Udo Leuschner / Geschichte der FDP

Epilog


Noch eine Chance für die Liberalen?

Unter diesem Titel - allerdings ohne Fragezeichen - veröffentlichte Karl-Hermann Flach 1971 seine Streitschrift für den Liberalismus. Die FDP kam darin nicht vor. Das war Absicht, denn die Frage nach den Chancen des Liberalismus war für Flach "die Frage nach der Zukunft einer menschenwürdigen Gesellschaft". Eine Menschheitsfrage verbindet man tunlichst nicht mit irgendwelchen Parteien, auch wenn diese sich als liberal bezeichnen.

Immerhin sah Flach in der FDP damals ein taugliches Vehikel, um liberale Politik zu betreiben. Sonst wäre er nicht ihr erster Generalsekretär geworden. Die FDP hatte Ende der sechziger Jahre ihre besitzbürgerlich-deutschnationalen Eierschalen abgestreift. Sie schien sich zu einer wirklich liberalen Partei zu entwickeln, für die Liberalismus in erster Linie ein politisches Credo und erst nachgeordnet ein wirtschaftliches Prinzip ist.

Dieser linksliberale Frühling der FDP währte aber nur kurz. Die Partei profitierte nicht im erhofften Maße von der Veränderung des geistig-politischen Klimas, die mit der "außerparlamentarischen Opposition" begonnen hatte. Die Parteistrategen trieben die FDP zurück in die Arme der Union. Ein großer Teil des linksliberalen Potentials kam fortan den Grünen zugute, die wenige Monate nach dem mutwilligen Bruch der sozialliberalen Koalition erstmals in den Bundestag einzogen.

Die liberale Auszehrung der FDP verstärkte sich unter dem Einfluß des sogenannten Neoliberalismus, der als ideologische Antwort des Westens auf den östlichen Totalitarismus entstand und eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinem langjährigen Widersacher aufweist: Beide sind politische Heilslehren mit pseudo-wissenschaftlichem Anstrich. Beide mystifizieren den ökonomischen Unterbau der Gesellschaft zum bestimmenden Faktor des politisch-kulturellen Überbaues. Wo der "Marxismus-Leninismus" auf Planwirtschaft und Gleichmacherei setzte, da proklamiert der Neoliberalismus das ungehemmte Spiel der Marktkräfte und singt das Hohelied der sozialen Ungleichheit. Beide setzen auf den starken Staat, um ihre Ziele zu erreichen. Beide sind Gegner des politischen Liberalismus, der sich nicht darauf verlassen will, daß die beste aller möglichen Welten naturwüchsig aus der Planwirtschaft oder aus dem freiem Spiel der Marktkräfte entsteht, sondern jedes gesellschaftliche System danach beurteilt, wieweit es dem Individuum tatsächlich ein Höchstmaß an Freiheit inklusive der notwendigen sozialen Voraussetzungen gewährt.

Karl Hermann Flach hat die Ziele des politischen Liberalismus folgendermaßen umrissen:

"Liberalismus heißt Einsatz für größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen und Wahrung der menschlichen Würde in jeder gegebenen oder sich verändernden gesellschaftlichen Situation. Der Liberalismus ist nicht auf ein Gesellschaftsmodell festgelegt. Liberalismus bedeutet demnach nicht Freiheit und Würde einer Schicht, sondern persönliche Freiheit und Menschenwürde der größtmöglichen Zahl. Freiheit und Gleichheit sind nicht Gegensätze, sondern bedingen einander. Die Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenze in der Freiheit des anderen Einzelnen, des Nächsten. Insoweit ist Liberalismus nicht Anarchismus, sondern auch eine politische Ordnungslehre."

