Oktober 2023

231009

ENERGIE-CHRONIK


 

Die Kosten für den konventionellen Redispatch mit fossil befeuerten Kraftwerken (blau) explodierten 2022 von 594,5 Millionen Euro im Vorjahr auf rund 1,9 Milliarden Euro. Dieser Anstieg um 221 Prozent wurde jedoch keineswegs durch eine entsprechende Zunahme von Netzengpässen verursacht, sondern hauptsächlich durch die Turbulenzen auf dem Energiemarkt, die den Preis für Gas und andere Brennstoffe in bislang unerreichte Höhen katapultierten. Ganz anders verlief die Entwicklung bei der netzbedingten Abregelung von Erneuerbaren-Anlagen (rot): Hier lag der Anstieg der Kosten für die "Ausfallarbeit" unter dem der Mengen, weshalb sich die abgeregelte Gigawattstunde verbilligte. Ab Juni 2022 sind beide Instrumente zur Netzengpass-Überwindung im "Redispatch 2.0" vereinigt worden.

Netzengpässe kosteten im Vorjahr 4,2 Milliarden Euro

Die vorläufigen Gesamtkosten für die Bewältigung von Netzengpässen beliefen sich 2022 auf rund 4,2 Milliarden Euro. Sie liegen damit weit über dem bereits sehr hohen Niveau des Jahres 2021 mit 2,3 Milliarden Euro. Dies ergibt sich aus dem Bericht der Bundesnetzagentur zum Netzengpassmanagement im Gesamtjahr 2022, der seit Juli vorliegt (PDF). Von der genannten Summe entfallen 1,9 Milliarden auf den konventionellen Redispatch, 0,9 Milliarden auf die Reduzierung der Erneuerbaren-Einspeisung, 0,4 Milliarden auf Countertrading und 1 Milliarde auf Vorhaltung und Einsatz der Netzreserve.

Der enorme Anstieg ist vor allem auf die allgemeine Energiekrise zurückzuführen

Die Strommenge, die das Netz überforderte, belief sich 2022 auf rund 32.772 Gigawattstunden (GWh). Das waren 5.249 GWh mehr als 2021 und ein Anstieg um 19 Prozent. Die Kosten zur Überwindung der Netzengpässe stiegen dagegen um 1,9 Milliarden Euro oder um 83 Prozent. Die Kostenlawine lässt sich deshalb nur zum kleineren Teil mit einer entsprechenden Zunahme von Netzengpässen erklären. Weit stärker war der Einfluss der allgemeinen Energiekrise: Schon im zweiten Halbjahr 2021 hatte ein starker Anstieg der Gaspreise eingesetzt, der über einen fatalen Börsenmechanismus auch die Stromwirtschaft in völlig unverhältnismäßiger Weise belastete (siehe Hintergrund, Januar 2023). Im Dezember 2021 lag deshalb der durchschnittliche Großhandelspreis bei 221 Euro/MWh und hatte sich versechsfacht. Nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine erreichte er im August 2022 sogar 465 Euro/MWh und hatte sich verzwölffacht.

Konventioneller Redispatch wurde um 221 Prozent teuerer und "Ausfallarbeit" relativ billiger

In den ersten drei Monaten eines Jahres (blau) muss besonders viel Erneuerbaren-Strom wegen den noch immer nicht beseitigten Netzengpässen abgeregelt werden. Das liegt an den Windkraftanlagen, die dann besonders ergiebig sind. Im ersten Quartal 2023 war die abgeregelte "Ausfallarbeit" um fast neun Prozent höher als im Vorjahresquartal. Trotzdem waren die damit verbundenen Kosten um 23 Prozent geringer.

Die stark gestiegenen Brennstoffpreise für Gas, Kohle und Öl waren auch der wesentliche Grund, weshalb sich die konventionellen Redispatch-Kosten gegenüber dem Vorjahr von 594,5 Millionen auf rund 1,9 Milliarden Euro erhöhten. Das war ein Anstieg um nicht weniger als 221 Prozent. Die Kosten der "Ausfallarbeit", die sich aus der Reduzierung der Einspeisung von Erneuerbaren-Anlagen ergaben, stiegen dagegen nur um etwa 11 Prozent auf 0,9 Milliarden Euro. Zugleich erhöhte sich die abgeregelte Menge um rund 39 Prozent auf 8.071 GWh. Die Kosten pro Gigawattstunde waren deshalb um ungefähr ein Viertel niedriger als im Vorjahr.

