PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Klaus Knizia

Kreatitivät, Energie und Entropie - Gedanken gegen den Zeitgeist

Düsseldorf 1992: Econ-Verlag, 360 S., DM 49.80


Wenn Männer der Wirtschaft ein Buch schreiben, befassen sie sich in der Regel mit einem Problem ihrer Branche. Das Buch von Klaus Knizia, der nach 18jähriger Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender der VEW zum Jahreswechsel in den Ruhestand tritt, greift da höher. Es befaßt sich zwar durchaus mit Energieversorgung, aber in einem umfassenderen, erklärtermaßen philosophischen Zusammenhang. Knizia sieht im Energiebegriff den Schlüssel, um Natur- und Geisteswissenschaften wieder zueinanderfinden zu lassen.

Energie kann - streng genommen - nicht "verbraucht" werden. Nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik bleibt innerhalb eines geschlossenen Systems die Gesamtenergie unveränderlich. Was wir gemeinhin als Energieverbrauch bezeichnen, ist physikalisch gesehen etwas anderes, nämlich die Entwertung, Zerstreuung bzw. "Dissipation" von Energie. Jener Teil der Energie, der dabei nützliche Arbeit verrichtet, wird als Exergie (Nutz- bzw. Endenergie) bezeichnet. Der Rest, der nutzlos verlorengeht, als Anergie.

Entropie und Negentropie

Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik strebt Energie innerhalb eines geschlossenen Systems unaufhaltsam und unumkehrbar einem Zustand völlig gleichmäßiger Verteilung bzw. "Dissipation" zu. Naturwissenschaftler wie Kelvin, Helmholtz und Clausius haben daraus den Schluß gezogen, daß unser ganzes Universum - als geschlossenes System betrachtet - einem solchen Ausgleich aller energetischen Unterschiede zustreben und deshalb irgendwann im "Wärmetod" enden werde. Clausius prägte 1865 den Begriff "Entropie", um den Grad an Dissipation von Energie bezeichnen zu können. Boltzmann erweiterte diesen Begriff zu der Vorstellung, daß die gesamte Natur dazu tendiert, von Zuständen höherer Ordnung zu Zuständen geringerer Ordnung überzugehen. In diesem Sinne ist Entropie der Verfall von Strukturen höherer Ordnung, angefangen von der Struktur der Moleküle bis hin zum wirtschaftlich-sozialen Gefüge.

Diese Vorbemerkungen sind unerläßlich, um den Titel des Buches sowie die damit verbundenen Schlußfolgerungen verstehen zu können. Auch "Kreativität" - neben Energie und Entropie das dritte Ingrediens des Titels - läßt sich in dem hier verwendeten Sinne nur aus der Thermodynamik verstehen: Gemeint ist damit die "Negentropie", eine der Entropie entgegenwirkende Dimension von Energie. Negentropie ist gewissermaßen die höchste Form der Exergie und bildet die Voraussetzung für deren sinnvolle Nutzung. Zum Beispiel war es Kreativität im Sinne von Negentropie, welche die Menschheit zur Erfindung von Dampfmaschinen, Flugzeugen oder Computern befähigte. Aber auch alle Organismen verdanken ihre Existenz der Negentropie, bis sie vom Tod als Zustand maximaler Entropie ereilt werden. Negentropie bedeutet zugleich, daß ein Zustand höherer Ordnung an der einen Stelle mit Vermehrung der Entropie an anderer Stelle erkauft wird. Damit haften dem Begriff gewisse sozialdarwinistische Interpretationsmöglichkeiten an, die beispielsweise die einseitige Konzentration von Negentropie in der hochindustrialisierten Welt als unvermeidliches Ungleichgewicht erscheinen lassen könnten. Sozusagen eine Erblast: Schon der Entropie-Begriff verdankte einiges den Anregungen durch Darwins Evolutionstheorie.

Eine interessante (bei Knizia nicht erwähnte) geistesgeschichtliche Spur führt vom Negentropie-Begriff zu der vitalistischen, auf Aristoteles zurückgehenden Ansicht, daß jeder Organismus eine innere, angeborene Lebensenergie besitze. Dieser spirituelle Energie-Begriff ist von Helmholtz durch den Nachweis widerlegt worden, daß auch der menschliche Organismus alle Energie von außen schöpft. Es scheint, als könne er in Gestalt der Negentropie auf eine naturwissenschaftliche Teil-Rehabilitierung hoffen.

