Udo Leuschner / Geschichte der FDP (34)

13. Bundestag 1994 - 1998


Vom Ordo- zum Neoliberalismus

Mit ihren "Wiesbadener Grundsätzen" huldigt die FDP der neuen Markt-Ideologie

Seit den achtziger Jahren und besonders seit dem Zusammenbruch des östlichen Lagers gewann in allen Industriestaaten eine aggressive Markt-Ideologie die Oberhand, die als "Neoliberalismus" bekannt und berüchtigt wurde. Dieser Neoliberalismus war eigentlich eher ein Neokonservativismus. Für viele Menschen wurde der Begriff "Neoliberalismus" gleichbedeutend mit der Rückkehr zum Manchester-Liberalismus des 19. Jahrhunderts, sozialem Kahlschlag, "Raubkapitalismus", spekulativem "Kasino-Kapitalismus" und hemmungsloser Bereicherung der ohnehin schon Reichen.

Die FDP ließ sich auf ein riskantes Spiel ein, wenn sie glaubte, ihr blau-gelbes Fähnlein in diesen Wind hängen zu können, der soziale Kälte verströmte und erkennbar aus der rechten Ecke blies. Im Bundestagswahlkampf 1994 setzte sie dennoch erklärtermaßen auf die Minderheit von "Besserverdienenden", denen der neue Sozialdarwinismus schmeichelte, da sie sich als "Leistungsträger" auf der Seite der Gewinner sahen. Vor allem der neue Generalsekretär Guido Westerwelle gerierte sich als Verkörperung solcher "Yuppies".

Die Wahlergebnisse waren jedoch eindeutig, und der Parteiführung dämmerte, daß sie mit plakativen Bekenntnissen zum Neoliberalismus die Talfahrt nur beschleunigen konnte. Schon auf dem Parteitag in Gera im Dezember 1994 versuchte Westerwelle zurückzurudern, indem er die FDP als "Partei der Leistungsbereiten" bezeichnete und hinzufügte: "Das ist etwas anderes als die Partei der Besserverdienenden." Drei Jahre später erklärte auch der FDP-Ehrenvorsitzende Genscher, der Slogan von der "Partei der Besserverdienenden" sei ein schlimmer Fehler gewesen.

Lambsdorff empört sich über die "mißbräuchliche Benutzung des Wortes neoliberal"

Im November 1997 wurde der FDP-Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff in einem Interview mit dem evangelischen "Sonntagsblatt" darauf angesprochen, daß er und Westerwelle die "engagiertesten Vertreter des Neoliberalismus in der deutschen Politik" seien. Lambsdorff widersprach dieser Einschätzung nicht. Er wandte sich aber gegen die "mißbräuchliche Benutzung des Wortes neoliberal, das inzwischen ja geradezu als Schimpfwort erhalten muß".

Lambsdorff verwies empört darauf, daß sich schon Ludwig Erhard zum Neoliberalismus bekannt habe. So wie dieser wolle auch er "niemals Marktwirtschaft ohne soziale Verpflichtung". Allerdings müsse man "Einschnitte verlangen", und das heiße "nicht nur Umbau, sondern Abbau". Es müsse ein Ende damit haben, daß ein Drittel des Bruttosozialprodukts vom Staat unter sozialen Gesichtspunkten umverteilt werde. Dieses Ausmaß an sozialer Fürsorge verderbe "letztlich die Menschen und auch die gesellschaftliche Ordnung". Der "Vollkaskostaat" beseitige mit dem existentiellen Druck den notwendigen Leistungsanreiz: "Es verdirbt die Seelen der Menschen, wenn man ihnen beibringt, sie könnten sich schon darauf verlassen, daß die anderen arbeiten und Steuern zahlen und sie durchfüttern."

Lambsdorff hatte sicher recht damit, daß der Neoliberalismus keine Erfindung der Gegenwart war und daß die FDP seit jeher neoliberale Positionen vertreten hatte. Zugleich verwischte er allerdings den bedeutenden Unterschied zwischen dem älteren Neoliberalismus, wie ihn in Deutschland die "Ordo-Liberalen" vertraten, und dem neueren Neoliberalismus, wie er maßgeblich durch Friedrich August von Hayek und den US-Amerikaner Milton Friedman geprägt worden war. Um diesen Unterschied zu verstehen, soll hier wenigstens skizziert werden, wie sich der heutige Neoliberalismus als aggressive politische Heilslehre aus dem "Ordo-Liberalismus" bzw. dem klassischen Neoliberalismus entwickelt hat - beides übrigens Begriffe, die bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts nur Nationalökonomen geläufig waren.

