PresseBLICK-Rezensionen "Elektrosmog"

Überzogene Grenzwert-Forderungen

Neitzke/van Capelle/Depner/Edeler/Hanisch

Risiko Elektrosmog?

Basel/Berlin 1994: Birkhäuser Verlag, 456 S., 150 Strichabbildungen, gebunden, DM 78.-

Unter dem Namen "Ecolog" gründete der Physiker H.-Peter Neitzke vor zwei Jahren in Hannover ein privates "Institut für sozialökologische Forschung und Bildung"). Als wichtigstes Arbeitsgebiet nannte er die Erforschung des "Elektrosmogs" und die Ausarbeitung entsprechender Gutachten für Kommunen, Gewerkschaften, Naturschutzverbände oder Bürgerinitiativen.

Nun liegt das Ergebnis in Buchform vor. Für die fünf Ecolog-Autoren "mehren sich die Hinweise und Beweise dafür, daß künstlich erzeugte elektromagnetische Felder möglicherweise ein Risiko für die menschliche Gesundheit darstellen". Hier bahne sich ein Problem an, "das in naher Zukunft zu einer der größten Herausforderungen für die umwelt- und gesundheitsverträgliche Technikgestaltung werden könnte". Die Medien würden das Problem zwar aufgreifen, doch beschränkten sie sich oft darauf, "die neuesten Schreckensmeldungen weiterzugeben". So erzeugten sie mehr Bedarf an gründlicher Information, als sie selbst befriedigen könnten. Diese Informationslücke - so heißt es einleitend - wolle das Buch schließen.

Offizielle Grenzwert-Empfehlungen werden für völlig unzureichend gehalten

Gesetzliche Bestimmungen über die Einhaltung von Grenzwerten für Felder gibt es bisher nicht. Die DIN/VDE-Norm 0848, die 1989 von der Deutschen Elektrotechnischen Kommission (DKE) ausgearbeitet wurde, ist wie andere Normen nur insoweit rechtlich relevant, als sie den "gültigen Stand der Technik" repräsentiert. Sie begrenzt die Feldstärken im Bereich der Stromversorgung einheitlich auf 5 mT (Millitesla) für das magnetische Feld und 20 kV/m (Kilovolt pro Meter) für das elektrische Feld. Die 1992 beschlossene DIN/VDE-Vornorm 04848 nimmt dagegen eine Zweiteilung vor: Für den Daueraufenthalt von Personen im Allgemeinbereich gelten 400 µT (Mikrotesla) und 7 kV/m als Grenzwerte. Für den beruflich bedingten, nur vorübergehenden Aufenthalt in Feldern liegen die entsprechenden Werte wie bisher bei 5 mT und 20 kV/m.

Die Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (IRPA) nehmen ebenfalls eine solche Zweiteilung vor, liegen aber doch deutlich niedriger: bei 100 µT und 5 kV/m für den Daueraufenthalt im Allgemeinbereich und bei 500 µT und 10 kV/m für berufliche Exposition. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat sich die Empfehlungen der IRPA zueigen gemacht. Auch das Bundesumweltministerium, das derzeit eine Verordnung über zulässige Feldstärken vorbereitet, will sich weitgehend den IRPA-Empfehlungen anschließen.

Nicht so die Autoren des vorliegenden Buches. Ihrer Ansicht nach können weder die Werte nach DIN/VDE 0848 noch die der IRPA als "Vorsorgegrenzwerte" bezeichnet werden. Sie prophezeien, daß auch die IRPA-Vorschläge "auf Dauer nicht zu halten sein" werden. Stattdessen legen sie eigene Empfehlungen für Grenzwerte im nieder- und hochfrequenten Bereich vor. Danach würde für die Dauerexposition der Allgemeinbevölkerung in Feldern der Stromversorgung ein "Vorsorgegrenzwert" von 0,2 µT und 60 V/m eingeführt. Dies wäre beim magnetischen Feld 500mal und beim elektrischen Feld 83mal weniger als nach der IRPA-Empfehlung. Für einzelne Anlagen wie Hochspannungsleitungen oder Transformatoren soll die magnetische Feldstärke nochmals halbiert und auf maximal 0,1 µT beschränkt werden.