Seit Juni 2022 erfasst "Redispatch 2.0" auch die Reduzierung der Erneuerbaren-Einspeisung

Der günstige Entwicklung der Kosten für die "Ausfallarbeit" ist auf die schon seit längerem beschlossene, aber erst im Laufe des Jahres 2022 wirksam gewordene Zusammenfassung der beiden Redispatch-Arten in den §§ 13 und 13a des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) zurückzuführen. Die Erwartung der Bundesnetzagentur, mit diesem "Redispatch 2.0" eine Kostenersparnis erreichen zu können, bestätigt sich damit. Bisher betrafen die von der Behörde vor elf Jahren erlassenen Bestimmungen nur den Redispatch mit konventionellen Kraftwerken (121109). Dagegen wurde die Abregelung von Erneuerbaren-Anlagen per "Einspeisemanagement" separat in den §§ 14 und 15 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) geregelt. Mit der Umstellung auf "Redispatch 2.0" entgehe den Anlagenbetreibern aufgrund des bilanziellen Ausgleichs durch den Netzbetreiber im Wesentlichen nur noch die sogenannte Marktprämie, bemerkt dazu die Bundesnetzagentur. Dies senke generell die Kosten für den finanziellen Ausgleich der Abregelung von Erneuerbaren-Anlagen. Vor allem mit Blick auf die neuerdings sehr hohen Strompreise falle die "Marktprämie" nicht sonderlich ins Gewicht.

Bei der flächendeckenden Einführung der Neuregelung hapert es noch

Die Zusammenführung beider Redispatch-Arten durch Streichung des "Einspeisemanagements" im EEG und Einführung einer entsprechenden Neuregelung im Energiewirtschaftsgesetz wurde bereits im April 2019 vom Bundestag beschlossen (190403). Die ab Oktober 2021 geplante Umsetzung verzögerte sich indessen wegen einer ganzen Reihe praktischer Probleme, die erst in kniffligen Verhandlungen zwischen Behörden- und Branchenvertretern angegangen werden mussten (221205). Inzwischen wurde das neue Konzept jedoch ab 1. März 2022 "zunächst im Testbetrieb und ab dem 1. Juni vollumfänglich" verwirklicht, wie es im Bericht der Bundesnetzagentur heisst. Das gilt allerdings wohl nur für den Bereich der Übertragungsnetzbetreiber, denn in einer am 7. September veröffentlichten Mitteilung stellte die zuständige Beschlusskammer 6 der Behörde fest, "dass eine flächendeckende Einführung des gezielten bilanziellen Ausgleichs auf Verteilernetzebene unter den derzeit geltenden Umständen auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist".

Brennstoffpreise und Nachbesserungen verteuerten Vorhaltung und Einsatz der Netzreserve

Bei der Netzreserve stiegen die Kosten für die Vorhaltung von 0,2 auf 0,4 Milliarden und für den Einsatz von 0,2 auf 0,6 Milliarden Euro. Diese Verdoppelung bzw. Verdreifachung hatte ebenfalls mit den Brennstoffkosten zu tun, aber auch mit den zusätzlichen Kosten für die ab Oktober 2022 kontrahierte ausländische Netzreserve sowie der Erhöhung der Mindestmengen an Kohle, die nach dem "Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz" (220705) vorzuhalten war.

Weniger Countertrading bei unverändert hohen Kosten

Beim Countertrading – einer kaufmännischen Redispatch-Variante, die mit kurzfristigen An- und Verkäufen von Strom Netzengpässe überbrücken hilft – war dagegen ein Rückgang der gehandelten Mengen von 8.550 auf 5.309 GWh zu verzeichnen. Das lag an den hohen Großhandelspreisen, die aber zugleich dafür sorgten, dass die Kosten mit 0,4 Milliarden Euro unverändert blieben.

Niedrigwasser, Strom-Exporte nach Frankreich, Sturmtiefs und andere Faktoren erhöhten den Redispatch-Bedarf

Die Bundesnetzagentur erhofft sich vom "Redispatch 2.0" eine spürbare Kostensenkung. Diese Grafik scheint eher das Gegenteil zu belegen. Der Schein trügt jedoch, da der 2022 erfolgte Kostenanstieg auf 112 Euro pro Megawattstunde hauptsächlich mit der Gaspreiskrise und den dadurch ausgelösten Verwerfungen am Strommarkt zu erklären ist. Deutlich werden diese noch immer andauernden Verzerrungen, wenn man die Redispatch-Kosten mit den Großhandelspreisen für Strom vergleicht: Von 2013 bis 2021 lagen die Kosten für Redispatch und Ausfallarbeit mit durchschnittlich 24 Euro/MWh um etwa 14 Euro unter dem langjährigen durchschnittlichen Großhandelspreis von etwa 38 Euro/MWh. Im Vergleich damit ist das erste Quartalsergebnis 2023 gar nicht so schlecht, denn es liegt mit 73 Euro/MWh um etwa 43 Euro unter dem durchschnittlichen Großhandelspreis, der in in diesen drei Monaten noch immer 116 Euro/MWh betrug.