Knizia sieht die Negentropie und die daraus resultierende Kreativität im Zusammenhang mit der von Prigogine beschriebenen Selbstorganisation von Systemen, die offen für Energiefluß und weit vom thermodynamischen Gleichgewicht entfernt sind. Was wir als Leben bezeichnen, ist demnach ein hochkompliziertes Netzwerk aus "dissipativen Strukturen", in dem jeder Teil auf das Ganze zurückwirkt und das ein "deterministisches Chaos" bildet. Vor allem aber steht und fällt dieses Netzwerk mit der Zufuhr an Energie, die in Exergie bzw. Negentropie umgesetzt werden kann.

Folgerichtig gibt es kein Leben, keine Schöpfung und keine Schöpferkraft ohne Energie. Auch die Erde wäre ein lebloser, im thermodynamischen Gleichgewicht verharrender Himmelskörper, wenn ihr nicht ständig durch die Strahlung der Sonne Energie zugeführt würde. Erst durch das Sonnenlicht konnten die dissipativen Strukturen des Lebens entstehen - von der Flora und Fauna bis zu den hochorganisierten Gebilden menschlichen Wirtschaftens und Zusammenlebens.

Für den Ausbau der Kernenergie

Bis zu diesem Punkt werden wohl die meisten Leser dem Verfasser beipflichten können. Knizias grundlegenden Ausführungen über Energie und Entropie muten auch gar nicht wie "Gedanken gegen den Zeitgeist" an - so der Untertitel des Buches - , sondern wie eine kenntnisreiche Zusammenfassung des gegenwärtigen Stands der Diskussion auf diesem Gebiet. Der Clinch mit dem Zeitgeist beginnt erst bei den Schlußfolgerungen. Knizia ist nämlich der Meinung, daß es der Forcierung der Kernenergie bedürfe, um den inzwischen erreichten Stand der Zivilisation aufrechtzuerhalten und ausbauen zu können. Bei fast allen erneuerbaren Energien seien Energiedichte und Erntefaktor so gering, daß ihre großtechnische Nutzung letzten Endes auf Energieverschwendung hinauslaufe. Da sich andererseits die Erschöpfung der fossilen Energieträger abzeichne, müsse auf die Kernenergie umgestellt werden, die von allen in Frage kommenden Arten der Energieversorgung mit der geringsten Entropie-Vermehrung verbunden sei. Besonders große Hoffnungen setzt Knizia auf Brüter und Hochtemperaturreaktoren. Den Gegnern der Kernenergie wirft er vor, naturgesetzliche Zusammenhänge zu verkennen: "Das komplizierte Ordnungssystem, in dem wir leben, gerät in Gefahr, es beginnt einen Mangel an Zufuhr von Negentropie zu spüren. Die Lebensfähigkeit wird durch jene behindert, die sie zu schützen vorgeben."

Auf einen kurzen Nenner gebracht: Wenn der erreichte wirtschaftlich-kulturelle Stand gehalten und weiter ausgebaut werden soll, führt kein Weg an der Forcierung der Kernenergie vorbei. Wer das nicht wahrhaben will, verschließt sich der Einsicht in die naturgesetzlichen Zusammenhänge zwischen Energie, Entropie und Negentropie.

Eine These, die Widerspruch erwarten läßt

Richtig an dieser Argumentation ist sicher, daß die industrielle Revolution erst durch die fossilen Brennstoffe möglich wurde, die ein riesiges Angebot an zusätzlicher Nutzenergie lieferten. Ebenso unstrittig ist, daß die fossilen Energieträger in absehbarer Zeit erschöpft sein werden und daß auch das CO2-Problem dazu zwingt, nach anderen Energiequellen Ausschau zu halten. In dieser Situation spricht, bei allen Risiken, etliches für die Nutzung der Kernenergie. Der Bau weiterer Kernkraftwerke ist aber derzeit nicht konsensfähig, zumindest in Deutschland. Es müßte deshalb in höchstem Maße alarmieren, wenn der Ausbau der Kernenergie zur Sicherung unserer Zivilisation quasi naturgesetzlich notwendig wäre und nur durch pure Ignoranz hinsichtlich der Folgen des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik unterbliebe. Zugleich würden damit die gegenwärtigen Bemühungen um einen neuen Energiekonsens insofern fragwürdig, als jeder Kompromiß notwendigerweise ein fauler Kompromiß wäre, denn er würde ehernen Naturgesetzen zuwiderlaufen.

