Sehn-Sucht: 26 Essays zur Dialektik von Nostalgie und Utopie

Vorwort


Nostalgie

Die erstaunliche Karriere eines Kunstworts, das zunächst nichts anderes als Heimweh bedeutete

Die heutige Nostalgie-Welle ist nicht die erste. Schon Anfang der siebziger Jahre wurden die Bundesrepublik und andere Länder von einer scheinbar neuartigen geistigen Stimmung ergriffen: Allenthalben keimte die Sehnsucht nach altem Krimskrams. Vorausgegangen war die Neuentdeckung des Jugendstils, den kunstsinnige Sammler längst aus seiner jahrzehntelangen Verfemung erlöst und rehabilitiert hatten. Die neue Sucht nach Vergangenem sprengte jedoch alle Grenzen und schlug alle Rekorde. Sie warf sich auf den Jugendstil nicht minder wie auf Opas Grammophon, Papas Volksempfänger, Omas Spitzendeckchen, vergilbte Fotografien, Biedermeier, Gründerzeitliches, Art déco, Möbel, Bücher, Bilder, Vasen, Gläser, Lampen und sonstigen Trödel. Antiquitätengeschäfte, die bis dahin eher spärlich anzutreffen waren, sprossen nur so aus dem Boden. Es war, als sei die Sturm-und-Drang-Periode der Studentenbewegung jäher Resignation und Rückwärtsgewandtheit gewichen. 1

Das Phänomen schien so neu, daß es zunächst sogar an einem Wort dafür fehlte. Das heißt, das passende Wort war so gut wie unbekannt. Bis dahin fristete die "Nostalgie" nämlich ein unbeachtetes Dasein. In manchem Lexikon wurde sie nicht einmal erwähnt. Selbst der Große Brockhaus des Jahres 1971 beschränkte sich auf die knappe Auskunft: Heimweh, Sehnsucht nach Rückkehr; auch: Sehnsucht nach Vergangenem.

Ehrlich gesagt war mir das Wort bis vor kurzem nur aus dem Titel eines Tangos bekannt, gestand 1973 ein Kunstkritiker. Inzwischen sind Wort und Inhalt, wie man so sagt, ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, spätestens seit der "Spiegel" darüber sogar eine Titelgeschichte veröffentlicht hat. 2

Nostalgie ist Utopie-Ersatz, befand zur selben Zeit der ehemalige APO-Rebell Günter Maschke, der inzwischen seinen Frieden mit dem Establishment geschlossen hatte. Am Herdfeuer der Utopie kann sich niemand mehr wärmen – also flüchtet man zurück zu jenen Augenblicken, als die Verwirklichung der Utopie nahe gerückt schien – wobei die damaligen Realitäten, tatsächlichen Umstände und Möglichkeiten meist unbehandelt bleiben. 3

Genau besehen waren allerdings schon in der Studentenrevolte nostalgische Elemente enthalten. Vordergründig war ihr Blick auf die Vergangenheit von Verachtung und Abscheu bestimmt: Unter den Talaren - der Muff von tausend Jahren! Unverkennbar nostalgisch war aber schon die Parole: Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten; wer hatte recht - Karl Liebknecht! Die Kostümierung vieler studentischer Rebellen im Revoluzzer-Look sprach ebenfalls Bände, so daß der bereits zitierte Kunstkritiker eine linke Nostalgie seit Mitte der sechziger Jahre glaubte feststellen zu können: Sie sehen aus wie Eisner und Mühsam, sprechen von "Karl und Rosa", als wären Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ihre Intimfreunde, sie lesen Engels und Lunatscharski wie heutige Autoren, blättern in Benjamin wie ihre Vorväter in der Bibel, und man hat ganz den Eindruck, als sei Vorstellungswelt wie Vokabular (das jedem Arbeiter völlig unverständlich bleiben muß) auf 1848 oder die goldenen zwanziger Jahre zugeschnitten.