Ordo-Liberalismus und "soziale Marktwirtschaft"

Der ältere Neoliberalismus entsprang der Einsicht, daß der klassische liberale Nachtwächter-Staat wohl doch nicht die ideale Lösung sei. Den Anschauungsunterricht lieferten die Weltwirtschaftskrise und die Agonie der Republik von Weimar. So entstand Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts die "Freiburger Schule" um den Nationalökonomen Walter Eucken. Sie verlangte vom Staat aktives Eingreifen, um den Wettbewerb auf allen Gebieten als Voraussetzung für wirtschaftlichen Fortschritt und politische Freiheiten zu garantieren. Dieser "Ordo-Liberalismus" predigte keineswegs die Rückkehr zum Manchester-Liberalismus. Im Gegenteil: Er vertrat eine vergleichsweise moderate, geläuterte Form des alten Wirtschaftsliberalismus, indem er die Ordnungsfunktion des Staates auch im Bereich der Wirtschaft anerkannte und wenigstens ein Minimum an sozialer Absicherung für notwendig hielt. Allerdings handelte es sich um Überlegungen eines akademischen Zirkels. In der Praxis herrschte bald der Nationalsozialismus.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde mit Ludwig Erhard - der zunächst der FDP beitreten wollte und sich erst auf Anraten Thomas Dehlers der CDU anschloß - ein Ordo-Liberaler zur Galionsfigur des "Wirtschaftswunders". Indessen war die "soziale Marktwirtschaft" nicht die reine Lehre des Ordo-Liberalismus und auch nicht die Erfindung Ludwig Erhards. Der eigentliche Urheber des Begriffs "soziale Marktwirtschaft" war Erhards Staatssekretär Alfred Müller-Armack, der sich dabei ebenso von der katholischen Soziallehre wie vom Ordo-Liberalismus inspirieren ließ.

Die Bundesrepublik ist mit der "sozialen Marktwirtschaft" Jahrzehnte lang gut gefahren. Der Begriff und die damit verbundene Praxis entsprachen der besonderen Situation, die sich nach dem zweiten Weltkrieg durch die Konfrontation des kommunistischen Lagers mit dem hochentwickelten Teil der kapitalistischen Welt ergab. Ein Schuß katholischer Soziallehre milderte dabei die weniger schönen Seiten der reinen Lehre des Ordo-Liberalismus, die weiterhin eine recht akademische Angelegenheit blieb und deshalb den sozialen Frieden nicht störte. Der Einfachheit halber wurden "soziale Marktwirtschaft" und Ordo-Liberalismus häufig gleichgesetzt.

Die "Mont-Pèlerin-Gesellschaft" wird zum Zentrum einer neuen Heilslehre

Aus und neben dem Ordo-Liberalismus entwickelte sich - zunächst unbeachtet - eine sektenartige Vereinigung von Nationalökonomen, die erstmals 1947 im schweizerischen Kurort Mont-Pèlerin zusammentraf. Führende Vertreter dieser "Mont-Pèlerin-Gesellschaft", deren Mitglieder fortan regelmäßig zusammenkamen, waren Friedrich August von Hayek und Milton Friedman. Aber auch Ludwig Erhard nahm an Tagungen teil, und zu den Gründungsmitgliedern gehörte sein Berater Wilhelm Röpke. Unter dem Einfluß des Kalten Kriegs und US-amerikanischer Theoretiker bekam der Zirkel eine aggressive Stoßrichtung gegen Gewerkschaften und Sozialdemokratie sowie gegen staatliche Eingriffe nach Art des "New Deal", mit dem Roosevelt die USA aus der Weltwirtschaftskrise herausgeführt hatte. Vor allem Hayek beseitigte die rationalistischen Elemente des Ordo-Liberalismus, der so hieß, weil er daran glaubte, die Wirtschaft im Sinne einer vernünftigen Ordnung gestalten zu können. Für Hayek war es dagegen unmöglich und anmaßend, Wirtschaft als rationalen Prozeß gestalten zu wollen. Stattdessen setzte er blindes Vertrauen in das freie Spiel der Marktkräfte, die alles optimal richten, sofern der Staat für die Ausschaltung hemmender Faktoren sorgt.