Die von der Bundesnetzagentur ermittelte Zunahme der Netzengpässe um 19 Prozent auf 27.523 GWh ist nach Angaben der Behörde vor allem auf ein einige spezielle Faktoren zurückzuführen:

• Im ersten Quartal 2022 kam es zu zwei langen Niedrigwasserperioden. Aufgrund der niedrigen Pegelstände des Rheins konnten deshalb die Kohletransportschiffe nur mit reduzierten Kapazitäten fahren. Als Folge mussten mehrere Kraftwerken in Süddeutschland ihre Stromerzeugung verringern, was eine erhöhte Nord-Süd-Auslastung der Transportleitungen und dadurch einen zusätzlichen Bedarf an Redispatch zur Folge hatte.

• Da in in Frankreich zahlreiche Kernkraftwerke wegen Reparaturen oder Wartungsarbeiten nicht zur Verfügung standen, hatte dies hohe Stromexporte nach Frankreich zur Folge und führte zur Verschärfung der Ost-West-Lastflüsse.

• Die Abschaltung des Kernkraftwerks Gundremmingen C am 31.12.2021 führte zu einer starken Auslastung der durch Bayern und Württemberg verlaufenden Transportleitung. Dies machte vermehrten Redispatcheinsatz in der Regelzone von TransnetBW erforderlich.

• Mehrere Sturmtiefs im Februar 2022 sowie ein hohes Windaufkommen im April bewirkten eine hohe Windkrafteinspeisung mit einem daraus resultierenden Anstieg der Netzbelastungi.

• Im Zuge der Umsetzung des Redispatch 2.0 bewirkte der von einigen Netzbetreibern durchgeführte bilanzielle Ausgleich von abgeregelten EE-Anlagen im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg der Mengen für das Hochfahren von Kraftwerken, die als positiver Redispatch ausgewiesen werden. "Es handelt sich hierbei jedoch um einen gewollten Effekt", bemerkt dazu die Behörde. "Denn energiewirtschaftlich betrachtet geht es nicht um neue, sondern lediglich um erstmals sichtbare Strommengen. Im vorherigen System des Einspeisemanagements mussten sich die Bilanzkreisverantwortlichen für EE- und KWK-Strom selbst um Ersatzmengen für den abgeregelten EE- und KWK-Strom kümmern. Diese waren nicht als Redispatch-Mengen sichtbar. Im Zielmodell des Redispatch 2.0 kümmert sich hingegen der Netzbetreiber um einen gezielten bilanziellen Ausgleich, auch zugunsten abgeregelter EE- und KWK-Anlagen. Diese Umstellung steigert die volkswirtschaftliche Gesamteffizienz und senkt die Kosten für den finanziellen Ausgleich von EE- und KWK-Anlagen, führt jedoch zugleich zu einem Anstieg der sichtbar ausgewiesenen Redispatch-Mengen."

Von Januar bis März 2023 waren die Kosten um 27 Prozent geringer als im Vorjahresquartal

Zusammen mit dem Netzengpassmanagement-Bericht für das Gesamtjahr 2022 (PDF) hat die Bundesnetzagentur auch den Bericht für das erste Quartal 2023 (PDF) vorgelegt: Die vorläufigen Gesamtkosten beliefen sich demnach von Januar bis März auf rund 1,1 Mrd. Euro. Im Vergleich zum Vorjahresquartal ist das ein Rückgang um 27 Prozent. Diese Entwicklung ist einerseits auf den mengenmäßigen Rückgang und andererseits auf die gesunkenen Brennstoff- und Großhandelspreise zurückzuführen.

Die vorläufigen Einsatzkosten für Redispatchmaßnahmen mit konventionellen Anlagen beliefen sich auf rund 476 Millionen Euro. Im Vergleich zum ersten Quartal 2022 sind das rund 26 Prozent weniger. Die Kosten im Zusammenhang mit der Reduzierung der Einspeisung von Erneuerbaren Energien betrugen rund 300 Millionen Euro. Diese sind damit im Vergleich zum ersten Quartal 2022 um rund 23 Prozent zurückgegangen – und das trotz einer Zunahme der Ausfallarbeit um fast neun Prozent. Als Ursache des Rückgangs nennt die Bundesnetzagentur die gesunkenen Preise für die finanzielle Kompensation des bilanziellen Ausgleichs durch die Bilanzkreisverantwortlichen. (Für die Netzbetreiber, die den Redispatch 2.0 noch nicht vollumfänglich umgesetzt haben, wird der bilanzielle Ausgleich im Rahmen der 'BDEW-Übergangslösung' von den Bilanzkreisverantwortlichen selbst beschafft, die dafür eine finanzielle Kompensation vom Netzbetreiber erhalten.)

 

Links (intern)

zum Anstieg der Netzregelkosten

zur Verlagerung des "Einspeisemanagements" aus dem EEG ins EnWG

Links (extern, ohne Gewähr)