Psychologie

Das Leib-Seele-Problem

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Die logarithmische Seele

Wie der Physiker Fechner seine Lebenskrise durch Ausarbeitung der "Psychophysik" überwand

Nach Herbart war es vor allem Gustav Theodor Fechner (1801-1887), der sowohl zum Wegbereiter der experimentellen Psychologie wie eines mystisch gefärbten Psychologismus geworden ist. Nach Ansicht Wundts war es Herbarts mathematische Psychologie, die Fechner "den Gedanken eingab, nach einer exakten Funktionsbeziehung zwischen Physischem und Psychischem zu suchen". (1) So entstand das "Fechnersche Gesetz", wonach die Intensität einer Empfindung in einem reziprok logarithmischen Verhältnis zur Intensität des Reizes steht. Dieses Fechnersche Gesetz ist allgemein von der Dezibel-Skala her bekannt, die das logarithmische Verhältnis zwischen Reiz und Empfindung auf Schalldruck und Lärmempfindung überträgt.

Die wenigsten, denen das "Fechnersche Gesetz" heute als Muster naturwissenschaftlicher Psychologie erscheint, wissen freilich, daß Fechner ein erklärter Mystiker war und auch seine "Psychophysik" samt dem Fechnerschen Gesetz nicht primär als Beitrag zur Wissenschaft, sondern zur Fundierung einer mystischen Weltanschauung gedacht war.

Fechner war von Haus aus Physiker. Seine Hinwendung zur Mystik war die Folge einer jahrelangen, tiefgreifenden Lebenskrise, die ihn im vierten Lebensjahrzehnt ereilte. Als Privatdozent in Leipzig war er auf Einkünfte aus schriftlicher Tätigkeit angewiesen. Gerade als der zermürbende Kampf um die persönliche Existenz beendet schien, und er im Sommer 1834 die Stelle eines ordentlichen Professors der Physik an der Universität Göttingen erhielt, brach jene Lebenskrise aus, die alle Anzeichen einer schweren Neurose trug. Fechner kam nur mit Mühe seinen Vorlesungspflichten nach. "Jetzt beginnt für ihn jene dreijährige Leidenszeit, wo er Monate lang im finstern Zimmer verbringt, das er sich zuweilen durch einen geschwärzten Raum, in den er hineinblickt, noch mehr zu verdunkeln versucht, um dann um so mehr durch subjektive Lichterscheinungen gequält zu werden, vor denen kein Entfliehen möglich ist. Dazu macht ihn sein Zustand gegen jede äußere Einwirkung übererregbar. Tage hindurch lebt er einsam, abgeschieden selbst von seinen Nächsten. Die Ärzte wußten keinen Rat. Aber die Natur half sich selbst. Das erschöpfte Nervensystem ruhte sich aus, und als es allmählich durch Einflüsse, die wir heute unbedenklich einer heilsamen Autosuggestion zuschreiben werden, auch das Sehorgan wieder dem Licht sich öffnete, da fühlte sich Fechner wie neugeboren." (2)

Aus dieser Schilderung Wundts ergibt sich, daß Fechner im psychologischen Zustand einer sensorischen Deprivation lebte, der zu gesteigerter Empfänglichkeit für die verbleibenden Reize und letztlich zu Halluzinationen führt. Künstler wie Aubrey Beardsley und Marcel Proust haben diesen Zustand herbeigeführt, um sich auf dem Wege der Introspektion inspirieren zu lassen. Nicht minder erinnert Fechners Lebenskrise an die schwere Neurose, die später Sigmund Freud im gleichen Lebensalter durchlitt und - man könnte mit Wundt von einer "heilsamen Autosuggestion" sprechen - durch Ausarbeitung seiner Psychoanalyse bewältigte.

Der erklärte Mystiker Fechner leistete einen Beitrag zur Wissenschaft...

Fechner lebte fünfzig Jahre früher als Freud. Schon deshalb mußte seine Antwort auf das neurotische Problem der Zeit anders ausfallen. Wichtige Paten der späteren Psychoanalyse wie der Vulgärmaterialismus und die Lebensphilosophie lagen ihrerseits noch in den Windeln. Um so stärker war dafür noch der Einfluß der idealistischen deutschen Philosophie mit ihrer erhabenen Konzeption des Geistes. Deshalb vermochte Fechner auch mit Reichenbachs "Od"-Lehre und der US-amerikanischen Version des Obskurantismus in Gestalt des Spiritismus nicht viel anzufangen, sosehr sich beide um ihn bemühten. Wundt berichtet, wie Fechner mit anderen Wissenschaftlern an einer spiritistischen Sitzung teilnahm, bei der es den beschworenen Geistern aus dem Jenseits gelang, eine an den Enden versiegelte Schnur ohne Lösung des Siegels mit einem Knoten zu versehen. Fechner wie die übrigen Gelehrten waren zu naiv, um den Taschenspielertrick des US-amerikanischen Mediums - eines gewissen Mr. Slade - zu durchschauen. Sie hielten die vermeintliche Geisterbeschwörung für wissenschaftlich beweiskräftig. Dennoch - so Wundt - "fügte sich Fechner nur widerstrebend. Es überwog bei ihm der unbehagliche Eindruck, daß, wenn sich diese Erscheinungen als Wahrheit erweisen sollten, der alberne und läppische Charakter derselben eine unwürdige Vorstellung von dem Treiben der Geisterwelt erweckte, die zu seinen eigenen Ideen über das Fortleben nach dem Tode in einem unerfreulichen Gegensatz stand." (3)