Die Anhänger der Mont-Pèlerin-Gesellschaft verstanden sich als Vordenker einer neuen kapitalistischen Ordnung, die "Freiheit" nicht mit "Gleichheit" verbindet, sondern Ungleichheit als Notwendigkeit ansieht. Im Grunde predigten sie tatsächlich so etwas wie die Rückkehr zum Manchester-Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Allerdings - und darin bestand das "Neo" bei dieser Neuauflage des Manchester-Liberalismus - wollten sie keinen schwachen "Nachtwächter-Staat", der sich damit begnügt, die bürgerlichen Freiheiten zu garantieren und die Einhaltung der Gesetze zu überwachen. Sie wollten vielmehr einen starken Staat, der mit großer Härte gegen alles vorgeht, was das freie Spiel der Marktkräfte beeinträchtigt, etwa gegen Kartellbildungen, starke Gewerkschaften oder politische Kräfte wie die Sozialisten.

Für Hayek besteht Freiheit "ausschließlich in der Abwesenheit von willkürlichem Zwang"

In der Ausgabe 1960/61 von "Ordo - Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft" erläuterte Hayek seinen Begriff von Freiheit dahingehend, "daß die Forderung nach individueller Freiheit in letzter Linie auf der Einsicht in die unvermeidliche Begrenztheit unseres Wissens beruht". Diese individuelle Freiheit dürfe indessen nicht mit der Abwesenheit von politischem, geistigem und ökonomischem Zwang verwechselt werden:

"Politische Freiheit im Sinne von Demokratie, 'innere' Freiheit, Freiheit im Sinne des Fehlens von Hindernissen für die Verwirklichung unserer Wünsche oder gar 'Freiheit von' Furcht und Mangel haben wenig mit individueller Freiheit zu tun und stehen oft in Konflikt mit ihr. (...) Die Freiheit, um die es sich hier handelt, die allein als allgemeines Prinzip der Politik dienen kann und die auch das ursprüngliche Ziel aller freiheitlichen Bewegungen war, besteht ausschließlich in der Abwesenheit von willkürlichem Zwang."

"Wirksame Verteidigung der Freiheit muß dogmatisch und doktrinär sein"

"Freiheit" im Sinne von Hayek meint demnach nichts weiter als die Einhaltung der Gesetze, die für alle zu gelten hätten. Hayek hat auch nichts gegen Zwang, sofern dieser systematisch-vorhersehbar und nicht willkürlich ausgeübt wird. Der Inhalt dieses Zwangs bzw. der Gesetze ist allerdings nicht beliebig. Beispielsweise darf er keinesfalls eine "staatliche Kontrolle" des Wirtschaftsprozesses bezwecken. Kompromißlosen Zwang hält Hayek hingegen dort für angebracht, wo das neoliberale Gesellschaftsmodell in Frage gestellt wird. Denn es sei keineswegs sicher, daß es sich beim Vergleich mit "staatlicher Kontrolle" als das zweckmäßigere System erweise: "Eine wirksame Verteidigung der Freiheit muß daher notwendig unbeugsam, dogmatisch und doktrinär sein und darf keine Zugeständnisse an Zweckmäßigkeitserwägungen machen."

Hayeks "Freiheits"-Begriff ist seltsam inhaltsleer, genügt sich selbst, referiert sich ständig selbst. Er ist im Grunde nichts weiter als eine Phrase. Er ist sogar anti-liberal, indem er um eines angeblich höheren Prinzips willen die konkrete Freiheit opfert, die aus der Freiheit von politischem, geistigem und ökonomischem Zwang besteht. Dieses höhere Prinzip ist nicht rational darstellbar und beweisbar. Es ist in seiner Effizienz auch nicht unbedingt der "staatlichen Kontrolle" überlegen (diese Warnung in dem 1960 verfaßten Aufsatz von Hayek scheint dem Schock entsprungen zu sein, den damals die sowjetischen "Sputnik"-Erfolg auslösten). Dieses höhere Prinzip ist vielmehr ein Glaube, nämlich der Glaube an die "unsichtbare Hand" des Marktes, die schon bei Adam Smith alles zum besten regelt. Das ist aber auch schon das einzige, was Hayek mit Smith verbindet. Mit der paradoxen Forderung, daß sich der Staat einerseits aus der Wirtschaft herauszuhalten habe und andererseits ständig für die Herstellung von Ungleichheit und Wettbewerb sorgen müsse, übernimmt der moderne Neoliberalismus durchaus Elemente jenes sowjetischen Totalitarismus, gegen den er sich wendet. Denn auch seine Erwartung, daß sich die politischen Freiheiten quasi von selbst aus einem funktionierenden Kapitalismus ergeben, ist nichts weiter als ein frommer Glaube.