Tatsächlich ist die Nostalgie, die anfangs der siebziger Jahre so plötzlich entdeckt und vom Staub der Wörterbücher befreit wurde, ein schon lange vorhandenes und weitverbreitetes Phänomen gewesen. Im Grunde tritt sie bereits in der antiken Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter und in der religiösen Elegie des Paradieses auf. Zugleich wird in der Nostalgie auch ihr Gegenpol, die Utopie, konserviert, so daß sich Nostalgie und Utopie als kommunizierende Röhren des Prinzips Hoffnung vorstellen lassen, mit dem einst Ernst Bloch das psychologische Grundgesetz der menschlichen Natur umreißen zu können glaubte.

Im engeren Sinn, als diffuse Melancholie und Sehnsucht nach Zuständen der Vergangenheit, ist die Nostalgie allerdings ein Phänomen der Neuzeit. Das Mittelalter kannte solche Sehnsüchte nicht. Sie traten erst auf, als das Mittelalter selbst zum Objekt solcher Verklärung wurde. Dies geschah schon relativ früh im Ritter-Roman der späten Renaissance: Schon im 16. Jahrhundert war die Ritter-Rüstung ein Kostüm, das Rittertum eine in der Wirklichkeit nirgends gelebte, illusionäre Lebensform, die Ritterdichtung eine literarische Mode. 4

Mit noch größerer Vehemenz bahnte sich in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine nostalgische Verklärung alles Mittelalterlichen an. Diesem gothic revival entsprang in der Literatur die gothiv novel als Urahn der Ritter-, Schauer- und Gespenstergeschichten. Je nach Parteistandpunkt erschien dabei das Mittelalter mehr in den rosigen Farben einer heilen aristokratischen Welt oder im düsteren Licht der Inquisition. Beide Lager, den Tory wie den Whig, verband jedoch die Faszination durch eine imaginäre Vergangenheit, wie sie Horace Walpole mit seinem 1765 erschienenen Schauerroman Das Schloß von Otranto inaugurierte und später besonders der Schotte Walter Scott in einer Flut von historischen Romanen auszumalen verstand.

Aus lauter Nostalgie ließ sich damals mancher gutbetuchte Engländer ein sham castle errichten, eine Pseudo-Ritterburg, die nichts als eine steinerne Attrappe war. Auch in der Literatur entstanden solche Blendwerke, die angebliche Texte aus dem Mittelalter darstellten und leichtgläubig als solche aufgenommen wurden, obwohl sie bei genauerem Hinsehen leicht als Fälschungen zu erkennen waren. Das wohl eindrucksvollste Beispiel für die verbreitete Flucht aus einer tristen Realität in die Nostalgie bietet der Knabe Thomas Chatterton (1752 - 1770), der zahlreiche Dokumente und Gedichte angeblich mittelalterlichen Ursprungs fabrizierte und damit zumindest die Bürger seiner Heimatstadt Bristol narrte, bevor er aus Verzweiflung Selbstmord beging. Die folgenreichste Fälschung produzierte der Schotte James Macpherson (1736 - 1796) mit seinem Ossian.Dabei handelte es sich um die angeblichen Gesänge eines Barden aus keltischer Vorzeit, die Macpherson in den schottischen Highlands entdeckt zu haben vorgab. Diese nostalgische Fälschung düpierte die gesamte damalige gebildete Welt. Sie galt als literarisches Jahrhundertereignis. So hat Goethe ganze Passagen des Ossian in seinen Werther übernommen und für den ersten Nachdruck in Deutschland eigenhändig das Titelblatt radiert. Herder ließ sich sogar noch auf dem Totenbett aus dem Ossian vorlesen (wir werden noch ausführlich auf diesen grandiosen Schwindel zurückkommen).

Unverkennbar nostalgisch sind auch der Weltschmerz und die blaue Blume der deutschen Romantik. Im Unterschied zum englischen gothiv revival und auch zu Frankreich sucht die deutsche Romantik nicht eine Gestalt, sondern eine Melodie, keine einzelne Form, sondern ein unendliches Sehnen, und soll sie den Gegenstand ihrer Sehnsucht benennen, so wählt sie Ausdrücke wie "ein geheimes Wort", "eine blaue Blume", "Zauber der Waldeinsamkeit". 5

Von Nostalgie war jedoch bei alldem keine Rede, obwohl es sich zweifellos um solche handelte und obwohl es das Wort schon seit Ende des 17. Jahrhunderts gab. Die Nostalgie war nämlich ursprünglich ein medizinischer Begriff. Sie bezeichnete nichts anderes als Heimweh. Sie galt somit nicht einer zeitlich, sondern einer räumlich rückwärtsgewandten Sehnsucht.

