Sehn-Sucht: 26 Essays zur Dialektik von Nostalgie und Utopie

Vorwort


Elegie der Kindheit

Wie ein Kunsthistoriker seine persönliche Nostalgie als "Verlust der Mitte" auf die Kunst der Neuzeit projizierte

Es ist nicht unbedingt alles "Wissenschaft", was als solche daherkommt. Oft ist es eher der Zeitgeist im wissenschaftlichen Gewand. Zum Beispiel würde heute niemand mehr das Heimweh mit dem Luftdruck begründen oder als Quelle für Wahnsinn und Verbrechen ansehen. Auch der Psychoanalytiker, der das Heimweh weiterhin mit der unbewußten Sehnsucht nach der Brust der Mutter oder dem Penis des Vaters begründen wollte, würde wenig Anerkennung finden.

Als Beispiel für die Virulenz von Nostalgie in der Wissenschaft soll hier ein berühmtes Buch des Kunsthistorikers Walter Sedlmayr dienen, das kurz nach dem zweiten Weltkrieg erschien und den angeblichen "Verlust der Mitte" in allen Bereichen der Kunst beklagte. 1 Sedlmayr glaubte feststellen zu können, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa eine innere Revolution von unvorstellbaren Ausmaßen eingesetzt habe, von der die französische Revolution nur ein sichtbarer Teilvorgang gewesen sei. Damit beginne die geistig-künstlerische Krise der Gegenwart und träten auf dem Gebiet der Kunst Erscheinungen auf, die es nie zuvor gegeben habe. Mit so großer symbolischer Kraft sprechen sie von Erschütterungen im Inneren der geistigen Welt, daß es einmal unverständlich erscheinen wird, daß die Betrachtung der Kunst nicht sogleich alles verraten hat.

Sedlmayr veranschaulichte seine These vom "Verlust der Mitte" mit etlichen, im Bild beigefügten Beispielen: Die früheste Dekadenz sah er im Landschaftsgarten, der die Grenze zwischen Kunst und Natur verschwimmen lasse. Es folgten dann Beispiele aus der Architektur. Für besonders symptomatisch hielt er etwa die um 1778 entstandene Idee des Revolutionsarchitekten Ledoux, ein "Haus der Flurwächter" als Kugel zu errichten. Die Fortsetzung dieser bedenklichen Tendenz sah er in Schinkels Projekten, Klenzes "Walhalla", den frühen Glas-Eisen-Konstruktionen des 19. Jahrhunderts, im historisierenden Baustil und schließlich in der Bauhaus-Moderne. Eine ähnliche Linie zog er in der Malerei von Flaxman über Turner, Goya, C. D. Friedrich, Daumier, Delacroix, Grandville, Ensor, Cézanne, Seurat, Picasso, Schiele, Kokoschka, Grosz, Dali und Rodin bis zu Maillol.

Sedlmayr sprach den dekadenten Tendenzen keineswegs künstlerische Berechtigung und Ausdruckskraft ab. Er verwendete dann aber doch die Metapher von einem Krankheitsverlauf, der sich in mehrere Schübe unterteilen lasse. Die psychische Verfassung, die den "Verlust der Mitte" bewirke, charakterisierte er mit den Worten: Verstand und Gefühl, Verstand und Triebe, Glauben und Wissen, Herz und Kopf, Leib und Geist, Seele und Geist werden auseinandergerissen und zu Widersachern erklärt. Der Wunsch, sie in Vereinigung zu halten, wird, wie die Mäßigung überhaupt, als Lauheit verschrien.

Als Ursachen der Krise denunzierte Sedlmayr intellektuellen Hochmut und intellektuelle Verzweiflung, die Verlegung des Schwerpunktes menschlicher Geistestätigkeit in die Zone des Anorganischen oder ein Sich-Versperren nach "Oben". Die Krise zeige anthropologisch-kosmologischen Charakter. Es sei deshalb falsch, ihre wesentliche Ursache in den wirtschaftlichen oder sozialen Verhältnissen zu erblicken. Eine solche Erklärung sei selber nur Symptom der Krise, indem sie unfähig sei, sich über die untere Ebene der Weltbetrachtung zu erheben. Sedlmayr hoffte stattdessen auf eine spirituelle Revolution, damit Angst, Melancholie und Entfremdung weichen und der Heiterkeit Platz machen. Mit Nietzsche sei er der Überzeugung, daß seit etwa 1770 eine Abnahme der Heiterkeit zu bemerken sei und daß diese Verdüsterung, diese pessimistische Färbung des gesamten Lebensgefühls der Aufklärung angelastet werden müsse. Entsprechend erhoffte er sich die Genesung des Zeitgeistes von unwiderleglichen Demonstrationen der Tatsache, daß der Traum vom autonomen Menschen verhängnisvoll und zerstörerisch war.