Ein solcher Liberalismus ist an keine Partei gebunden und darf sich auch an keine Partei binden. Er kann allenfalls bestimmte Parteien favorisieren. Eine Zeitlang sah es so aus, als könnte die FDP dieser Favorit sein. Sie war jene Partei, in der Individualisten sich am heimischsten fühlen konnten. Obwohl ihr fast immer die Angst vor dem parlamentarischen Tod im Nacken saß, bewies sie in der politischen Auseinandersetzung oft mehr Anstand und Stil als andere Parteien. Dabei verfügte sie über erheblich mehr politisches Gewicht als ihrem Abschneiden bei den Wahlen entsprach. Sie war aber von Anfang an eine ambivalente Partei, in der die alten Gegensätze zwischen Fortschrittspartei und Nationalliberalen, zwischen DDP und DVP, weiterlebten. Daß sie diese Spannweite aushielt - einen Thomas Dehler neben einem Friedrich Middelhauve, einen Werner Maihofer neben einem Erich Mende oder einen Burkhard Hirsch neben einem Guido Westerwelle - konnte ihr als weitere Tugend angerechnet werden.

Aber das Besitz- und Bildungsbürgertum, aus dem die FDP einst schöpfen konnte, gab es allmählich nicht mehr. Die zunehmende Vermittlung von Politik durch Fernsehbilder war an der Partei, ihren Wählern und ihrem Personal nicht spurlos vorbeigegangen. Im Bundestagswahlkampf 2002 nahm sich die Parteiführung erklärtermaßen das "Screendesign" amerikanischer TV-Wahlspektakel zum Vorbild. Die FDP sollte wie ein Konsumartikel als "jugendlich, fröhlich, frisch" verkauft werden. Falls diese Rechnung aufgegangen wäre, hätte Möllemann hervorragende Chancen auf einen Ministerposten gehabt, statt aus der Partei ausgeschlossen zu werden. Das sagt schon alles über die genauso raffinierten wie schwachsinnigen Konzepte der Parteistrategen.

Es kam indessen anders, und seit Ende 2002 befand sich die FDP in einer manifesten Krise. Es war nicht nur die Oppositionsrolle, die ihr zu schaffen machte. Es war das Führungspersonal, das bei ihr - wie auch bei den anderen Parteien oder in den Chefetagen der Wirtschaft - immer desolater wurde. Sie zahlte nun den Preis der seit 1982 erfolgten "Genscherisierung", die vor lauter Taktik und kurzatmiger Strategie die liberale Perspektive verlor. Sowohl Westerwelle als auch Möllemann waren Zöglinge Genschers. Wenn man die beiden auf dem Scherbenhaufen des 18-Prozent-Wahlziels miteinander streiten sah, kam einem Heinrich Heines "Disputation" zwischen dem Rabbi und dem Priester in den Sinn, wo es im letzten Vers heißt: "Welcher Recht hat, weiß ich nicht - doch es will mich schier bedünken,daß der Rabbi und der Mönch,daß sie alle beide stinken."

Die Strafaktion gegen Möllemann sollte auch davon ablenken, daß der Irrweg der FDP mindestens ebenso durch Westerwelle repräsentiert wurde. Der Selbstmord Möllemanns befreite die Partei von der Gefahr einer konkurrierenden Neugründung. Sie nutzte diese Chance jedoch nicht, um durch Eintreten für bürgerliche Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit und soziale Grundrechte in die Wählerschaft der Grünen einzudringen, die vor zwanzig Jahren die sozialliberale Klientel der FDP übernommen hatten und nun langsam aber sicher an Strahlkraft verloren. Sie verrannte sich vielmehr in einen dumpfen Marktradikalismus und machte sich zum Kläffer des neoliberalen Zeitgeistes. Sie wurde zu einer demagogischen und anti-liberalen Partei, wenn Westerwelle den Abbau von Arbeitnehmerrechten zur "Selbstbestimmung" des Individuums verklärte und die Entmachtung der Gewerkschaften als der "wahren Plage in Deutschland" verlangte. Die pausenlosen internen Auseinandersetzungen wären ein hoffnungsvolles Zeichen gewesen, wenn dabei der politische Grundkurs zur Debatte gestanden hätte. Die Dauerkritik an Westerwelle und seiner Generalsekretärin erschöpfte sich aber darin, daß sie es nicht verstünden, die neoliberale Mogelpackung dem Publikum zu verkaufen. Von den letzten Linksliberalen in der Partei war unterdessen kaum mehr etwas zu hören. Sie wirkten nicht nur marginalisiert, sondern auch kastriert.