Auch Triebe, wie sie später Freuds Psychoanalyse beherrschen sollten, paßten nicht in das eher erhabene Bild, das Fechner vom Menschen und dessen Geist hegte. Fechner zufolge lebt der Mensch nicht einmal, sondern dreimal auf Erden: Die erste Lebensstufe ist ein steter Schlaf, die zweite ein Wechsel zwischen Schlaf und Wachen, die dritte ein ständiges Wachen. (4) "Schlaf und Wachen" sind dabei mystisch gestimmte Umschreibungen des vermeintlichen Gegensatzes zwischen "Unbewußtem" und "Bewußtem", den zur selben Zeit Carus in seiner "Psyche" beschwört und auf den ein halbes Jahrhundert später Freud seine Psychoanalyse gründet.

Schon in dem 1836 veröffentlichten "Büchlein vom Leben nach dem Tode", mit dem er seine Neurose zu bewältigen beginnt, entwickelt Fechner die Idee, daß die Geister der Gestorbenen als Individuen in den Lebenden fortexistieren. Außer den Menschen seien auch Tiere und Pflanzen beseelt. (5) Wundt charakterisierte die Anschauungen Fechners als Theosophie. (6) Fechner wäre damit einer Strömung einzuordnen, aus der sich später, unter dem Einfluß der Lebensphilosophie, die "Anthroposophie" Rudolf Steiners entwickelt - eine Sekte, die bis in die Gegenwart einen kleinen, aber äußerst rührigen Kreis von Anhängern in den mystisch-esoterischen Bannkreis ihrer Lehren zu ziehen versteht.

Wilhelm Wundt hat in seinem Essay "Der Aberglaube in der Wissenschaft" (1885) die Ansicht vertreten, daß "gerade die Mathematik eine der fruchtbarsten Erzeugerinnen mystischer Anschauungen sei", indem sie zu abgründigen Spekulationen über Zahlen, den Unendlichkeitsbegriff oder die "vierte Dimension" verleite. (7) Tatsächlich war es mehr mystische Offenbarung als empirisch gewonnene Einsicht, die Fechner am Morgen des 22. Oktober 1850 veranlaßte, eine logarithmische Beziehung zwischen körperlichem Reiz und geistiger Empfindung aufzustellen. (8) Fechner baute dabei auf früheren Untersuchungen des Physiologen Weber aus dem Jahre 1834 auf, der bei seinen Untersuchungen über den Tastsinn zu der Erkenntnis gelangt war, daß der eben noch merkliche Unterschied zwischen zwei Gewichten in einem annähernd konstanten Verhältnis zur Größe des Bezugsgewichts steht. Fechner entwickelte daraus das "psychophysische Grundgesetz" in Gestalt der logarithmischen Funktion. Seine 1860 erschienenen zweibändigen "Elemente der Psychophysik" waren ganz dem Versuch gewidmet, dieses "psychophysische Grundgesetz" mit zahlreichen mathematischen Tabellen und Formeln zu untermauern und in jene mystische Weltanschauung münden zu lassen, die er zuvor in Schriften wie "Zendavesta, oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits" (1851) entwickelt hatte. (9)

Wundt hat das Zustandekommen des "Fechnerschen Gesetzes" mit der Entdeckung der Planetenbewegung durch Kepler verglichen, der sich dabei ebenfalls von phantastischen Ideen über die mystische Bedeutung der regulären Vielecke und der harmonischen Tonintervalle für den Kosmos habe leiten lassen. (10) Dieser Vergleich trifft - von der unterschiedlichen Tragweite beider Erkenntnisse mal abgesehen - jedoch nur bedingt zu. Tatsächlich gilt Fechners logarithmische Beziehung zwischen Reiz und Empfindung bzw. Leib und Seele nur annäherungsweise, wie die empirische Überprüfung ergeben hat, und zwar im Mittelbereich eines Reizkontinuums. (10)

...während der erklärte Rationalist Freud einen Beitrag zur modernen Mythologie leistete

Von Freud ist bekannt, daß er sich "in wichtigen Punkten" bewußt an Fechner angelehnt hat (11). Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß der erklärte Mystiker Fechner sein missionarisches Ziel verfehlte und dafür überwiegend einen Beitrag zur Wissenschaft leistete, wogegen ein halbes Jahrhundert später der erklärte Rationalist Freud sein angestrebtes wissenschaftliches Ziel verfehlte und dafür überwiegend einen historischen Beitrag zur Ideologie leistete.

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