Einige Jahre später eröffnete Sedlmayr die neue Taschenbuchreihe "rowohlts deutsche enzyklopädie" mit einer Polemik gegen Die Revolution in der modernen Kunst. Er kritisierte erneut die Vorherrschaft des anorganischen Geistes und des Ästhetizismus und warnte davor, sich der faktisch siegreichen Revolution dieses Geistes als etwas Unabänderliches zu konformieren. Andernfalls drohe der Untergang: Wir behaupten, daß dieser Geist, perennierend geworden, nicht nur die Natur und die Kultur zersetzen würde (...) sondern jedes menschenwürdige Dasein überhaupt; daß er es geistig und seelisch zerstören würde, bevor sein stolzestes Produkt, die Atombombe, es auch physisch vernichtet.

Offenbar vermißte Sedlmayr in der Kunst seit Ende des 18. Jahrhunderts eine Harmonie, die er in den vorausgegangenen Epochen, einschließlich Renaissance und Barock, noch zu finden vermeinte. Er trauerte einem vermeintlichen Goldenen Zeitalter der Kunst nach. Im Epochen-Vokabular der Kunstgeschichte gemahnt seine "verlorene Mitte" am ehesten an die "Klassik", während jene Kräfte, die den Verlust bewirken, der "Dekadenz" entspringen.

Sedlmayrs Bücher waren damit dem restaurativen Zeitgeist auf den Leib geschrieben. Sie standen in der Tradition jener Polemik gegen die angebliche "Entartung" der Kultur, mit der ein halbes Jahrhundert zuvor der Schriftsteller Max Nordau seinen gleichnamigen Bestseller bestritt. Für nicht wenige Leser dürfte Sedlmayrs christlich-konservativer Rundumschlag bis ins 18. Jahrhundert denn auch den alten Vorwurf der "Entartung" (oder gar des "Kulturbolschewismus") ersetzt haben, der durch den Nationalsozialismus inzwischen kompromittiert war.

Dennoch würde man es sich zu einfach machen, Sedlmayrs Ansichten als konservativ-restaurative Stimmungsmache abzutun. Der "Verlust der Mitte" ist, trotz aller Schwächen, ein sehr ernsthafter, ernstzunehmender und noch heute lesenswerter Versuch, in der Kunst die Zeichen der modernen Entfremdung zu deuten. Sedlmayrs Fachwissen als Kunsthistoriker kompensiert teilweise die Schwächen seines ideologischen Ansatzes. Zu seinen bemerkenswerten Einsichten gehört die Abfolge jeweils führender Aufgaben in der Kunst: Zunächst die Verlagerung von der Kirche zum Schloß (oder vereinzelt zum Rathaus); später dann vom Landschaftsgarten über "architektonisches Denkmal", Museum, Theater und Ausstellung zur Fabrik. Über Rang und Reihenfolge im einzelnen läßt sich streiten. Der grundlegende Gedanke, daß zu verschiedenen Zeiten wechselnde künstlerische Aufgaben im Vordergrund stehen und den Geist der Epoche repräsentieren, ist aber des Nachdenkens wert.

Dafür versagt der Blick des Fachmanns in frappanter Weise bei der historischen Eingrenzung jener Entfremdung, die er - an sich legitim und naheliegend - in der neuzeitlichen Kunst zu deuten versucht. Sedlmayr scheint derart auf die Aufklärung im geistig-philosophischen Sinn fixiert zu sein, daß er die künstlerische Antizipation dieser Aufklärung durch Renaissance und Barock vollkommen ignoriert. Für ihn beginnt der "Verlust der Mitte" mit dem Aufstand gegen das Barock; künstlerisch in Form des Rokoko, politisch durch die englische "Revolution auf kaltem Wege" und die französische Revolution. Die vorangegangene, noch tiefere Krise, die zur Erstarrung und Zersetzung der Renaissance im Manierismus führte, ist für ihn nur eine vorübergehende Beeinträchtigung des Goldenen Zeitalters der Kunst. Er übersieht so das früheste und eindrucksvollste Menetekel jener neuen Entfremdung, die mit Beginn der Neuzeit die alte, religiös gewirkte Entfremdung der Feudalgesellschaft zu überlagern und abzulösen begann.

Der Kunsthistoriker Arnold Hauser hat dem Manierismus eine ausführliche Arbeit gewidmet. Er hebt darin hervor, daß sich die Krise der Renaissance nur mit einer neuen Entfremdung erklären lasse: Die Menschen fühlen sich auf einmal von allem, was ihrem Leben bisher Sinn und Ziel verliehen hat, wie abgeschnitten, von allem, was ihnen vertraut war, getrennt und entfernt. Sie mögen auch früher von strengen Mächten beherrscht gewesen sein, jetzt stehen sie plötzlich fremden Mächten gegenüber. Fremd ist ihnen die eigene Arbeit geworden, die sie nach immer mechanischeren Methoden vollziehen; an die Stelle der patriarchalischen, wenn auch nicht immer geradezu harmlosen Herrschaftsverhältnisse sind der unpersönliche Markt und die unerforschliche Konjunktur getreten. 2