Popper füllt die Leere von Hayeks Freiheits-Begriff mit der "offenen Gesellschaft"

Daß eine derart doktrinäre Ideologie reüssieren und auch noch als liberal gelten konnte, läßt sich nur vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs verstehen. Ein Verehrer Hayeks und Teilnehmer am ersten Mont-Pèlerin-Gespräch, Karl Raimund Popper, hat die Leere dieser neoliberalen Freiheitsideologie mit dem Begriff der "offenen Gesellschaft" auszufüllen versucht. Aber auch dieser Begriff wirkt inzwischen obsolet. - Er sei von Anfang an "nur das Skelett einer Idee" gewesen und von Popper nie hinreichend vertieft worden, schrieb der 73jährige Ralf Dahrendorf im Juli 2002 in der "Neuen Zürcher Zeitung". Auch aus Höflichkeit und Dankbarkeit habe Popper sich nie mit seinem Mentor angelegt: "Er war Hayek so dankbar für die Stelle an der London School of Economics, daß der mögliche Disput zwischen zwei durchaus verschiedenen Liberalen nie stattfand."

So konnte der Eindruck entstehen, als habe der Neoliberalismus den Begriff der "offenen Gesellschaft" zu Recht in Erbpacht genommen. Indessen paßt die anti-totalitäre und anti-ideologische Stoßrichtung von Poppers Denkansatz kaum zum Neoliberalismus mit seiner ausgeprägten Neigung zu politisch-ideologischen Gewaltmärschen. Der Begriff der "offenen Gesellschaft" könnte sich mit unzweifelhaft liberalem Inhalt erfüllen, wenn es ihm gelingt, die antikommunistischen Eierschalen abzustreifen und den Erbpachtvertrag mit dem Neoliberalismus zu kündigen. Ansätze zu einer solchen Kündigung gibt es bereits, etwa bei George Soros.

Der Neoliberalismus hat zunächst keine Chancen gegenüber dem Keynesianismus

Von Anfang hatten die Mont-Pèlerinisten die Absicht, in ihrem Sinne Einfluß auf die Politik nehmen. Daraus wurde aber vorerst nichts. Die erlauchten Geister schmorten mehr als zwei Jahrzehnte lang im eigenen Saft. Im ideologischen Wettstreit der Systeme waren ihre Vorstellungen nicht vorzeigbar. Sie taugten allenfalls zur Diskreditierung des Westens. Auch gedieh der Kapitalismus beiderseits des Atlantiks so prächtig, daß der großen Mehrheit die Rückkehr zu einem gnadenlosen Manchester-Liberalismus so verrückt erschienen wäre wie die Rückkehr ins 19. Jahrhundert schlechthin.

Ihren schwersten Stand hatten die Apologeten des Neoliberalismus Ende der sechziger Jahre, als das Wirtschaftswunder in die erste Rezession mündete. Am 10. Mai 1967 verabschiedete der Bundestag mit großer Mehrheit das "Gesetz über Stabilität und Wachstumsförderung der Wirtschaft" mit den dafür notwendigen Grundgesetzänderungen. Auch die oppositionelle FDP stimmte diesem Gesetz zu, das dem Staat eine aktive Rolle zur Glättung und Milderung von Konjunkturschwankungen zuwies. Die Politiker befolgten damit die Ratschläge des Nationalökonomen John Maynard Keynes. Die Theorie von Keynes galt damals als ultima ratio der Wirtschaftspolitik. Der Manchester-Liberalismus war sowieso diskreditiert. Man sah ihn ihm ein dunkles Kapitel der Menschheitsgeschichte, ähnlich den Hexenverbrennungen des Mittelalters. Aber auch der "Ordo-Liberalismus", der die Jahre des Wirtschaftswunders theoretisch begleitet hatte, wirkte nun so verstaubt, daß selbst die FDP sich seiner zu genieren begann und mit den "Freiburger Thesen" von 1971 völlig neue Akzente setzte.

