PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Klaus Meier, Karl-Heinz Strech (Hg.)

Tohuwabohu - Chaos und Schöpfung

Berlin 1991: Aufbau Taschenbuch Verlag, 309 S., DM 21.80


Gregor Morfill, Herbert Scheingraber

Chaos ist überall... und es funktioniert

Frankfurt/Main 1991, Verlag Ullstein, 301 S., DM 39.80


Peter Coveney, Roger Highfield

Anti-Chaos, der Pfeil der Zeit in der Selbstorganisation des Lebens

Hamburg 1992: Rowohlt Verlag, 464 S., DM 48.-


Für den Positivismus des 19. Jahrhunderts ließ sich die Welt stückweise wie ein Puzzle aus tausenderlei Scherben zusammensetzen. - Eine wissenschaftliche Leitvorstellung, die inzwischen ausgedient hat. Im Zusammenhang damit erfolgte die Erschütterung des naiven Determinismus und Realismus: Die Natur ist offenbar kein Räderwerk, das auf vorherbestimmte und vorhersehbare Weise abläuft. Sie gibt dem Wissenschafter, der sie zu ergründen versucht, auch nicht ihr "reales" Wesen preis - was immer das sein mag - , sondern antwortet in der Sprache und Begrifflichkeit, mit der an sie herangegangen wird.

Für Philosophen sind das alte Hüte: Die letztlich unerkennbare Natur ist bereits in Kants "Ding an sich" enthalten, und auf die grundsätzliche Beschränktheit der naturwissenschaftlichen Sichtweise hat bereits Hegel verwiesen. Allerdings waren das Hüte, die nicht so recht zum Habitus des Naturwissenschaftlers passen wollten. Seit Hegel, der mit der "Phänomenologie des Geistes", seinem ersten Hauptwerk, noch ausdrücklich "das Werden der Wissenschaft überhaupt" darstellen wollte, haben Geistes- und Naturwissenschaften immer mehr ihre eigene Sprache entwickelt. Wanderer zwischen beiden Welten wie Mach, Ostwald oder Heisenberg blieben die Ausnahme.

Die Chaostheorie läßt sich am ehesten vor diesem Hintergrund verstehen: Sie ist eine Antwort auf Defizite der naturwissenschaftlichen Sichtweise, die bislang nur mit dem Instrumentarium der Geisteswissenschaften zu fassen waren. "Sie entdeckt im Chaos das verlorengegangene Ordnungsprinzip der Natur wieder", wie der Wissenschaftstheoretiker Klaus Meier bemerkt.

Der Begriff "Chaos" hat dabei nicht die übliche Bedeutung eines völlig regellosen Durcheinanders. Die Chaostheorie geht vielmehr davon aus, daß auch im Chaos Gesetzmäßigkeiten herrschen. Dieses "determinierte Chaos" darf nicht mit dem rein zufälligen, stochastischen Chaos verwechselt werden. Allerdings sind seine Gesetzmäßigkeiten so verzwickt, daß sich die daraus ergebenden Folgen praktisch nicht mehr vorhersagen lassen und die kleinste Ursache die größte Wirkung haben kann. Das beliebteste Paradigma der Chaosforscher ist der Schmetterling oder die Möve, deren Flügelschlag über Brasilien einen Wirbelsturm in Texas auslösen kann...

Zu den Grundvorstellungen der Chaostheorie gehört, daß Chaos und Ordnung sich gegenseitig bedingen und enthalten: Im Chaos ist Ordnung und in der Ordnung ist Chaos. Die Strukturen des Chaos sind nicht-linear und deshalb unvorhersagbar. Sie sind irreversibel, also nicht umkehrbar. Von der Form her sind sie "fraktal", das heißt von unregelmäßiger Geometrie. Sie sind zugleich "selbstähnlich", was bedeutet, daß sie in allen Größenordnungen das gleiche Aussehen zeigen und das Muster des Ganzen noch in jedem Detail entdeckt werden kann. Sie verfügen schließlich über die Fähigkeit zur "Selbstorganisation" bzw. zu neuer Ordnung. Eine ganze Reihe weiterer Begriffe, vom "Attraktor" über die "Bifurkation" bis zur "Mandelbrot-Menge", runden das Begriffsarsenal der Chaostheoretiker ab.

Abseits aller Spezial-Begrifflichkeit und auf einen einfachen Nenner gebracht, besagt die Chaostheorie, daß die Welt halt doch ein bißchen komplizierter ist, als es sich die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts und auch noch die Positivisten des 19. Jahrhunderts vorgestellt haben. Dies dürfte sich inzwischen allerdings herumgesprochen haben. Da praktische Ergebnisse der Chaostheorie bisher nicht in Sicht sind - von ein paar hübschen "fraktalen" Computerzeichnungen abgesehen - stellt sich deshalb für Skeptiker die Frage nach dem Sinn oder wenigstens dem Anlaß des ganzen theoretischen Aufwandes.