Solche Schlußfolgerungen, die sich eher implizit als explizit aus dem Text herauslesen lassen, dürften nicht unbedingt den tatsächlichen Intentionen des Verfassers entsprechen. Andernfalls wäre mit Widerspruch zu rechnen, und zwar auch just von Anhängern der Chaostheorie, die sich ansonsten die Ausführungen über den Zusammenhang von Energie, Entropie und Negentropie völlig zueigen machen können. In ihrer Sicht ist es nämlich prinzipiell unmöglich, die Entwicklung hochkomplexer, dissipativer Strukturen vorherzusagen. Auch unsere Zivilisation ist in diesem Sinne nichts anderes als ein "determiniertes Chaos". Es müßte demzufolge offen bleiben, ob nicht gerade jene Negentropie, die Knizia mangels Kernkraftwerken bereits verkümmern sieht, noch andere Wege der Energieversorgung eröffnet.

Natur- versus Geisteswissenschaften

Knizia will mit seinem Buch ein Stück Aufklärung leisten. Er will jene Bürger ansprechen, "die nach einer realistischen Alternative zur Daseinsangst und aus ideologischem Blendwerk" suchen. Man spürt, wie er in seinem Element ist, wenn es um die naturwissenschaftliche Seite geht. Die Werke Boltzmanns, Ostwalds, Schrödingers, Eddingtons oder Prigogines kennt er wie seine Westentasche. Auf der geisteswissenschaftlichen Seite wird dagegen mit Zeitgenossen wie Popper und Jonas nur ein kleineres Fenster geöffnet. Knizia hält nicht viel von Philosophen, die sich dem Bereich "Utopien und Ideologien" zuordnen lassen. Er ist der Ansicht, "daß die Philosophen noch bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts auf der Höhe des naturwissenschaftlichen Wissens waren". Erst die danach einsetzende, ungeheure Ausweitung von Wissen habe zum "sichtbaren Bruch zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften" geführt. Eine Folge davon sei das verbreitete Unverständnis gegenüber Technik, das bis zur Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber technisch-wissenschaftlicher Denkweise gehe. Im Vorwort fordert er deshalb: "Die philosophische Deutung der Welt darf nicht mehr länger im Unverbindlichen ideologischer Wunschträume verbleiben. Sie hat sich an Fakten dieser unserer Welt zu orientieren, soll Philosophie nicht zu einem Geisterschiff werden, das die Ufer der Realität meidet."

Für die empfindsamen Ohren von Geisteswissenschaftlern dürften solche Sätze recht apodiktisch klingen. Die Aufforderung, "sich an Fakten dieser unserer Welt zu orientieren", könnte bei ihnen den Verdacht wecken, ihr Bereich solle den Naturwissenschaften ein- oder untergeordnet werden. Speziell die Kritiker des Neopositivismus werden argwöhnen, man wolle sie wieder mal zum Kotau vor Sir Popper nötigen. Die implizite Festlegung auf das neopositivistische Wissenschafts- und Weltbild schränkt den Dialog mit Geisteswissenschaftlern jedenfalls erheblich ein.

Die Bemühungen des Verfassers, die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden, bewegen sich in dem hier skizzierten Rahmen. Denjenigen, die Philosophieren für ein notwendigerweise transzendentales Geschäft halten, wird dieser Rahmen als zu eng erscheinen. Wer dagegen Wert auf ein "überschaubares Weltbild" legt, "das uns in die Zukunft trägt und das vor allen Dingen verständlich ist und Orientierung für das Handeln ermöglicht", kann solche Bedürfnisse in Knizias "Gedanken gegen den Zeitgeist" bestätigt finden. Unabhängig von der persönlichen Haltung des Lesers zu Knizias Plädoyer für den Ausbau der Kernenergie und seinen oft sehr pointierten Seitenhieben gegen Zeitgeist und Medien lohnt die Lektüre allein schon wegen jener Passagen, in denen der Verfasser seine hervorragende Sachkenntnis auf naturwissenschaftlichem und energiewirtschaftlichem Gebiet unter Beweis stellt.

(PB 12/92/*leu)