Auch die Auguren des "Marxismus-Leninismus" sahen den Neoliberalismus praktisch als tot an und strichen ihn von der Liste ernstzunehmender ideologischer Gegner: "Die neue Etappe staatsmonopolistischer Entwicklung bedingt grundsätzlich das Zuendegehen des neoliberalen Einflusses", hieß es in einer SED-offiziellen Darstellung der "Bürgerlichen Ökonomie im modernen Kapitalismus", die 1967 erschien. "Die gegenwärtige Wirtschaftsentwicklung Westdeutschlands beschleunigte diesen Prozeß und versetzte dem ORDO-Liberalismus endgültig den Todesstoß."

Der Pinochet-Berater Milton Friedman erhält den Nobelpreis für Wirtschaft

Die Stunde des runderneuerten Neoliberalismus à la Hayek und Milton Friedman schlug erst, als Mitte der siebziger Jahre die keynesianischen Rezepte nicht mehr griffen. Die Wende markierte die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaft an Hayek (1974) und Friedman (1976). Friedman war damals schon Berater des chilenischen Diktators Pinochet, der 1973 die demokratisch gewählte Regierung Allende gestürzt hatte. Der Schwede Gunnar Myrdal, der 1974 zusammen mit Hayek ausgezeichnet worden war, gab deshalb aus Protest seinen Nobelpreis zurück.

Als erstes Land der Welt setzte das despotisch regierte Chile die neoliberalen Rezepte der "Chicago-Boys" um Milton Friedman in politische Praxis um. Ein starker Staat, der auch vor Mord und Folter nicht zurückschreckte, sorgte dafür, daß alles wie im Bilderbuch ablief: Die Deregulierung der Wirtschaft, die Massenarbeitslosigkeit, die Unterdrückung der Gewerkschaften, die Privatisierung öffentlicher Betriebe, die allgemeine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der ohnehin schon Reichen usw.

Auch Thatcher und Reagan bekennen sich zum Neoliberalismus

Der zweite Regierungschef, der sich für den Neoliberalismus erwärmte, war die konservative britische Ministerpräsidentin Margaret Thatcher. Nachdem sie 1979 an die Macht gekommen war, verordnete sie zum ersten Mal einem hoch entwickelten Staat der kapitalistischen Welt eine derartige Roßkur, wie sie Chile vorgeführt hatte. Notfalls setzte sie Polizei gegen streikende Arbeiter ein. Mord und Folter gab es zwar nicht, aber aus ihrer Bewunderung für Pinochet machte die Dame nie einen Hehl.

Ein Jahr später - 1980 - wurde Ronald Reagan Präsident der USA und erhob den Neoliberalismus zum Credo der führenden Weltmacht. Von seinem geistigen Format her dürfte Reagan kaum in der Lage gewesen sein, die philosophischen und wirtschaftstheoretischen Grundlagen des Neoliberalismus zu verstehen. Er vertrat ihn mehr instinktiv, aus jenem US-amerikanischen Gesellschaftsverständnis heraus, das über die US-Ökonomen zuvor in die Debatten der Mont-Pèlerinisten eingeflossen war. Jedenfalls sorgte auch er dafür, daß es den Armen noch schlechter ging und die Reichen noch reicher wurden. Für die höheren Weihen sorgte wiederum das Nobelpreis-Komitee, indem es 1982 einem weiteren Gründungsmitglied der Mont-Pèlerin-Gesellschaft, dem US-Ökonomen Georges Joseph Stiegler, den Nobelpreis für Wirtschaft zuerkannte.

Die Nobelpreise für Hayek, Friedman und Stiegler gaben einerseits der neoliberalen Propaganda starken Auftrieb, ramponierten aber andererseits den Ruf der jungen Auszeichnung: Der Nobelpreis für Wirtschaft war erst 1968 von der schwedischen Reichsbank gestiftet und den seit 1901 verliehenen Nobelpreisen hinzugefügt worden. Der Industrielle Alfred Nobel, aus dessen Vermögen die "echten" Nobelpreise finanziert werden, hatte nie die Absicht, einen Preis für Wirtschaftswissenschaften zu stiften. Als Praktiker der Wirtschaft hielt er auch gar nichts von ökonomischen Theoretikern.

