Udo Leuschner / Geschichte der FDP (50)

16. Bundestag 2005 - 2009


Es reicht wieder nicht

Die FDP feiert einen Wahlerfolg, verdankt ihn aber größtenteils ehemaligen Wählern der Unionsparteien

Die Bundestagswahl am 18. September 2005 war für die FDP ein großer Erfolg. Mit 9,8 Prozent der Stimmen konnte sie sich gegenüber dem Ergebnis vom September 2002 um 2,4 Prozentpunkte verbessern. Die Zahl ihrer Sitze im Bundestag stieg von 47 auf 61. Sie wurde nun wieder drittstärkste Fraktion im Parlament. Außerdem überholte sie, wie schon 1980 und 1990, sogar die CSU und wurde auch drittstärkste Partei.

 
Parteien Prozent 2005 Prozent 2002 Sitze 2005 Sitze 2002
CDU 27,8 29,5 180 190
CSU 7,4 9,0 46 58
SPD 34,2 38,5 222 251
FDP 9,8 7,4 61 47
Grüne 8,1 8,6 51 55
Die Linke 8,7 4,0 54 2
Sonstige 4,0 3,0 - -
Wahlberechtigte: 61 870 195 / Wähler: 48 044 841 / Gültige Stimmen: 47 194 539 / Wahlbeteiligung: 77,7 % (gegenüber 79,1 % im Jahr 2002) / 16 Überhangmandate für SPD (9) und CDU (7)


Zugleich war das Wahlergebnis aber auch eine große Enttäuschung. Denn während die FDP um 2,4 Prozent zulegte, kamen CDU und CSU insgesamt 3,3 Prozent der Stimmen abhanden. Bisher fehlten Union und FDP 43 Sitze zur Mehrheit. Jetzt waren es noch 21. Nach wie vor verfügten sie also über keine hinreichende Zahl von Abgeordneten, um einer schwarz-gelben Koalition die Mehrheit zu sichern.

SPD und Grüne hatten sich besser behaupten können, als fast alle Auguren vorhergesagt hatten. Der SPD liefen zwar die Wähler nach allen politischen Richtungen davon – am stärksten zur Linken und zur CDU hin – , aber letztendlich konnte sie mit 34,2 Prozent der Stimmen gegenüber 38,5 Prozent bei den vorangegangenen Bundestagswahlen noch immer sehr zufrieden sein. Die Grünen mußten ebenfalls kräftig an Linke und Union abgeben, profitierten aber vom Verfall der Sozialdemokraten und kamen so immer noch auf 8,1 Prozent gegenüber 8,6 Prozent im September 2002.

Die Union hatte dagegen per Saldo rund 1.110.000 Wähler an die FDP verloren, wie das Umfrageinstitut Infratest-Dimap herausfand. Diesen Tiefschlag konnten auch die 750.000 Wähler nicht heilen, die früher Rot-Grün gewählt und nun für die Unionsparteien gestimmt hatten. Es hatte also eine Wählerwanderung von den Unionsparteien zur FDP stattgefunden, die sämtliche Zugewinne der Union an den anderen Fronten deutlich überstieg.

Die Linke bringt die gewohnte Wahlarithmetik durcheinander

Die Wahlbeteiligung war inzwischen mit 77,7 Prozent so gering wie noch nie bei Bundestagswahlen. Darunter litt besonders die Union, der auf diese Weise rund 640.000 Wähler abhanden kamen. Bei der FDP waren es 120.000. Die einzige Partei, die das große Reservoir der Nichtwähler nicht vermehrte, sondern sogar kräftig daraus schöpfen konnte, war die Linke. Offenbar aktivierte sie Arbeitslose und andere Wahlberechtigte, die von den etablierten Parteien nichts mehr erhofft hatten.

Bei den Bundestagswahlen 2002 hatte die Linke nur zwei direkt gewählte Abgeordnete ins Parlament entsenden können, weil sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten hatte. Nunmehr verfügte sie plötzlich über 54 Abgeordnete und brachte dadurch die Wahlarithmetik der etablierten Parteien durcheinander: Sowohl die bisherige rot-grüne Koalition als auch ein schwarz-gelbes Bündnis verfügten über keine Mehrheit im Parlament. Beide brauchten jeweils einen Dritten als Partner. Rein rechnerisch ergaben sich so als mögliche politische Farbenmischungen rot-grün-rot, rot-grün-gelb ("Ampel"), schwarz-gelb-grün ("Jamaika") oder rot-schwarz (Große Koalition).