Als Kompromiß zwischen den "Anforderungen eines vorsorgenden Gesundheitsschutzes und den Realitäten in den Betrieben" wollen die Autoren für den beruflich bedingten Aufenthalt in Feldern der Stromversorgung bis zu sechs Stunden täglich höhere Grenzwerte gelten lassen. Für das magnetische Feld sollen 20 µT toleriert werden. Das wäre immer noch fünfzigmal weniger als die IRPA-Empfehlung vorsieht. Für das elektrische Feld wollen sie 2,5 kV/m akzeptieren, was der Hälfte der IRPA-Empfehlung entspräche. Aber auch diese Regelung soll nur "für eine Übergangszeit" gelten. Langfristig müßten die zulässigen Feldstärken am Arbeitsplatz denen im Allgemeinbereich angeglichen werden.

Die Autoren räumen ein, daß "entschiedene Anstrengungen" notwendig wären, um die von ihnen geforderten "Vorsorgegrenzwerte" einhalten zu können. Grundsätzlich halten sie ihre Vorschläge aber für "in weiten Bereichen praktikabel". Sie lägen "immer noch deutlich über den Werten, die einige Baubiologen empfehlen". Damit trügen sie dem Umstand Rechnung, daß beim magnetischen Feld ein "zivilisatorisch bzw. technisch bedingter Untergrund" von 0,02 bis 0,06 µT vorhanden sei.

Um die Notwendigkeit ihrer extrem niedrigen Grenzwert-Forderungen zu begründen, haben die Autoren bei ihrer Literaturauswertung alles gesammelt, was für biologische Wirkungen oder gar ein Gesundheitsrisiko bei bestimmten magnetischen Feldstärken im 50 Hertz-Bereich zu sprechen scheint. Das Ergebnis ist eine Skala (Seite 298), die das magnetische Feld von 2 x 107µT ("natürlicher magnetischer Untergrund") bis über 150 mT ("akute Gefährdung des menschlichen Gehirns") umfaßt. Nach dieser Skala läge sogar der besonders niedrige Ecolog-Vorsorgegrenzwert von 0,1 µT für elektrische Einzelanlagen noch über der Schwelle von 0,06 µT, bei der eine "Veränderung des Calcium-Ionen-Transports durch Zellmembranen" beobachtet werden könne. In Höhe des Ecolog-Vorsorgegrenzwerts von 0,2 µT für den Allgemeinbereich wäre sogar mit "erhöhtem Leukämierisiko" zu rechnen. Noch schlimmer wird es weiter oberhalb: Bis zum Erreichen des IRPA-Grenzwerts drohen "erhöhtes Hirntumorrisiko" (0,3 µT), "reduzierte Melatoninproduktion" und "gesteigerte Zellteilungsrate" (1 µT), "Veränderung im EEG beim Menschen" (20 µT), "verzögerte frühe Embryonalentwicklung" (50 µT) sowie "reduzierte Melatoninproduktion" und "fördernde Wirkung Brustkrebs" (100 µT).

Diese Skala sieht zunächst recht dramatisch aus, Da scheinen sogar die "Vorsorgegrenzwerte" des Ecolog-Instituts eher noch zu niedrig angesetzt zu sein. Aber der Schein trügt. Folgt man dem Hinweis der Autoren, die eine ausführlichere Darstellung der angegebenen biologischen Wirkungen und Risiken an anderen Stellen des Buchs versprechen, so wird die Fragwürdigkeit dieser Skala ersichtlich. Trotz vielen Hin- und Herblätterns wird man kaum einen wirklich zuverlässigen Anhaltspunkt für die angegebenen biologischen Wirkungen und Gesundheitsrisiken finden. Stattdessen stößt man auf diverse Studien sehr unterschiedlicher Qualität und Herangehensweise, deren Befunde manchmal gar nicht reproduzierbar sind oder aus anderen Gründen mit dicken Fragezeichen versehen werden müssen. Zum Beispiel basiert das angeblich erhöhte Krebsrisiko im Bereich um 0,2 µT auf arg dünnbrüstigen epidemiologischen Studien, die ihrer statistischen Natur nach auch gar keinen kausalen Zusammenhang belegen können.