Die sozialliberale Koalition zerbricht an einem neoliberalen Grusel-Katalog

So war die Situation, als führende FDP-Politiker 1982 den Bruch der sozialliberalen Koalition betrieben. Das Lambsdorff-Papier, das die Koalition endgültig sprengte und auch nichts anderes bezwecken sollte, war ein Gruselkatalog neoliberaler Zumutungen, den nicht einmal die CDU unterschreiben wollte. Offenbar glaubten Genscher, Lambsdorff und die anderen Betreiber der "Wende", mit dem Rückenwind des neoliberalen Zeitgeistes zu marschieren. In der immer noch stark "sozialpartnerschaftlich" geprägten Bundesrepublik marschierten sie aber eher in eine Sackgasse: Zuerst wurden sie von den Wählern abgestraft, die im Verhalten der FDP schlicht Verrat erblickten, und dann erwies sich auch das Zwischenhoch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre als nur von kurzer Dauer. Allein der unerwartete Zusammenbruch der DDR und des ganzen östlichen Imperiums rettete Union und FDP vor der Abwahl. Zugleich bekam der Neoliberalismus gewaltigen Auftrieb, indem er sich - dem tapferen Schneiderlein aus dem Märchen ähnlich - als Überwinder des östlichen Systems präsentierte, dem nun in der ganzen Welt niemand mehr widerstehen könne. Sogar ausgesprochener Schwachsinn wie die neoliberale These vom "Ende der Geschichte" wurde nun einer ernsthaften Diskussion für würdig befunden.

Der Begriff Neoliberalismus - der früher eine eher akademische Wirtschafts- und Sozialtheorie bezeichnete und nur Nationalökonomen geläufig war - stand inzwischen für eine neokonservative Heilslehre. Schuld daran hatten nicht nur Politiker wie Pinochet, Thatcher oder Reagan, sondern ebenso neoliberale Theoretiker wie Hayek und Friedman. Mit ihrem langjährigen Erzfeind, dem Kommunismus, teilten sie die Überzeugung, daß es entscheidend auf den ökonomischen Unterbau der Gesellschaft ankomme. Im Unterschied zu den kommunistischen Ideologen, die den ökonomischen Unterbau durch staatliche Planung bis ins Detail rational gestalten wollten, hielten sie es aber für völlig unmöglich, den Wirtschaftsprozeß rational beeinflussen zu können. Stattdessen mystifizierten sie das freie Spiel der Kräfte zum alleinseligmachenden Prinzip der Gesellschaft und beschränkten die Ordnungsfunktion des Staates darauf, alles mit eisernem Besen hinwegzufegen, was dieses freie Spiel gefährden könnte.

Ein FAZ-Kommentar offenbart die totalitären Züge des Neoliberalismus

Zum politischen Liberalismus, der primär für Bürgerrechte, Demokratie und menschenwürdige Lebensverhältnisse kämpft, trat der Neoliberalismus damit in schroffen Gegensatz. Er nahm sogar totalitäre Züge an, wie der folgende Kommentar zeigt, mit dem die neoliberale "Frankfurter Allgemeine" am 12. September 1973 den Putsch der faschistischen Militärjunta in Chile begrüßte:

"Den Versuch, einen dogmatisch-doktrinären, marxistischen Sozialismus auf demokratischem Wege einzuführen, hat Chile mit schweren wirtschaftlichen und politischen Schäden teuer bezahlen müssen. Anarchie und Chaos breiteten sich in den letzten Wochen immer schneller aus. Im Augenblick der höchsten Gefahr konnten sich die Streitkräfte ihrer Verantwortung nicht mehr länger entziehen. Die politischen Spannungen, die Allendes mißglücktes Volksfrontexperiment in Chile erzeugt hatten, drängten mit Macht zur Entladung. Der Versuch, den Zusammenstoß zu verhindern, mußte gemacht werden."

