Sehn-Sucht: 26 Essays zur Dialektik von Nostalgie und Utopie

Vorwort


Versuch eines Fazits

Der Glaube, auf das Prinzip Hoffnung verzichten zu können, ist vielleicht nur die bornierteste aller Hoffnungen

In der Schweizerkrankheit des Heimwehs manifestierte sich bereits dieser neue Mensch, wie er im vorigen Kapitel skizziert wurde und der nicht mehr nach einem göttlichen Heilsplan, sondern in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit lebte. Wichtiger als die himmlische heimôti, für die einst die Kreuzfahrer alles im Stich ließen, wurde die irdische Heimat, der sich die Schweizer Söldner wehmütig erinnerten. Und zumindest in den reformierten Kantonen durften sie damit auf Verständnis hoffen: Die Wissenschaft, die inzwischen immer mehr die Theologie verdrängte, exkulpierte ihr Leiden als die neue Krankheit nostalgia.

Zunehmend deutlichere Konturen erlangte die moderne Nostalgie in der Sehnsucht nach Arkadien,welche die Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert begleitet. Arkadien war das, was unter dem Einfluß der Aufklärung vom irdischen Paradies übrig blieb: Ein rein psychischer Topos, der vom Gemüt in vollen Zügen genossen werden konnte, obwohl ihm der Verstand die Realität absprach. Dieser psychische Topos lag örtlich und zeitlich im Nirgendwo. Er war Selbstzweck, weckte keine Gedanken an gesellschaftliche Veränderung, erhob nicht mal den Anspruch auf gewesene Existenz. Was er trotzdem an utopischem Sehnen konservierte, setzte erst die französische Revolution frei.

Als psychischer Topos zehrte Arkadien vom alten Mythos des Paradieses, des Goldenen Zeitalters, den schon Vergil in seinen Hirtengedichten beschwor und den Milton mit seiner Elegie vom Paradise lost erneuerte. Je mehr das ursprüngliche religiöse Vorbild verblaßte, desto plastischer mußten die Hilfsmittel werden, um diesen Traum aufrechtzuerhalten. Zur Dichtung, also zur bloßen Assoziationskraft des Wortes, gesellte sich deshalb die Malerei, die den arkadischen Gefilden zu zweidimensionaler Gestalt verhalf. Die Ideal-Landschaften auf der Leinwand lieferten ihrerseits die Vorlage für die Ideal-Landschaften im dreidimensionalen Arkadien des englischen Gartens. Noch vollkommener, noch dinglicher, war die Illusion Arkadiens nicht herstellbar.

Die palladianische Villa des englischen Gartens, an die der Rasen des irregulären Parks unmittelbar heranreichte, verwies mit ihrer Symmetrie auf einen Menschen, der sich körperlich wie geistig im Gleichgewicht befand. Die Gesamtanlage, der Kontrast zwischen symmetrischer Architektur und Irregularität des "natürlichen" Parks, symbolisierte die harmonische Einbettung des Menschen in die Natur und des Individuums in die Gesellschaft. Sie war die Apotheose des bürgerlich-liberalen Gesellschaftsideals mit gärtnerischen Mitteln. Sie war zugleich eine großartige Selbsttäuschung über die tatsächlichen Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Diese Widersprüche deuteten sich bereits im Scheitern der ornamented farm an, mit der die ganze Landschaft in ein einziges Arkadien verwandelt werden sollte. Die Idee, den Gegensatz zwischen Nützlichem und Schönem, zwischen Arbeit und Muße, den ganzen Fluch der Arbeitsteilung, überwinden zu können, hatte etwas naiv-utopisches an sich.

Die Utopie, wie sie der frühe und auch noch der klassische englische Garten zum Ausdruck brachte, verfiel im selben Maße, in dem das Bürgertum zur tatsächlich herrschenden Klasse avancierte und deshalb an Utopien, die stets über das Bestehende hinausweisen, nicht mehr interessiert sein konnte. Nicht mehr die Verwandlung der ganzen Landschaft in ein einziges Arkadien stand nun zur Debatte, sondern detaillierte Anleitungen, wie sich Fabriken und andere störende Elemente dem Blick entziehen lassen, um beim Gang durch den Park die Illusion nicht zu gefährden.