Überzeugend legt Hauser dar, daß der Manierismus, der früher nur als "Spätrenaissance" gesehen wurde, ein eigenständiger, antithetisch angelegter Stil war. Noch mehr: daß er die erste große Revolution der neuzeitlichen Kunstgeschichte darstellt, sozusagen das Urbeben all jener Erschütterungen, die Sedlmayr als "Verlust der Mitte" beklagt. Die Negation der Renaissance durch den Manierismus ist demnach das Vorbild aller späteren Negationen: des Barock durch das Rokoko, des Klassizismus durch die Romantik, des Biedermeiers durch den historisierenden Eklektizismus oder des Jugendstils durch die Moderne. Parallel zum künstlerischen Ausdruck lassen sich dabei geistige Negationen erkennen: des Humanismus durch die Reformation, der Aufklärung durch die Empfindsamkeit, der Klassik durch Sturm und Drang, des Sturm und Drangs durch die Romantik, der vormärzlichen "Tendenz" durch die Restauration oder des Kraft-und-Stoff-Glaubens in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Neu-Idealismus im Fin de siècle.

Das hieße aber, daß jene "Krankheit", die nach Sedlmayrs Ansicht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausbrach, eine Krankheit der Kunst vom Beginn ihrer Emanzipation an war. Der Virus lauerte demnach bereits in der Renaissance, als sich die Kunst von der religiösen Bevormundung befreite und überhaupt erst zur Kunst im neuzeitlichen Sinne wurde. Schon die Werke Michelangelos, Raffaels oder Botticellis wären demnach "krank" gewesen - eine These, mit der Sedlmayr natürlich nur Spott geerntet und die er deshalb weit von sich gewiesen hätte.

Die Blindheit des renommierten Kunsthistorikers erklärt sich zum Teil aus seinem altfränkischem Idealismus. Er glaubte ebenso an die Autonomie der Kunst wie an die des Geistes. Daß die Kunst an das herrschende Bewußtsein und dieses wiederum an die herrschende materielle Kultur gebunden sein könnte, paßte nicht in sein christlich-religiöses Weltbild. So machte er den Überbringer der Botschaft für deren Inhalt verantwortlich. Er sah in der Kunst des vorrevolutionären Zeitalters die vermeintlich heile Welt des christlichen Abendlandes und verkannte dabei, daß diese Welt längst gründlich unterminiert war; daß der Sündenfall des metaphysischen Sinnverlusts nicht erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte, sondern in der Neuzeit und ihrem Bewußtsein schlechthin angelegt war.

Wichtiger noch als der restaurative Zeitgeist dürfte aber eine sehr persönliche Nostalgie gewesen sein: Was Sedlmayr als "Verlust der Mitte" beklagte, war offenbar eine Elegie der eigenen Kindheit, die der 1896 geborene Kunsthistoriker nicht nur individuell auf der Sonnenseite der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch historisch in der sprichwörtlichen belle époque erlebte.

Bestätigt wird diese Vermutung durch die inzwischen erfolgte Veröffentlichung von Sedlmayrs Lebenserinnerungen. 3 Vollendet hat er allerdings nur die Schilderung seiner Kindheit. Für den Rest ist es bei Entwürfen geblieben. Sedlmayr hat seiner Elegie den programmatischen Titel Das goldene Zeitalter verliehen. Dem goldenen Zeitalter der Kindheit sollten unter dem Titel Das silberne Zeitalter die Erinnerungen des jungen Mannes folgen, dem das Reich der Kunst gleichsam als Ersatz für den Zauber der Kindheit dient. Im dritten Teil der Memoiren waren die Erfahrungen des Erwachsenen als Das eherne Zeitalter vorgesehen. Im vierten und letzten Teil der Lebenserinnerungen wollte Sedlmayr dann mit der Reife und Abgeklärtheit des Alters die Rückkehr zum goldenen Zeitalter beschwören, mit dem Untertitel Fülle der Zeit oder Neuer Himmel und neue Erde.

Wie aus diesen autobiographischen Berichten und Skizzen Sedlmayrs hervorgeht, ersetzte für den jungen Mann die Kunst das goldene Zeitalter der Kindheit. Als zweite Wahl, als silbernes Zeitalter, war dieses Kunstinteresse nostalgisch geprägt. Es wurde getragen von der Sehnsucht nach einer Zeit, die sowohl persönlich durch das Größerwerden wie auch historisch durch die Erschütterung des ersten Weltkriegs unwiederbringlich verloren gegangen war. In die Phase des Erwachsenen, das "eherne Zeitalter", fiel dann der zweite Weltkrieg mit einer noch tiefergehenden Erschütterung des Glaubens an die Gegenwart. Auch in der Kunst ging nun vollends das Gute, Wahre und Schöne im überkommenen Sinne verloren. Dies war die Situation, in der Sedlmayr den "Verlust der Mitte" beklagte.

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