PresseBLICK-Rezensionen Geschichte (Strom u. a.)



Clemens M. Hutter

Kaprun

Salzburg 1994: Residenz-Verlag, 200 S., 498 Schilling


Kaprun ist ein Alpendorf in den Hohen Tauern. In der Nähe befindet sich ein großes Speicherwasserkraftwerk, das auch im Pumpspeicherbetrieb gefahren werden kann und wesentlich zur Deckung der österreichischen Spitzenlast beiträgt.

So nüchtern könnte man es formulieren. Aber Kaprun ist mehr: Das Wasserkraftwerk in den Alpen stand in den fünfziger Jahren für Wiederaufbau und technischen Fortschritt. Es lieferte nicht bloß Strom, sondern auch den Stoff, aus dem Trivialmythen sind. "Das Lied von Kaprun" hieß damals ein Film, der die Errichtung des Kraftwerks als titanenhaften Kampf gegen die Naturgewalten feierte. Er verband das Hohelied des technischen Fortschritts mit den Genres der Heimatschnulze und des Bergfilms. In der Illustrierten "Quick" fesselte der Erfolgsautor Jürgen Thorwald die Leser mit dem Fortsetzungsroman "Hoch über Kaprun", wobei er das Blaue vom Alpenhimmel herunter fabulierte. Der Dramatik wegen ließ er beim Bau des Kraftwerks sogar eine Frauenleiche miteinbetonieren - was zur realen Folge hatte, daß Besucher des Kraftwerks später noch lange Zeit den makabren Betonklotz zu sehen wünschten...

Triumph der Technik über die Natur

Im Mythos von Kaprun kämpfte eine Armee aus Ingenieuren und Bauarbeitern gegen eine feindliche Natur. Der zweite Weltkrieg lag erst ein paar Jahre zurück. Im Zivilleben wurde noch mancher Uniformmantel aufgetragen. So verfielen auch die Journalisten oft noch in den Stil der Frontberichterstattung, wenn es die Baufortschritte zu bejubeln galt: "Der Berg wehrt sich, er kapituliert nicht kampflos", hieß es 1953 in einem Zeitungsartikel. "Die mehr als 3000 Arbeiter leben hier oben wie an einer Frontlinie, verbunden mit dem 'Hinterland' nur durch den Schrägaufzug, den größten der Welt". Im Film spricht der Sicherheitsingenieur von der Baustelle als einem "Schlachtfeld, auf dem ein furchtbarer Kampf ausgetragen wird."

Heute, wo man die höchsten Gipfel mühelos mit dem Lift erreicht, ist der Mythos von Kaprun nur noch schwer verständlich. Auch das Technik-Verständnis hat sich gewandelt: Es liegt uns inzwischen ziemlich fern, die Technik als den prometheischen Widersacher von übermächtig-finsteren Naturgewalten zu sehen. Man neigt eher zu der Ansicht, daß die Natur von vornherein schwächer ist und die Umwelt vor der Technik geradezu in Schutz genommen werden müsse.

Eine besondere Rolle spielte Kaprun für das damalige Österreich, das sich eben erst von den Folgen des zweiten Weltkriegs zu erholen begann. Das Wasserkraftwerk in den Hohen Tauern wurde zum nationalen Symbol. Es stand für den Aufbauwillen des Landes und den Wandel von der Landwirtschaft zur Industrie.

Elektrisch beleuchteter Wasserfall als Attraktion für Touristen

Das vorliegende Buch beschränkt sich nicht auf die Geschichte des Wasserkraftwerks, sondern bindet sie ein in die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts war Kaprun ein reines Bauerndorf mit knapp 500 Einwohnern. In das Tal hinter dem Dorf verirrten sich allenfalls ein paar Kühe und Hirten. Dann aber setzte der Tourismus ein. "Selbst die zartesten Damen besteigen die höchsten, früher für unbezwingbar gehaltenen Gletscherspitzen", notierte ein Chronist des Jahres 1881. Als prominentester Tourist kam 1893 Kaiser Franz Joseph ins Kapruner Tal: Er ließ sich vom Dorf aus bis zum "Kesselfall" hochfahren, ritt von dort den Almweg hinauf bis zum "Mooserboden" und zeigte sich sehr beeindruckt von der Landschaft. Er konnte nicht ahnen, daß einmal zwei große Speicherseen jene Stellen bedecken würden, an denen er noch trockenen Fußes gewandelt war.

Die Nutzung des Kapruner Tals für die Stromerzeugung kündigte sich eher spielerisch an: 1899 entstand auf dem "Mooserboden", der heute das obere Speicherbecken bildet, ein komfortables Hotel. Dieses Hotel wurde bereits elektrisch beleuchtet, während unten im Dorf noch Ölfunzel und Kienspan regierten. Für den Strom sorgte ein kleiner Wasserkraft-Generator am Gletscherbach. Elektrisch beleuchtet wurde auch ein nahegelegener Wasserfall - eine besondere Attraktion für die Touristen, die sich in zweispännigen Pferdewägelchen von Kaprun bis zum "Mooserboden" hinaufkutschieren lassen konnten.