Aus der Sicht des Leitartiklers der FAZ war also der Sturz der verfassungsmäßigen Regierung in Chile gerechtfertigt und sogar geboten, weil diese auf demokratischem Wege versucht hatte, das freie Spiel der Marktkräfte einzuschränken. Etwa nach dem Motto: Lieber eine Militärdiktatur als sozialistische Experimente! Der Neoliberalismus decouvrierte sich damit als anti-liberale Ideologie. Zugleich hatten die neoliberalen Episteln der FAZ eine verheerende Signalfunktion: Sie bestärkten damals viele Anhänger der zerfallenden "außerparlamentarischen Opposition" in der Ansicht, daß Liberalismus und Faschismus nur zwei "Formen bürgerlicher Herrschaft" seien, die je nach den historischen Umständen einander bedingen und ablösen. Zumindest bekam nun der Begriff Neoliberalismus einen autoritär-konservativen und aggressiven Beigeschmack.

Die FDP schwenkt auch programmatisch auf die Linie des Neoliberalismus ein

Vor dem hier skizzierten Hintergrund spielte Lambsdorff die Rolle der ehrpusseligen Jungfrau, die ihre Unschuld längst verloren hat, wenn er in dem erwähnten Interview mit dem "Sonntagsblatt" darauf insistierte, daß bereits Ludwig Erhard ein Neoliberaler gewesen sei. Seit 1982, als Lambsdorff den Bruch der sozialliberalen Koalition herbeigeführt hatte, vertrat die FDP-Spitze nicht mehr die Positionen des alten Ordo-Liberalismus, sondern schwamm auf der Welle des neuen Neoliberalismus. Was ähnlich klang wie früher, war nicht mehr dasselbe, weil es eingebettet war in eine aggressive Ideologie, die einen neuen Sozialdarwinismus predigte und insoweit tatsächlich an den alten Manchester-Liberalismus erinnerte.

Eindeutig neoliberal waren auch die "Wiesbadener Grundsätze für die liberale Bürgergesellschaft", welche die FDP am 24. Mai 1997 auf ihrem Bundesparteitag in Wiesbaden verabschiedete. Das neue Programm sollte dem liberalen Aushängeschild wieder etwas mehr Glanz verleihen, nachdem der Parteiführung nichts besseres mehr eingefallen war, als die FDP als "Partei der Besserverdienenden" zu empfehlen. Zugleich wollte man sich von Rechtsauslegern wie dem früheren Generalbundesanwalt Alexander von Stahl abgrenzen, die den Neoliberalismus mit nationalistischen Tendenzen verquickten.

An sich besaß die FDP mit den "Freiburger Thesen" noch immer ein brillant formuliertes Programm. Aber dieses galt als nicht mehr vorzeigbar, seitdem sie sich wieder an die Union gebunden hatte. Auch die eher konservativen "Kieler Thesen" vom November 1977, welche die "Freiburger Thesen" vom Oktober 1971 ergänzen sollten, waren schon zwanzig Jahre alt.

Also wurde eine Programmkommission damit beauftragt, der Partei zu einem zeitgemäßeren Credo zu verhelfen. Als besonders publikumswirksamen Punkt hatte sie sich das "Bürgergeld" ausgedacht: Diese neue Form der Unterstützung für Bedürftige sollte sämtliche bisherigen Sozialleistungen ersetzen und nach Art einer "negativen Einkommensteuer" vom Finanzamt ausgezahlt werden, sobald eine bestimmte Einkommensschwelle unterschritten wird. Zusätzliches Arbeitseinkommen sollte nur teilweise auf dieses Bürgergeld angerechnet werden, um den Anreiz zu erhöhen, auch schlechter bezahlte Tätigkeiten auszuüben.

Die nicht ganz unwichtige Frage, wo die Einkommensschwelle für den Bezug von "Bürgergeld" beginnen soll, ließ das Papier wohlweislich offen. Auch sonst erschöpfte es sich in recht allgemeinen Ausführungen und unverbindlichen Schlagworten wie der "offenen Bürgergesellschaft" - anscheinend eine Anleihe bei Poppers "offener Gesellschaft", die durch Hinzufügung des Wortes "Bürger" so gestopft wirkte wie eine Weihnachtsgans.

Den größten politischen Nährwert besaßen noch jene Passagen, die sich gegen die Haider-Sympathisanten vom Schlage eines Alexander von Stahl, Manfred Brunner und Heiner Kappel richteten: "Die große Gefahr für die Bürgergesellschaft in der Weltverantwortung ist die Renationalisierung", hieß es etwa. Oder: "Die Herausforderung der Globalisierung kann die Europäische Union nur bewältigen, wenn sie ihre Integration vorantreibt."

