PresseBLICK-Rezensionen Geschichte (Strom u. a.)



Jean-Claude Debeir, Jean-Paul Deléage, Daniel Hémery

Prometheus auf der Titanic - Geschichte der Energiesysteme

Frankfurt am Main: Campus Verlag 1989, 353 S.


Die Geschichte der Spezies Mensch ist zum wesentlichen Teil die Geschichte ihrer Fähigkeit, das bescheidene Energiepotential, das ihr von Natur aus zur Verfügung steht, intensiv oder extensiv zu nutzen - intensiver etwa durch die Erfindung von Faustkeil und anderen Werkzeugen, Hebeln, Rad oder Flaschenzug; extensiv durch die Nutzbarmachung des Feuers, des Windes, des Wassers oder biologischer Energiewandler in Gestalt von Tieren und Pflanzen.

Dies ist der relativ einfache Grundgedanke, von dem die Verfasser des vorliegenden Buches ausgehen. Und es wäre in der Tat wichtig und reizvoll, auf dieser Basis eine detaillierte "Geschichte der Energiesysteme" zu schreiben, wie der Untertitel des Buches verspricht. Um diesen Anspruch wirklich einzulösen, ist die Darstellung aber zu fragmentarisch und essayistisch. Es handelt sich eher um Streiflichter aus der Geschichte der Energiesysteme, die eine spezielle Definition des Begriffs "Energiesysteme" stützen sollen. Es wäre deshalb wohl angemessener, vor den Untertitel ein relativierendes "Zur" zu setzen.

Unter "Energiesystem" verstehen die Autoren einen "Sammelbegriff für die materiellen Gegebenheiten von Produktion, Reproduktion und Akkumulation". Die Wahl der Termini verrät, daß sie sich dem marxistischen Theorieansatz verpflichtet fühlen. Im undogmatischen Sinne, sicherlich, aber dies bietet noch keine Gewähr, beim marxistischen Spagat zwischen Basis und Überbau nicht zu Fall kommen. Es scheint nämlich, als hätten sie den Begriff der "Produktivkräfte", der die materiellen wie die subjektiven Faktoren des kulturellen Fortschritts umfaßt, etwas vorschnell in "Energiesystem" umgetauft und außerdem noch mit den Kategorien der "Produktionsverhältnisse" und der "Produktionsmittel" verquickt. Als weiteres Ingrediens kommt die Thermodynamik hinzu mit der Frage "nach den Grenzen des Wachstums und, noch tiefer schürfend, nach dem entropischen Charakter jeglicher Wirtschaftsaktivität".

Ansonsten enthält dieses Buch aber durchaus interessante Gedanken, die noch mehr überzeugen könnten, wenn sie konziser gefaßt wären. Dazu gehört vor allem die Überlegung, daß die Zunahme der Erdbevölkerung und der kulturelle Fortschritt der Menschheit aufs engste mit den zur Verfügung stehenden Energie-Ressourcen verbunden sind. Zum Beispiel war in der primitiven Urgesellschaft eine recht große Fläche vonnöten, um den Energiebedarf eines Individuums bzw. dessen Bedarf an Fleisch und eßbaren Früchten zu decken, was die Population in sehr engen Grenzen hielt. Auch intensivere Nutzung der schwachen Körperkräfte - beispielsweise durch Pfeil und Bogen - änderte daran noch nicht viel. Neue Dimensionen eröffneten sich erst, als der Mensch seine eigenen, schwachen Kräfte durch Nutzung anderer Energien zu vervielfachen begann. Etwa durch die Verbrennung von Holz, durch die Erfindung von Segel und Wasserrad, die Züchtung von Zugtieren sowie die planmäßige, bewußte Nutzung von Tieren und Pflanzen als biologische Energiewandler. Einen energetischen Fortschritt bedeutete es auch - so makaber das klingen mag - , als man begann, Feinde nicht mehr zu erschlagen oder nach alter Väter Sitte zu verspeisen, sondern sie zu Sklaven zu machen.

Bis in die Neuzeit bewegten sich alle diese energetischen Fortschritte im Rahmen dessen, was wir heute als "regenerative Energien" bezeichnen würden. Die Energiegewinnung stieß damit sehr schnell an natürliche Grenzen. Schon im klassischen Griechenland waren die Wälder Homers weitgehend in Schiffe und Brennholz verwandelt worden. Wie eng die Grenzen des Energiesystems waren, in denen das römische Weltreich aufstieg und unterging, bezeugen bis heute die kahlgeschlagenen, erodierten Landschaften der Mittelmeerländer. Im Mittelalter war eine Glas- oder Erzhütte zugleich ein Unternehmen zur Waldvernichtung. Den Rest besorgte die Weidewirtschaft.

Die Nutzung fossiler Energien wie der Kohle und die Erfindung neuartiger Energieumwandler wie der Dampfmaschine schuf eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine deutliche Vermehrung der Erdbevölkerung. Heute, da sich die Erschöpfung der fossilen Energien abzeichnet, wissen wir zugleich um die Grenzen dieses Energiesystems. Auch die überschwenglichen Erwartungen, die einst in die Kernenergie gesetzt wurden, haben durch das Bewußtwerden von lange unterschätzten Risiken, der ebenfalls begrenzten Vorräte an Uran und das Scheitern der "Schnelle Brüter"-Hoffnungen einen kräftigen Dämpfer erhalten. Die Autoren sind deshalb der Meinung, daß die Kernenergie "höchsten einige Jahrzehnte lang den langwierigen und schwierigen Übergang zu neuen Energieformen erleichtern kann". Im übrigen sei nun jedoch das "kapitalistische Energiesystem" dabei, an seine Grenzen zu stoßen.

Liegt die Rettung in der Rückbesinnung auf die regenerativen Energien? Etwa in der Erfindung neuer Techniken zur Nutzung der Sonnenenergie, die zumindest theoretisch unseren Energiebedarf im Überfluß decken könnte? - Die Autoren haben hier kein Rezept anzubieten.

(PB 10/91/*leu)