Hoffnungen auf "Lebenshilfe" und "Neuorientierung der Wissenschaft"

Aufschlußreiche Antworten gibt hier das Taschenbuch aus dem Aufbau-Verlag, das Autoren aus dem ehemaligen Ost- und West-Berlin vereint und dessen Herausgeber als Wissenschaftstheoretiker in der ehemaligen DDR tätig waren: Klaus Meier nennt als Gründe für das besondere Interesse an der Chaostheorie "das übergangslose Zersetzen tradierter ideologischer Verbindlichkeiten, der Zusammenbruch eben noch funktionierender sozialer Zusammenhänge und die vielen erlebbaren individuellen menschlichen Orientierungskrisen in einer konfliktgeladenen Zeit". Er spricht davon, daß die chaostheoretischen Überlegungen "Lebenshilfe enthalten" könnten, da der Zusammenbruch von Ideologiegebäuden und der Verlust verbindlicher Leitorientierungen "in der Wissenschaftskultur nichts Außergewöhnliches" mehr sei. Er erwähnt schließlich die Hoffnungen auf eine "Neuorientierung der Wissenschaft, um zu einem wirklich naturverträglichen Stoffwechselprozeß, zu einem neuen Techniktyp zu gelangen".

Für Günter Kröber, ehedem Gründungsdirektor des Ostberliner Instituts für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft, birgt die Chaostheorie die Einsicht, "daß auch menschliche Gesellschaften schließlich nichtlineare dynamische Systeme sind". Sie wirke "einer Dogmatisierung innerhalb der Wissenschaften entgegen und erschwert ihren Mißbrauch in einer wissenschaftsgläubigen Gesellschaft" - eine Einsicht, die ihn zu SED-Zeiten gewiß die Karriere gekostet hätte, die aber aus der Sicht von Wessis nicht sonderlich aktuell wirkt.

Die westliche Gesellschaft kaut auf andere Weise am Verlust verbindlicher gesellschaftlicher Leitvorstellungen. Dies wird in einem Beitrag des Psychotherapeuten Thomas Kornbichler deutlich, der mittels der Chaostheorie sogar die sogenannte Tiefenpsychologie auffrischen möchte und in Diltheys Lebensphilosophie die "Wissenschaft vom Chaos" vorweggenommen sieht. Seiner Ansicht nach "könnte eine Verbindung neuzeitlicher naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit einem atheistischen Weltbild, wie es in den letzten Jahrhunderten (bis hin zu Nietzsche und Freud) geschaffen wurde, als Grundlage einer postmodernen Weltanschauung dienen".

Weitere Beiträge behandeln die "Darstellung chaotischer Strukturen auf dem Computerbildschirm", die "kreativen Potenzen des Chaos", die "energetischen Grundlagen des Lebens auf der Erde" oder "Erfahrungen im Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung". Es macht den Reiz dieses Taschenbuches aus, daß es sowohl in die Grundlagen der Chaostheorie einführt als auch deren zeitgeistiges Umfeld erahnen läßt - und das gleich gesamtdeutsch-doppelt, nämlich vor dem "gesellschaftlichen Erfahrungshintergrund" (Meier) von Ossis wie von Wessis. Das entschädigt auch für das manchmal penetrante Akademikerdeutsch der Autoren und die zahlreichen willkürlichen Silbentrennungen mitten im Text, die eine etwas "chaotische" Edition bezeugen.

Der diskrete Charme der Physik

Sprachlich und didaktisch gelungener wirkt das Buch "Chaos ist überall...", dessen Autoren am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik tätig sind. Klar, sachlich und präzise, dabei aber doch elegant, mit unterkühltem Witz und Sarkasmus, führen sie den Leser in die Grundlagen der Chaostheorie ein. Sie vermitteln zugleich etwas vom diskreten Charme, der die Physik über ihre fachlichen Grenzen hinaus für Intellektuelle so anziehend macht. Auch hier wird nichts geringeres als "ein neues Weltbild" versprochen, und ein guter Teil des Buches ist der Anwendung der Chaostheorie auf fiktive Wirtschaftsreformen gewidmet, bei denen etwas ganz anderes herauskommt, als die im "linearen" Denken befangenen Reformer erwartet haben. Die Autoren argumentieren jedoch immer vom Standpunkt des Physikers aus und behalten so die nötige Bodenhaftung. Die ausführlichen Wirtschafts-Szenarios dürften allerdings ein bißchen die Geduld von Lesern strapazieren, die sich nicht so sehr auf Formeln und Details einlassen möchten. Weitere, eher nachvollziehbare Anwendungsbeispiele betreffen Herzrhythmusstörungen, Verkehr, Wetter oder Sonnenflecken. Ein nützliches "Chaotisches Wörterbuch" beschließt den insgesamt sehr lesenswerten Band.