Trotz der Dramatisierungen viel Lesenswertes

Das heißt nun aber nicht, daß das vorliegende Buch in jene Ecke des Bücherschranks gehören würde, wo die Schreckensschriften bestimmter "Baubiologen" oder auch ein einschlägiges "Themenheft" des BUND (siehe PB 2/94) in magisch-esoterische Gefilde abschweifen. Bei aller Skepsis gegenüber den geforderten "Vorsorgegrenzwerten" muß man den Autoren bescheinigen, daß sie ansonsten ein gründliches, kenntnisreiches und nützliches Werk verfaßt haben. Sie haben sogar so viel Material zusammengetragen, daß manchmal vor lauter Bäumen der Wald etwas aus dem Blickfeld zu geraten scheint. Einige Abschnitte haben sie von vornherein als "Exkurse" deklariert (z.B. über Blitze oder die Geschichte der Stromversorgung).

Wie das "Elektrosmog"-Buch des Katalyse-Instituts (siehe PB 1/94) hinterläßt aber auch dieses Werk einen etwas zwiespältigen Eindruck: Auf der einen Seite beeindrucken die grundsätzlich wissenschaftliche Herangehensweise und viel Lesenswertes, auf der anderen Seite irritiert eine Neigung zur Dramatisierung der bisher vorliegenden Befunde, was die tatsächlichen Risiken elektrischer und magnetischer Felder angeht. Störend wirken auch die gelegentlich etwas polemische Wortwahl ("Gigawattomanie") und kleine Unstimmigkeiten (z.B. kam der Anschluß der neuen Bundesländer an das UCPTE-Netz nicht "Anfang 1992" zustande, sondern wird frühestens im Herbst 1995 stattfinden). Etwas ärgerlich ist auch, daß in dem vorliegenden Rezensionsexemplar die Seiten 353 bis 368 fehlen.

Nachdenkliches über die "Defizite herkömmlicher Wissenschaftspraxis"

Die Autoren diagnostizieren die erwähnte Zwiespältigkeit zwar nicht am eigenen Werk, aber immerhin an der allgemeinen Diskussion über das "Risiko Elektrosmog". Die Allgemeinheit zeige ein "ambivalente Haltung zur wissenschaftlichen Arbeit und Rationalität", schreiben sie im Schlußkapitel, in dem sie über den "wissenschaftlichen Umgang mit Risiken" nachdenken. Manchmal sei es "fast schon unheimlich", welcher Vertrauensbonus sogenannten kritischen Wissenschaftlern entgegengebracht werde, wenn sie Betroffene und ihre Verbände mit Argumenten und (Gegen)Gutachten versehen. Auf der anderen Seite stünden die Betroffenen aber der Wissenschaft auch außerordentlich skeptisch und feindselig gegenüber. Diese feindseligen Gefühle veranlaßten sie, sich un- oder vorwissenschaftlichen Erklärungsansätzen zuzuwenden, aus denen "mancherlei obskure Erklärungsmuster" hervorgingen. Die Elektrosmog-Diskussion könne als Paradebeispiel für "die Defizite herkömmlicher Wissenschaftspraxis und deren Einbeziehung in die Gesellschaft" gelten. All die zahllosen wissenschaftlichen Aussagen, Ergebnisse, Untersuchungen und Annahmen würden die Öffentlichkeit eher verwirren als aufklären. So erkläre sich die Heterogenität der Elektrosmog-Diskussion: "Während am einen Ende der Skala mögliche Auswirkungen schlicht geleugnet werden, macht man am anderen Ende elektromagnetische Felder selbst für Phänomene wie Aids oder Waldsterben verantwortlich."

Die Autoren steuern aus eigenem Erleben ein schönes Beispiel bei für die Konfusion, die in vielen Köpfen herrscht: "Auf einer Bildungsveranstaltung des Ecolog-Instituts referierten wir ausführlich über die Wirkung elektromagnetischer Felder. Nach der Veranstaltung meldete sich ein Teilnehmer zu Wort, bedankte sich für die ausführlichen Informationen und bat dann aber darum, doch jetzt auch noch etwas über Elektrosmog zu erzählen."

(PB Dezember 1994/*leu)