Der englische Garten des Spätstils tendierte immer mehr zum Nostalgischen, zu dem von Goethe verspotteten Kult der Empfindsamkeit: Die psychischen Stimuli verwiesen nicht mehr auf die Utopie einer harmonischen Gesellschaft, sondern auf die Flucht vor der Realität ins Pittoreske, ins Exotische, in die isolierte Sensation. Das psychische Erlebnis wurde zum Eskapismus. In der Überzeugung des Gartentheoretikers Gilpin, eine palladianische Villa werde erst schön, wenn man sie mit dem Hammer bearbeite und in eine Ruine verwandele, manifestierte sich die Selbstzerstörung des früheren Ideals.

Im gothic revival triumphierte die neue Lust am Irregulären, Irrationalen. Der Eskapismus genügte sich selbst. Es spielte keine Rolle, daß Walpoles Strawberry Hill sich nur lose an mittelalterliche Vorbilder anlehnte. Nicht das reale Mittelalter war gefragt, sondern eine Wunschzeit. Die Leichtgläubigkeit der Zeitgenossen, die einem Thomas Chatterton und James Macpherson ihre nostalgischen Fälschungen so begierig abnahmen, ja geradezu nahelegten, erklärt sich von daher. Trotzdem blieben diese Fälschungen ambivalent: In die mittelalterlichen Phantasien, die sich Thomas Chatterton ausdachte, ging die Trostlosigkeit seiner eigenen Situation und im Protest dagegen ein Stück Utopie mit ein. Macphersons Ossian wurde auf dem Kontinent offensichtlich anders rezipiert als in Großbritannien: In seinem Ursprungsland war der Ossian ein verkappter Konservativer, der in keltischer Kostümierung die längst zurückliegenden Kämpfe der englischen Revolution, die heroische Zeit des Bürgertums besang. Auf dem Kontinent wurde der nostalgische Singsang weniger elegisch aufgefaßt. Man hörte hier ein neues heroisches Zeitalter heraus. Der keltische Barde kündete hier nicht von vergangener, sondern von noch bevorstehender bürgerlicher Revolution.

Eindeutig nostalgischen Charakter hatte hingegen die Burgen-Romantik, in der das "gothic revival" von England auf Deutschland übergriff. Der Wiederaufbau der Rheinburgen und die Errichtung von Märchenschlössern versinnbildlichte die Restauration von Thron und Altar nach dem Wiener Kongreß und den enttäuschten Hoffnungen der Befreiungskriege. Nicht ganz so eindeutig war allerdings die begleitende Romantik des Altdeutschen, die sich zu einem guten Teil aus den ossianischen Mythen nährte. Caspar David Friedrich malte damals sein Bild von den Kreidefelsen auf Rügen: Während sich der bürgerliche Spießer mit Zylinderhut verzagt am Rande des Abgrunds festklammert, steht ein Mann mit altdeutschem Barett furchtlos auf den Klippen, den Blick sinnend in die utopische Weite des Meeres gerichtet...

In der Nostalgie werden utopische Hoffnungen aber nicht nur zurückgedrängt. Zugleich erneuern sich in ihr diese utopischen Hoffnungen. So kann die Entdeckung und Verehrung der Antike, die an der Wiege der Neuzeit steht, als eine großartige Nostalgie begriffen werden: Sie war die erneuerte Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter, die sich zeitweilig in der christlichen Erlösungslehre verpuppt hatte. Sie löste dieses Goldene Zeitalter vom Reich Gottes, das die Kirche inzwischen ins zeitlos-überirdische entrückt hatte, und verpflanzte es wieder auf die Erde zurück. - Zunächst nur in die antike Vergangenheit oder in den zeitlosen Topos Arkadiens, aber die Verlegung des Goldenen Zeitalters in die Zukunft war darin schon latent inbegriffen und der Wille zur Verwirklichung nur suspendiert.

