Menetekel USA

"Das vollendetste Beispiel des modernen Staates"

Die USA in der Sicht von Marx, Engels, Sombart und Kautsky

Im Unterschied zu Tocqueville hat Karl Marx nie die USA bereist. Auch Friedrich Engels konnte sich diesen langgehegten Wunsch erst 1888 erfüllen. Beider bevorzugtes Studienobjekt, was die kapitalistische Entwicklung betraf, war vielmehr England. Zwischen England und Deutschland bestand damals ein solcher ökonomischer Unterschied, daß Marx seine deutschen Leser noch 1867 im Vorwort zur ersten Auflage seines Hauptwerks "Das Kapital" vor der Illusion warnte, daß die von ihm untersuchte Produktionsweise typisch englisch sei. "Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft", stellte Marx fest (15).

Auf die Idee, daß es die USA sein könnten, die Europa das Bild der eigenen Zukunft zeigen, kamen beide Denker nicht. Sie nahmen wie selbstverständlich an, daß Europa den Schrittmacher bilde. - Und daß es hier wiederum England sei, das minder entwickelten Staaten den Weg zeige. Etwa Deutschland, aber auch Nordamerika, das damals erst vor etwa hundert Jahren den Status einer englischen Kolonie abgeschüttelt hatte.

Das heißt nicht, daß Marx die US-amerikanischen Verhältnisse unbekannt gewesen seien. Immerhin schrieb er zahlreiche Artikel für die "New-York Daily Tribune", um sich finanziell über Wasser zu halten. Bereits 1843, mit 25 Jahren, las er Tocquevilles Werk "De la democratie en Amerique". Zur selben Zeit las er ferner "Die Menschen und die Sitten in den Vereinigten Staaten von Nordamerika" von Th. Hamilton und "Marie ou l'esclavage aux Etats-Unis" aus der Feder des Tocqueville-Freundes Gustave de Beaumont (16). Tocquevilles Werk war ihm somit bekannt, bevor er sämtliche seiner grundlegenden Schriften verfaßte.

In der Einleitung zur "Deutschen Ideologie" von 1846 charakterisieren Marx und Engels die USA als die reinste Form der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: "Das vollendetste Beispiel des modernen Staates ist Nordamerika. Die neueren französischen, englischen und amerikanischen Schriftsteller sprechen sich alle dahin aus, daß der Staat nur um des Privateigentums willen existiere, so daß dies auch in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen ist." (17)

Die tatsächliche Entwicklungsrichtung verkannt

Ungeachtet solcher Einsichten blieben Marx und Engels dem Irrtum verhaftet, daß die soziale und politische Entwicklung in den USA sich derjenigen in Europa angleichen werde. In diesem Sinne äußerte sich Engels 1887 im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe seines (erstmals 1845 erschienenen) Buchs über "Die Lage der arbeitenden Klasse in England": Er verwies darauf, daß die Gesetze des Kapitalismus beiderseits des Atlantiks gleichermaßen Gültigkeit besäßen und somit der fortgeschrittenere Teil der kapitalistischen Welt dem zurückgebliebeneren dessen Zukunft vorzeichne (18). Diese Prämisse war richtig, doch verkannte Engels die tatsächliche Entwicklungsrichtung: Nicht die alte Welt, sondern die neue gab das Menetekel dafür ab, wie sich jener Kapitalismus entwickeln werde, den Marx und Engels am englischen Modell studiert hatten.

Engels falsche Erwartung war, ähnlich der "Verelendungstheorie" und anderen moribunden Bestandteilen der marxistischen Utopie, dem herrschenden, in diesem Fall euro-zentristischen Zeitgeist geschuldet. Auch die späteren Revisionisten bezweifelten eher die revolutionäre Perspektive als den Vorbildcharakter der sozialen Entwicklung in Europa. So gab Sombart noch 1906 auf die richtig gestellte Frage "Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?" die falsche Antwort, "daß alle Momente, die bis heute die Entwicklung des Sozialismus in den Vereinigten Staaten aufgehalten haben, im Begriffe sind, zu verschwinden oder in ihr Gegenteil verkehrt zu werden, so daß infolgedessen der Sozialismus in der Union im nächsten Menschenalter aller Voraussicht nach zu vollster Blüte gelangen wird." (19)

"Looking Backward" - eine sozialistische Utopie made in USA

Als Indiz für das Vordringen sozialistischer Ideen in den USA wurde vielfach der Erfolg gewertet, den der amerikanische Schriftsteller Edward Bellamy mit seiner Utopie "Looking Backward" erzielte (20). Der Roman handelt von einem Bostoner Bürger des Jahres 1887, der sich wegen seiner neurasthenischen Schlafstörungen regelmäßig von einem Hypnotiseur in einen künstlichen Schlummer versetzen läßt. Aus einem der so künstlich erzeugten Starrkrämpfe wacht er erst im Jahre 2000 wieder auf. Er erfährt zu seiner großen Verwunderung, daß der Kapitalismus inzwischen von selbst, ohne die geringste Gewalttätigkeit, einzig unter dem Druck der öffentlichen Meinung, in eine quasi sozialistische Gesellschaft zum Wohle der ganzen Nation überführt wurde. Sein 113 Jahre währender Schlaf beginnt im krisengeschüttelten Mai 1887 - also just zu dem Zeitpunkt, da Engels im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe seines Buches den Beginn einer sozialistischen Bewegung in den USA zu erkennen vermeinte.

Bellamys utopischer Roman erschien erstmals 1888 und wurde ein langanhaltender internationaler Erfolg. Er wurde in nahezu alle Sprachen der Welt und als "Ein Rückblick aus dem Jahre 2000" auch mehrfach ins Deutsche übersetzt. "Das Marxsche 'Kapital' ist diesem Interpreten des Sozialismus absolut unbekannt geblieben", kritisierte der sozialdemokratische Parteitheoretiker Karl Kautsky kurz nach Erscheinen des englischsprachigen Originals. Schaden anrichten könne das Buch aber auf keinen Fall. Es entspreche eben dem rückständigen Bewußtsein der amerikanischen Arbeiter. Die Oberflächlichkeit des Autors sei sicher auch darauf zurückzuführen, daß er die Literatur des "modernen wissenschaftlichen Sozialismus" und die deutsche Arbeiterbewegung nicht kenne. "Theoretisch völlig naiv, dürfte er gerade deswegen auf naive Gemüter besonders kräftig wirken, also propagandistisch bei den amerikanischen Arbeitern eine gewisse Bedeutung erlangen, deren theoretischer Sinn, wie gesagt, noch brachliegt." (21)

Bellamys Utopie begeisterte jedoch keineswegs bloß das amerikanische Publikum. Sie wurde in Deutschland sogar vom sozialdemokratischen Dietz-Verlag veröffentlicht und war bis 1900 der wohl am meisten gedruckte Roman in der sozialdemokratischen Presse. Dieser Erfolg paßte so gar nicht zu Kautskys herablassendem Urteil. Er zeigte, daß der Wind der Geschichte nicht von der alten zur neuen Welt, sondern in umgekehrter Richtung blies; daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts jene Kräfte, die in England die Arbeiterbewegung frühzeitig in reformistische Bahnen drängten und in den USA eine vergleichbare Bewegung gar nicht erst aufkommen ließen, nunmehr auch auf dem europäischen Kontinent wirksam wurden.

Weiter: Verlust des Tragischen