Der entscheidende Faktor, der einer schwarz-gelben Koalition und damit der Regierungsbeteiligung der FDP im Wege stand, war somit die neue Linke, die mit 8,7 Prozent mehr als doppelt soviel Stimmen auf sich vereinte wie die PDS drei Jahre zuvor. Als einzige Partei konnte die Linke per Saldo durchweg Zugewinne verzeichnen: Am stärksten zu Lasten der SPD, der sie fast eine Million Wähler abnahm. Dann folgten ehemalige Wähler von Union und Grünen. Sogar der FDP vermochte sie rund 100.000 Wähler abspenstig zu machen. Vermutlich handelte es sich dabei um letzte Reste der linksliberalen Anhänger, die nun aus mehr taktischer Überlegung als innerer Überzeugung für die einzige Partei stimmten, die dem neoliberalen Marktradikalismus den Kampf ansagte. Früher wäre diese linksliberale Klientel eher zu den Grünen abgewandert. Aber auch die Grünen hatten sich in den beiden rot-grünen Koalitionsjahren dem Neoliberalismus geöffnet und durch ihre Beteiligung am Sozialabbau der Schröder-Regierung kompromittiert.

Das Gespenst der Großen Koalition nimmt leibhaftige Gestalt an

Am 11. November unterzeichneten CDU/CSU und SPD den Koalitionsvertrag. Die CDU-Chefin Angela Merkel wurde Bundeskanzlerin, der Schröder-Vertraute Müntefering Vizekanzler und Arbeitsminister. Hinzu kamen jeweils sieben Ministerposten, von denen auf seiten der Union zwei auf die CSU entfielen. Das Gespenst der Großen Koalition, das sich kurz vor den Bundestagswahlen abgezeichnet hatte, nahm damit leibhaftige Gestalt an.

Die Möglichkeit zu einer Koalition mit anderen Parteien als der Union hatte sich die FDP selber verbaut, als sie auf einem Sonderparteitag am 11. September 2005 einstimmig einen Wahlaufruf verabschiedete, in dem es wörtlich hieß:

Für die FDP ist klar: Schwarz-Gelb ist die einzige Koalition, die den Politikwechsel für einen wirklichen neuen Anfang ermöglicht. Deshalb ist Schwarz-Gelb die einzige Koalition, die für die FDP im nächsten Deutschen Bundestag in Betracht kommt.

Wegen dieser Festlegung auf die CDU als Koalitionspartner, die auch in anderen Verlautbarungen mehr oder weniger kategorisch formuliert worden war, konnte sich die FDP nun nicht der SPD als dritter Partner in einer "Ampelkoalition" mit den Grünen andienen. Auch sonst waren alle Weichen in Richtung auf eine Große Koalition gestellt: Eine rot-grün-rote Koalition kam wegen der konträren Positionen weder für die SPD noch für die Linke in Frage. Und die Grünen fürchteten zu Recht den Zorn ihrer Wählerbasis, wenn sie den Rechtsparteien in einer "Jamaika"-Koalition über die Hürden helfen würden.

Westerwelle mokiert sich über "Liebesbriefe" der SPD

Trotzdem schienen die Sozialdemokraten zunächst zu glauben, sie könnten die FDP für eine "Ampel"-Koalition gewinnen. Das erste Indiz dafür war ein allgemein als peinlich empfundener Auftritt des noch amtierenden Bundeskanzlers Gerhard Schröder in einer Fernseh-Runde unmittelbar nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses. Schröder war wohl zu Kopf gestiegen, daß seine Niederlage nicht ganz so verheerend ausgefallen war wie dies fast alle Beobachter erwartet hatten. Jedenfalls erweckte er nun den Anschein, als wolle und könne er weiter regieren: Die Anrede mit "Herr Bundeskanzler" veranlaßte ihn zu der giftigen Bemerkung: "Ist ja schön, daß Sie mich noch so ansprechen". Und als ein anderer Journalist meinte, er wisse nicht, wie Schröder eine neue Regierung bilden wolle, erwiderte der Noch-Bundeskanzler: "Das ist Ihr intellektuelles Problem."

Tatsächlich unternahm die SPD gleich nach der Wahl verschiedene Versuche, mit der FDP ins Gespräch zu kommen. Mit ihren Avancen handelte sie sich aber nur eine höhnische Abfuhr ein. Auf Wunsch des FDP-Vorsitzenden Westerwelle bekräftigte das Präsidium der Partei noch am Wahlabend einstimmig, daß eine "Ampel" mit SPD und Grünen nicht in Frage komme. Zwei Tage später ironisierte Westerwelle vor der Presse die Kontaktangebote des SPD-Vorsitzenden Müntefering als "Liebesbriefe". Das Werben der SPD um die FDP sei "fast schon eine unsittliche Belästigung". Die SPD-Spitze werde damit keinen Erfolg haben, selbst wenn sie sich vor der Parteizentrale der FDP anketten sollte...

Auch eine "Jamaika"-Koalition scheidet aus

Nicht ganz so eindeutig war die Haltung der FDP-Spitze zunächst, was die Möglichkeit einer "Jamaika"-Koalition betraf. Auch hier kam man um den Beschluß des Sonderparteitages nicht herum. Man konnte aber doch damit argumentieren, daß die Festlegung auf eine schwarz-gelbe Koalition unter den gegebenen Umständen die Erweiterung des Bündnisses um die Grünen notwendig machen könne.