Ohne den Rückgriff auf die Antike wäre auch die Reformation nicht denkbar gewesen. Sie war die Gegenbewegung zum Auseinanderfallen dieses neuen, an der Antike orientierten Weltgefühls mit der tradierten Religion, das sich schon seit dem 13. Jahrhundert in den gegenläufigen Bewegungen humanistischer Gelehrsamkeit und mystischer Frömmigkeit abzuzeichnen begann. Sie war der Versuch, die Einheit von Glauben und Wissen wiederherzustellen. Ihr Vorhaben, das Weltliche wieder zu vergeistigen, lief aber ebenso auf eine Verweltlichung des Geistigen hinaus. Die Reformation stand damit am Anfang aller weltlichen Utopien, die sie freilich wider Willen intendierte: So entstand die nostalgische Utopie von den Rosenkreuzern erst durch die Ausgrenzung chiliastischer Strömungen aus der protestantischen Theologie. Die Phantasmagorie der Rosenkreuzer war, wie später der Pietismus, ein Protest gegen die Wandlung zur obrigkeitlichen Staatskirche. Sie war ein Protest gegen den Verrat am nunmehr verinnerlichten Reich Gottes und der Einheit von Glauben und Wissen. In der Figur des Christian Rosenkreutz wurden die uneingelösten Hoffnungen der Reformation in die Vergangenheit projiziiert und zugleich - im angeblich fortdauernden Wirken des Geheimbundes der Rosenkreuzer - bis in die utopische Zukunft einer Generalreformation verlängert.

Verweltlicht wurde nunmehr auch die religöse Utopie vom dritten Reich. Im Mythos vom bergentrückten Kaiser Barbarossa bekam sie eine eher nostalgische Note, im aufklärerischen Enthusiasmus des neuen Evangeliums bei Lessing oder Heine behielt sie ihre utopische Tendenz. Beide Traditionslinien setzen sich bis ins 20. Jahrhundert fort und vermischen sich teilweise: So ist in den vormärzlichen Hoffnungen auf einen Kaiser, der fürstlicher Kleinstaaterei und Sklaverei ein Ende macht, durchaus aufklärerisches Gedankengut enthalten (obwohl für die Verwirklichung dieser Idee - wie Heine bei seiner imaginären Inspektion des Waffenarsenals unter dem Kyffhäuser bemerkt - die Zahl der Schlachtrösser nicht ausreicht und sie deshalb nur mit Eseln zu realisieren ist). Noch im "dritten Reich" Moeller van den Brucks ist die Reichsromantik mit einem Hauch des "neuen Evangeliums" durchsetzt - kein Wunder, denn schließlich soll es mit der kommunistischen Utopie konkurrieren, die dieses Evangelium in seiner bis dahin überzeugendsten und geschichtsmächtigsten Gestalt vertritt.

Es wäre kurzsichtig, die weltliche Utopie bloß für einen säkularisierten Abklatsch, ein Surrogat des religiösen Glaubens zu halten und von "Religionsersatz" zu sprechen. Der Schweizer Theologie Walter Nigg hebt in seinem bemerkenswerten Buch über "Das Ewige Reich" zu Recht hervor, daß das Prinzip Hoffnung nicht an die christliche Religion gebunden sei, sondern in wechselnden historischen Erscheinungsformen auftrete. Der weltliche Chiliasmus sei kein bloßes Surrogat des religiösen Chiliasmus, sondern dessen legitimer Nachfolger. Entsprechend sieht Nigg in zeitgenössischen religiösen Chiliasten wie den "Zeugen Jehovas" nur sterile, geistig tote Reste, die im Schandwinkel der Sekten dahinkümmern, bereits veramerikanisiert sind und oft ans Psychopathische grenzen. Den wahren Erben des joachimitischen Chiliasmus entdeckt er dagegen in der kommunistischen Utopie, die tatsächlich als die gewaltigste Form des Chiliasmus im letzten Jahrhundert bezeichnet werden müsse.