Die "Gerichtetheit von Zeit" und ihre Bedeutung für die "Selbstorganisation"

Beim dritten Buch mutet der Titel etwas willkürlich an. Jedenfalls muß man den Begriff "Anti-Chaos" erst im Stichwortverzeichnis nachschlagen, um die beiden Textstellen dingfest zu machen, an denen er tatsächlich erwähnt wird. Der englische Originaltitel "The Arrow of Time", der bei der deutschen Ausgabe in den Untertitel gerutscht ist, wird dem Inhalt gerechter. Es geht nämlich um die Bedeutung der Zeit für die Physik im allgemeinen und die Chaostheorie im besonderen. Für das Autorengespann - der eine Physiker, der andere Wissenschaftsjournalist - hat es auch Einstein nicht geschafft, die "Gerichtetheit der Zeit" zu erklären, da er seine Relativitätstheorie auf dem Kausalitätsprinzip aufgebaut und somit das deterministische Prinzip beibehalten habe. Dem "Zeitpfeil" aber komme eine entscheidende Rolle beim Entstehen von "Nichtgleichgewichtsstrukturen" und deren Fähigkeit zur Selbstorganisation zu, wie der Nobelpreisträger Ilya Prigogine im Vorwort schreibt. Dieser Zeitpfeil sei auch untrennbar verbunden mit der Entropie, die nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in einem geschlossenen System stetig zunimmt und damit der Zeit eine Richtung gibt.

Eine interessante Überlegung dieses Buches betrifft die seit über einem Jahrhundert kursierende Spekulation über einen unaufhaltsamen "Wärmetod des Weltalls". Die Autoren treten dieser Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik mit dem Argument entgegen, daß er die Fähigkeit von Nichtgleichgewichtsstrukturen zur Selbstorganisation außer acht lasse - denn eine solche Nichtgleichgewichtsstruktur sei unsere Welt sicherlich, solange sie das thermodynamische Gleichgewicht nicht definitiv erreicht habe.

Auch dieses Buch ist recht flüssig und im guten Sinne populärwissenschaftlich geschrieben. Seine besondere Stärke liegt darin, daß es den wissenschaftshistorischen Hintergrund der Chaostheorie miteinbezieht, indem es die Entwicklung der Physik von Newton bis Einstein Revue passieren läßt.

Was der Titel "Anti-Chaos" nun eigentlich bedeuten soll, erfährt der Leser allerdings nur beiläufig auf Seite 271, wo die Autoren davor warnen, sich von dem Modewort Chaos blenden zu lassen: "Ordnung und deterministisches Chaos haben denselben Ursprung: dissipative dynamische Systeme, die durch nichtlinerare Differentialgleichungen beschrieben werden. In sehr vielen Fällen sind die Bereiche der Ordnung, des Anti-Chaos, für die Biologie und das Leben wesentlich interessanter als die Bereiche des Chaos."

Es hat also schon seinen Grund, wenn die Wissenschaft sich bislang auf die Erforschung des "Anti-Chaos" beschränkte, statt auf das Chaos zu kaprizieren, dessen Erforschung in gewisser Weise einen Widerspruch in sich bedeutet. Möglicherweise steht die Chaostheorie vor demselben Problem wie die Hegelsche Dialektik, die bisher das vollendetste Deutungsmuster für hochkomplexe, nichtlineare, dynamische Systeme entwickelt hat - ohne deshalb mehr im Detail erklären und prognostizieren zu können, als was der Volksmund so umschreibt: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt...

Neue Paradigmen zur allseitigen Verwendung

Die Autoren aller drei Bücher verbindet, daß sie chaostheoretische Überlegungen nicht auf die Physik und andere Bereiche der Naturwissenschaften beschränken wollen. Vielmehr glauben sie, daß die Chaostheorie auch und besonders auf gesellschaftliche Strukturen angewendet werden könnte, sofern man diese als hochkomplexe Gebilde begreift, als "offene und in hohem Maße nichtlineare dynamische Systeme" mit einer "Vielzahl von Rückkopplungen und Konkurrenzmechanismen". Ob dabei praktische Ergebnisse herauskommen, bleibt abzuwarten. Bemerkenswert ist aber in jedem Falle, in welchem Ausmaße nunmehr die Physik in jene Breschen springt, die der Zusammenbruch traditioneller Denkmuster hinterlassen hat, und wie sie die neuen Paradigmen zur allseitigen Verwendung anbietet.

(PB 7/92/*leu)