Das Wort nostalgia wurde von dem eidgenösssischen Arzt Johannes Hofer als humanistisch-gelehrte Neuschöpfung aus den griechischen Wörtern nostos (Heimkehr) und algos (Schmerz) zusammengefügt. Hofer verwendete es in einer medizinischen Abhandlung über das Heimweh, die 1688 unter dem Titel Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe erschien.

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verweist Meyers Konversationslexikon zum Stichwort Nostalgie lakonisch auf das deutsche Stichwort Heimweh. Folgt man der Duden-Etymologie, so wurde der Begriff Nostalgie sogar bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nur im Sinne von Heimweh gebraucht. Erst dann sei er unter dem Einfluß der angloamerikanischen nostalgia im Sinne der Sehnsucht nach Vergangenem auch im Deutschen allgemein üblich geworden. 6

Hinter diese Auskunft darf allerdings ein Fragezeichen gesetzt werden. Richtig ist wohl, daß sich die Nostalgie als Modewort der siebziger Jahre primär aus angloamerikanischen Quellen speiste. Die englische nostalgia war im 18. Jahrhundert von dem schottischen Arzt William Cullen aus der Hoferschen Abhandlung übernommen und als Fachausdruck für home sickness (Heimweh) in die Medizin eingeführt worden. Nach dem ersten Weltkrieg erfolgte dann eine Ausweitung und Popularisierung dieses Begriffs im Sinne von Sehnsucht nach Vergangenem. Zu den frühesten Belegen gehört der Roman "The lost girl" (1920) von D. H. Lawrence, in dem von der Sehnsucht nach der heidnischen Vorzeit (nostalgia of the heathen past) die Rede ist. 7

Erheblich früher hatte sich jedoch im Französischen ein Bedeutungswandel des Wortes vollzogen. In Frankreich war die nostalgie seit 1769 als medizinischer Fachausdruck für die maladie du pays (später mal du pays) übernommen worden. Aber schon 1843 gebrauchte Balzac das Wort im Sinne einer unbestimmten Melancholie und Langeweile. Als Sehnsucht nach Vergangenem taucht es 1879 bei dem Schriftsteller André Theuriet auf. Im Sinne eines diffusen, unbefriedigten Wunsches gebraucht es 1867 Baudelaire. In ähnlichen Schattierungen verwenden es 1866 H. F. Amiel, 1872 Théophile Gautier oder 1895 Joris-Karl Huysmans. 8

Das heißt, daß die französische nostalgie spätestens seit dem Fin de siècle ihre exklusive Bedeutung im Sinne von Heimweh verlor und sich vom medizinischen Fachausdruck zum literarisch-psychologischen Terminus mauserte. Bei der überragenden Rolle, die damals noch französische Literatur und Kultur für das gebildete Deutschland spielten, konnte dieser Bedeutungswandel hierzulande nicht unbemerkt bleiben. Tatsächlich wurde etwa die nostalgie de la boue, die 1855 durch Emile Augiers Roman "Le Mariage d'Olympe" in Umlauf kam, sowohl im Deutschen wie im Englischen zum geflügelten Wort für geheime bürgerliche Lüste und Sehnsüchte nach ungehemmtem Ausleben des Triebhaften.

Damit bekam das Wort Nostalgie einen zwiespältigen Sinn: Zur Eindeutschung des lateinischen Wortes für Heimweh gesellte sich das buchstäblich identische französische Lehnwort, das von emotionaler Morbidität und Sittenverderbnis angekränkelt war. In den Fremdwörterbüchern vor dem ersten Weltkrieg wurde dieser Bedeutungswandel allerdings ignoriert und die Nostalgie noch immer exklusiv als Fremdwort für Heimweh erklärt. Man darf vermuten, daß die Verfasser dieser Fremdwörterbücher ebenso moralische wie sprachliche Puritaner waren und daß ihnen schon aus diesem Grund der "dekadente" Bedeutungswandel des Wortes suspekt war...

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