Obwohl die kommunistische Utopie nicht ganz das Ende des 20. Jahrhunderts erreicht hat bzw. allenfalls noch, ähnlich den Zeugen Jehovas, irgendwo im "Schandwinkel der Sekten" dahinkümmert, erweist sich die Prognose des protestantischen Theologen als sehr hellsichtig: Auch mit der kommunistischen Utopie - so gibt er in seinem 1944 erschienenen Buch zu bedenken - habe das Prinzip Hoffnung keinen Abschluß gefunden: Der chiliastische Zug aber fährt weiter. Die Erfassung des Mythos wird sich weiter wandeln. Auch der kommunistische Marxismus wird nicht seine letzte Ausprägung sein, sondern wieder von anderen abgelöst werden, die dem Wesen einer späteren Zeit mehr entsprechen werden. 1

Ein halbes Jahrhundert später, nach dem endgültigen Zusammenbruch der kommunistischen Regimes, wirkt diese Prophezeiung recht aktuell. Es geht dabei nicht allein um den Bankrott des sogenannten Marxismus-Leninismus und die geistige Obdachlosigkeit seiner ehemals gläubigen Anhänger. Viel gravierender ist die Krise des westlichen Bewußtseins - von der Linken bis zu den Konservativen - , das auf vertrackt-dialektische Weise mit der Staatsreligion im Osten zusammenhing. Erst jetzt wird den Westeuropäern jene geistige Leere und Orientierungslosigkeit bewußt, die sie früher zwar gelegentlich unter dem Stichwort amerikanische Zustände problematisierten, die aber in Wirklichkeit längst ihr eigenes Problem war.

Endzeit-Stimmung also, und es sieht so aus, als ob das zweite Fin de siècle noch allerlei ausbrüten werde. Die Chancen für neue Heilsbringer sind längerfristig glänzend. Die Frage dabei ist nicht so sehr, ob und wann neue Chiliasten, Nostalgiker und Utopisten auftreten werden. Sie werden gewiß kommen, da das Prinzip Hoffnung zur condition humaine gehört. Es geht eher darum, in welcher Gestalt sich der Geist der Utopie erneuern wird, den die "marxistisch-leninistische" Dogmatik schon lange getötet hatte, bevor sie selbst zusammenbrach.

Momentan sieht es eher noch aus aus, als sei das Prinzip Hoffnung außer Kraft gesetzt. Utopien aller Art werden belächelt oder sind geradezu verdächtig. Die Postmoderne - inzwischen selbst überholt - hat das Ende der grand récits und eine kunterbunte Vielfalt der unterschiedlichsten Ansichten verkündet. Ausgeklammert hat sie dabei aber alle Utopien, die ihrer Natur nach aufs Ganze gehen und deshalb zum postmodernen Warenhaus des Geistes wie der Fuchs zum Hühnerstall passen. Auch wer bloß an die Unaufhebbarkeit des Prinzips Hoffnung glaubte, wie seinerzeit Ernst Bloch, mußte damit rechnen, von den Ideologen der Ideologielosigkeit zum geistigen Wegbereiter des "Totalitarismus" erklärt zu werden.

Ein Blick auf die gesellschaftliche Realität zeigt indessen, daß sich das Prinzip Hoffnung bereits wieder regeneriert: Seinen Nährboden bildet gerade eine weitverbreitete Hoffnungslosigkeit, die sich selbst für Realitätssinn, Illusionslosigkeit oder gar Aufgeklärtheit hält. In das geistige Vakuum strömen "new age", esoterischer Mumpitz, Spleens und Sekten aller Art und eine Flut psychologischer Ratgeberliteratur. Viele der Hoffnungslosen greifen auch zwanghaft nach Drogen, obwohl ihnen deren Risiko genau bekannt ist. Es grassieren diffuse Ängste, Paniksyndrome, depressive Verstimmungen und psychosomatische Erkrankungen. Inmitten einer Kultur, die eine Fülle materiellen Reichtums wie nie zuvor bietet, macht sich eine trostlose, verzweifelte Grundstimmung breit, die an die Endzeit des römischen Imperiums oder auch das Mittelalters erinnert.

Das verkündete Ende aller Utopien vermag vor diesem Hintergrund nicht zu überzeugen. Der Glaube, auf das Prinzip Hoffnung verzichten zu können, scheint eher Symptom als Lösung der Krise zu sein. Er ist vielleicht nur die bornierteste aller Hoffnungen.

Anmerkungen