Unterdessen zeigten ein paar gestandene Gewerkschafter der FDP, was eine politische Harke ist, indem sie den wachsenden Unmut wegen der Erfolglosigkeit der neoliberalen "Reformen" der rot-grünen Bundesregierung zu einer neuen Partei bündelten. Die "Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) entstand als eine Partei, die den Kampf gegen Praxis und Ideologie des Neoliberalismus zu ihrem Daseinszweck erhob. Sie war damit der geborene Widersacher der FDP, profitierte aber zugleich von deren marktradikalen Tiraden wie früher die FDP von der ebenso regelmäßigen wie unfreiwilligen Wahlkampfhilfe des Franz Josef Strauß. Durch das Bündnis der WASG mit der PDS, die sich in "Linkspartei" umbenannte, veränderte sich fast über Nacht das bundesweite Parteiengefüge. Aufgrund der Umfrageergebnisse mußte die FDP damit rechnen, nach den vorgezogenen Bundestagswahlen auf die Oppositionsbank verwiesen zu werden. Sie schien ideologisch wie politisch in einer Sackgasse gelandet zu sein.

Die FDP landete dann 2005 auch tatsächlich wieder auf der Oppositionsbank. Sie erlebte nun aber bei den Wahlen einen Aufstieg ohnegleichen, der vier Jahre später mit dem besten Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte und erneuter Regierungsbeteiligung endete. Es war ihr gelungen, CDU und CSU viele Wähler abspenstig zu machen, indem sie der Union gleichzeitig "Sozialdemokratismus" vorwarf und sich ihr als Koalitionspartner andiente. Dabei handelte es sich nicht mehr bloß um Leihstimmen. Es war ihr gelungen, in neue soziale Wählerschichten vorzustoßen, und zwar ausgerechnet dort, wo ein von der neoliberalen Politik deklassiertes "Prekariat" vor lauter Abstiegsangst nicht mehr wußte, wo ihm der Kopf stand. Der Arbeitslose, der FDP wählte, war keine Witzfigur mehr, sondern Realität. Die parteieigene Propaganda hätte das nicht bewirken können. Der Rückenwind für die FDP kam hauptsächlich von Kampagnen wie der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" und der Seelenmassage in den Medien, die das neoliberale Credo zu einer Art Staatsreligion erhoben. Wer noch bewußt die Adenauer-Ära erlebt hatte, mochte sich an den damals herrschenden Klerikalismus und die Uniformität der Medien erinnert fühlen.

Eine solide Basis hatten diese Wahlerfolge alle nicht. Es war demagogischer Treibsand, auf dem die FDP von Erfolg zu Erfolg schritt. Solange sie in der Opposition war, konnte sie das besser verheimlichen. Mit ihrem Einzug in die Regierung wurde es schwieriger. Es sprach deshalb einiges dafür, daß auf den bisher größten Triumph in der Geschichte der FDP ein ähnlich großes Debakel folgen könnte.

Der Absturz kam dann noch schneller und heftiger als erwartet. Vier Jahre nach dem größten Triumph ihrer Geschichte flog die FDP nicht nur aus der Regierung, sondern zum ersten Mal auch aus dem Bundestag. Bedauert hat das außerhalb der Partei eigentlich niemand. Die FDP bekam zu spüren, wie sehr sie sich mit ihrem Marktradikalismus verrannt und isoliert hat. Es hatte offensichtlich nicht genügt, den neoliberalen Schreihals Westerwelle gegen sympathischer wirkende Figuren auszutauschen. Die Botschaft war eben doch dieselbe geblieben. Keine andere Partei verströmte soviel "soziale Kälte".

Die Parteistrategen wissen natürlich um dieses Image, das allenfalls eingefleischte Egoisten, fanatische Hayek-Jünger und "libertäre" Traumtänzer begeistert. Man darf nun gespannt sein, mit welchen Personen und welchen Parolen sie es verändern möchten, um aus dem Tal der Tränen wieder herauszufinden. Ob sie am Ende doch noch entdecken, daß die Freiheit des Einzelnen auf sozialen Voraussetzungen gründet?