, die Habsucht in die Schranken weisen und für den Ausgleich zwischen den Klassen sorgen.

Rathenaus Schrift wurde zum "meistgelesenen Buch jener Zeit". Soldaten führten es im Tornister mit sich und Wandervögel lasen es mit heißem Herzen. Ähnlich Friedrich Naumann inspirierte damit Rathenau eine ideologische Richtung, die durch Schlagworte wie "national-sozial", "deutscher Sozialismus" oder "Volksgemeinschaft" gekennzeichnet wird. Die Lektüre seines Buches hat unter anderen Otto Strasser, einen der späteren Führer der NSDAP, nachhaltig beeindruckt - was nicht so sehr gegen Rathenau als für Otto Strasser spricht, der sich schon 1930 mit Hitler entzweite und das "Dritte Reich" im Exil erlebte.

Im Unterschied zu Naumann war Rathenau kein Parteipolitiker, obwohl er als der bekannteste Politiker der DDP gelten kann. Trotz der Popularität seiner Schriften taugte er auch nicht zum Parteiideologen. Die Rolle des Wirtschaftslenkers und Staatsmanns fiel ihm mehr zu als daß er sie angestrebt hätte. Er war - im guten wie im schlechten Sinne - ein Idealist, ob er nun gemeinwirtschaftliche Vorstellungen entwickelte oder die Kriegsziele des deutschen Imperialismus verfocht. Seine Forderung, "daß alle Wirtschafts- und Gesellschaftskunde nichts ist als angewandte Ethik" richtete sich an sämtliche Parteien, wobei SPD und katholische Zentrumspartei diesem Ziel programmatisch noch eher entsprachen als die DDP. Andererseits teilte er nicht deren ideologische Begründungen. Beispielsweise blieb ihm die Sichtweise der Sozialdemokraten fremd, mit der er sich als Mitglied der Sozialisierungskommission auseinandersetzen mußte. Die Forderung nach Sozialpflichtigkeit des Eigentums trennte ihn freilich noch mehr von der DVP, in der Gustav Stresemann den rechten Flügel der ehemaligen Nationalliberalen und tonangebende Industrielle wie Hugo Stinnes um sich geschart hatte. Rathenaus Überzeugung, "daß Staat, Wirtschaft und Gesellschaft des Untergangs wert sind, wenn sie nichts andres bedeuten als Gleichsgewichtszustände gezügelter Interessen" (6) bedeutete eine klare Absage an ein rein wirtschaftsliberales Credo.

Und hier könnte die fortdauernde Bedeutung seines Werks liegen - in der ethisch inspirierten Auseinandersetzung mit einem dumpfen Neoliberalismus, der das Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zum Selbstzweck erhebt, statt sie als Mittel zum Zweck einer menschenwürdigen Gesellschaft zu begreifen. Ähnlich Naumanns "nationalem Sozialismus" bleibt sein Werk aber auch eine Mahnung, wie leicht ein vermeintlich "dritter Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus" auf Abwege führen kann.