Zum Wortführer dieser Auslegung machte sich das alte Schlitzohr Hans-Dietrich Genscher. "Wir haben beschlossen, Schwarz-Gelb zu machen", sagte er im Präsidium. "Was wir nicht beschlossen haben, ist, in die Opposition zu gehen."

Genscher mag dabei noch an frühere Oppositionszeiten gedacht haben, in denen die FDP um ihre Existenz kämpfen mußte. Sein politischer Ziehsohn Guido Westerwelle sah das aber anders. "Klarheit hat gesiegt" rief er schon kurz nach Schließung der Wahllokale seinen Mitstreitern in der Parteizentrale zu. "Für eine Ampel und andere Hampeleien stehen wir nicht zur Verfügung."

Für diese Absage gab es gute Gründe, wenn man bedenkt, daß die FDP ihrem Wunschpartner eben erst mehr als eine Million Stimmen abgenommen hatte. Sie bekam sie unter der Voraussetzung, daß sie mit der Union und keinem anderen koalieren würde. Das Mandat für "Jamaika" war nicht inbegriffen. "Meine Person und Jürgen Trittin in einem Kabinett, das wäre doch Realsatire", hatte Westerwelle schon vor dem Koalitionsbeschluß des Sonderparteitages getönt. Und die Grünen hatten Kondome verteilt, auf denen "Guido verhüten" stand...

Westerwelle war auch zu jung, um jene Phase der Partei miterlebt zu haben, in der die Opposition für sie tödlich und die Vertretung im Kabinett so unentbehrlich war wie für einen Vampir der Unterschlupf im Sarg angesichts der Morgenröte. Westerwelles Karriere in der FDP begann während der sechzehn Jahre dauernden Koalition mit Helmut Kohl als Bundeskanzler. Die letzten Stufen zum Parteivorsitzenden erklomm er in den vergangenen sieben Jahren, als die FDP in der Opposition war. Und die "putzmuntere Opposition", die er 1998 angekündigt hatte, war der Partei augenscheinlich bekommen. Es gab also überhaupt keinen Grund für ihn, weitere vier Jahre der Opposition für eine existentielle Bedrohung der Partei zu halten. Vielleicht ahnte er sogar bereits, daß es ihm in diesen vier Jahren gelingen würde, noch mehr Wähler von den Unionsparteien abzuziehen.

Zum ersten Mal war die FDP in der Opposition stärker geworden

Traditionell war die Oppositionsrolle für die FDP ein Stadium der Auszehrung, indem sie nur notdürftig überlebte, um dann über eine Regierungsbeteiligung wieder an die Fleischtöpfe und damit zu Kräften zu kommen. Zum ersten Mal erging ihr das so, als sie 1956 Adenauer die Gefolgschaft aufkündigte. Aus purer Angst vor der Opposition brach sie nach den Bundestagswahlen 1961 ihr Wahlversprechen und akzeptierte Adenauer erneut als Bundeskanzler. Dies war der berühmte "Umfall", der ihr noch lange als Stigma anhaften sollte.

Nach der Bildung der Großen Koalition unter Kiesinger schien der FDP gar das Sterbeglöcklein zu läuten. Auch deshalb wandelte sie sich damals in der Opposition zu einer wirklich liberalen Partei. Mit nur noch 5,8 Prozent der Stimmen erreichte sie bei den Bundestagswahlen 1969 das rettende Ufer und regenerierte sich in der nun folgenden Regierungsphase mit den Sozialdemokraten auf bis zu 8,4 Prozent.

Der mutwillig herbeigeführte Bruch der sozialliberalen Koalition und das erneute Bündnis mit der Union ab 1982 dürfte ebenfalls aus Angst vor der drohenden Oppositionsrolle erfolgt sein. Denn mit der Regierung Schmidt ging es abwärts, und das linksliberale Potential, das die FDP zeitweilig angesprochen hatte, wurde zunehmend von der neuen Partei der Grünen vereinnahmt. Trotz oder wegen dieses abrupten Kurswechsels errang sie in den sechzehn Jahren Regierungsbeteiligung mit Kohl als Bundeskanzler zwischen sieben und elf Prozent.

Mit der Bildung der rot-grünen Koalition 1998 befand sich die FDP zum drittenmal in ihrer nunmehr fünfzigjährigen Geschichte in der mißlichen Lage einer Oppositionspartei. Nach der längsten Phase ihrer Regierungsbeteiligung begann für sie nun auch die längste Durststrecke, die bis 2009 dauern sollte. Erstaunlicherweise bekam ihr diese Durststrecke aber ganz gut und wesentlich besser als den Unionsparteien. Es lag an der Schwäche der Union, daß 2005 trotz der auf 9,8 Prozent erstarkten FDP keine schwarz-gelbe Regierung zustande kam.

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