Mit der Zunahme des Strombedarfs richteten sich immer größere Hoffnungen auf die Wasserkräfte der Alpen. In den Anfängen der Elektrizitätswirtschaft spielten Wasserkraftwerke allgemein eine wichtige Rolle. Sie galten, neben den Kohlekraftwerken, als das zweite Bein der Stromversorgung. In Österreich, der Schweiz oder Bayern konnten sie sogar den gesamten Strombedarf decken. Während die Laufwasser-Kraftwerke an den Flüssen rund um die Uhr Strom produzierten, eigneten sich Speicherwasser-Kraftwerke besonders für die Abdeckung von Lastspitzen und konnten so die Kohlekraftwerke in idealer Weise ergänzen. Das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk (RWE) wagte sich deshalb1925 an das kühne Projekt der ersten "Verbundleitung" für 220 Kilovolt Betriebsspannung, um die Kohle des rheinischen Reviers mit den Wasserkräften der Alpen zu verbinden.

Das Tauern-Projekt der AEG

Ende der zwanziger Jahre entwarf die Allgemeine Electricitätsgesellschaft (AEG) einen gigantischen Plan, um die Wasserkräfte der Hohen Tauern der Stromerzeugung nutzbar zu machen. Ein Netz von "Hangkanälen" sollte, ähnlich Dachrinnen, das Schmelzwasser der Berggipfel auffangen und diversen Wasserkraftwerken zuführen. Das Kapruner Tal hatte dabei zentrale Bedeutung. Die Pläne waren aber nicht genügend durchdacht. Vor allem ließen sie außer Acht, daß die Hangkanäle sehr schnell verstopft sein würden. Die Baukosten bewegten sich in schwindelerregenden Höhen. Die einsetzende Weltwirtschaftskrise zog den Schlußstrich unter dieses Projekt.

Nach dem "Anschluß" Österreichs machten sich die Nationalsozialisten den Plan eines Tauernkraftwerks zueigen. 1938 vollführte der "Reichsfeldmarschall" Göring den ersten Spatenstich im Kapruner Tal. Allerdings lagen noch keine Baupläne vor. Göring spatete deshalb irgendwo in der Landschaft, kilometerweit vom heutigen Kraftwerk entfernt. Es ging vor allem um den propagandistischen Effekt.

Die Bauarbeiten bis Kriegsende

Als technisch und wirtschaftlich vernünftigste Lösung wählte man schließlich ein zweistufiges Speicherwasserkraftwerk mit wahlweisem Pumpspeicherbetrieb. Die Bauarbeiten begannen kurz vor dem zweiten Weltkrieg. Obwohl das Projekt von kriegs- und rüstungswirtschaftlicher Bedeutung war, kam es bald zu Engpässen. Fremd- und Zwangsarbeiter bevölkerten die Großbaustelle. Nach der Zerstörung der Möhne-Talsperre durch alliierte Bomber wurde befürchtet, daß die Staumauern in Kaprun genauso verwundbar sein würden. Man verzichtete deshalb auf die mögliche Vollendung des unteren Hauptspeicherbeckens. Es wurde lediglich ein kleiner Damm aufgeschüttet, der gerade soviel Wasser staute, daß in dem teilweise fertiggestellten Kraftwerksgebäude eine bescheidene Stromproduktion möglich war.

Nach Kriegsende dauerte es einige Zeit, bis die Großbaustelle mit Hilfe des Marshall-Plans zu neuem Leben erwachte. Angeblich sollen dabei viele ehemalige Nazis Unterschlupf gefunden haben. Vielleicht war das aber auch nur eine Erfindung der kommunistischen Propaganda: Die damals noch einflußreiche Presse der KPÖ machte den Kraftwerksbau ohnehin madig, weil er angeblich als "Stromlieferant der westdeutschen Rüstungsindustrie" dienen sollte.

Symbol für Unabhängigkeit und Aufschwung

In der Tauwetter-Periode nach Stalins Tod konnte Österreich die Gunst der Stunde nutzen: Mit dem Staatsvertrag von 1955 erreichte es den Abzug der Sowjets und errang seine Souveränität. Das Kraftwerk in Kaprun wurde im selben Jahr eingeweiht. Es unterstrich die neugewonnene Unabhängigkeit und beflügelte Hoffnungen auf ein ähnliches Wirtschaftswunder, wie es Westdeutschland inzwischen erlebte.

Das Kraftwerk symbolisierte allerdings auch die Mühen des Landes mit seinem schwarz-roten Proporz: Als die Einweihung anstand, war Bundespräsident Körner (SPÖ) krank. Eigentlich hätte Bundeskanzler Raab (ÖVP) einspringen müssen. Das durfte aber wiederum nicht sein, weil damit etwas vom Glanz des stolzen Bauwerks auf die ÖVP hätte fallen können. So wurde der Staatsakt abgeblasen und die Einweihung fand nur in bescheidenem Rahmen statt.

Inzwischen ist es fünfzig Jahre her, seitdem Kaprun den ersten Strom lieferte. Die Errichtung eines Wasserkraftwerks in den Alpen würde heute kaum mehr als himmelstürmendes Unterfangen verherrlicht werden - zumal die Giganten der Wasserkraft längst nach Übersee ausgewandert sind und Kaprun einer Anlage wie Itaipu buchstäblich nicht das Wasser reichen könnte. Das vorliegende Buch bringt mit zahlreichen Details die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umstände zu Bewußtsein, unter denen das Projekt in den Hohen Tauern einen Symbolwert erlangte, der weit über seine Bedeutung für die Stromerzeugung hinausging.

(PB 10/94/*leu)