Neoliberaler "Sozialstaat" gegen sozialdemokratischen "Wohlfahrtsstaat"

Die andere große Gefahr für die "Bürgergesellschaft" aber sei die sozialdemokratische Gesellschaft: Man befinde sich am "Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts", in dem "Solidarität zur staatlichen Dienstleistung verkommen" sei. Jetzt müsse der "Gefälligkeitspolitik" die "Verantwortungsgesellschaft" entgegengesetzt werden. Sogar die FDP habe "zu oft mitgemacht bei der Gefälligkeitspolitik". Aber inzwischen stehe sie zu ihrer Verantwortung - im Unterschied zu "sozialdemokratischen Konservativen" und "konservativen Sozialdemokraten", die weiterhin den falschen Weg verfolgen würden. Es müsse endlich das Trugbild zerstört werden, daß der Staat Freiheit und Sicherheit in allen Lebenslagen garantieren könne. Die Staatsquote müsse auf ein Drittel gesenkt werden. In das Grundgesetz sei ein Privatisierungsgebot aufzunehmen. Die Altersvorsorge müsse sich auf "mehr Elemente des Kapitaldeckungsverfahrens" stützen. Neue Steuern dürften nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments beschlossen werden.

Zur Sozialpolitik hieß es: "Der bürokratischen Staatswirtschaft setzen Liberale die Soziale Marktwirtschaft entgegen. Bürokratische Verkrustungen in Staat und Verbänden sowie die Globalisierung der Wirtschaft fordern eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft". In ähnlicher Weise wurde ein nur das Lebensminimum sichernder "Sozialstaat" dem fürsorglichen "Wohlfahrtsstaat" gegenübergestellt : "Der liberale Sozialstaat konzentriert seine Hilfe wirksam auf die wirklich Bedürftigen. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat verteilt an alle ein wenig."

Im wesentlichen lag die Substanz dieses Papiers nicht in den phrasenhaften Aussagen, sondern zwischen den Zeilen. Es signalisierte, daß die FDP sich als Speerspitze des Neoliberalismus verstand - im Unterschied zu den "sozialdemokratischen Konservativen" von der CDU und den "konservativen Sozialdemokraten" von der SPD. Es ahmte den Duktus der Freiburger Thesen nach, indem es Anschein gedanklicher Tiefe ("Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts") und kühner Vision ("offene Bürgergesellschaft") zu erwecken versuchte. Bei näherer Betrachtung diente das progressive Pathos aber nur dazu, sich endgültig von den Freiburger Thesen zu verabschieden. Es war kein Karl-Hermann Flach, der hier die Feder geführt hatte, sondern die Mannschaft um Guido Westerwelle.

Westerwelle weist Kritik als "Nostalgie-Liberalismus" zurück

Die "Wiesbadener Grundsätze" fanden in der Öffentlichkeit nur wenig Beachtung. Am ehesten wurde noch über die Idee des "Bürgergelds" berichtet. Auch innerhalb der Partei beseitigten sie nicht die Unzufriedenheit. Im Vorfeld des Dreikönigstreffens Anfang 1998 gab es ansatzweise sogar so etwas wie eine Grundsatzdebatte: Sie begann damit, daß nun sogar Genscher den Slogan von der "Partei der Besserverdienenden" als Verirrung brandmarkte. Freilich dürfte es ihm dabei - genau wie Westerwelle - nur um eine gefälligere Verpackung desselben Inhalts gegangen sein. Grundsätzliche Kritik an der neoliberalen Schwindsucht übte dagegen die Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die sich nach ihrem Rücktritt mit weiteren Linksliberalen im "Freiburger Kreis" zusammengeschlossen hatte: Der Partei fehle es an "innerer Liberalität" und überzeugenden Persönlichkeiten. Besonders fatal sei "die gewollte Verengung auf wirtschafts- und finanzpolitische Einzelforderungen, die nicht in ein Wertesystem gestellt werden".

Der Generalsekretär Guido Westerwelle hielt diese Kritik an der neoliberalen Ausrichtung der Partei freilich für "Nostalgie-Liberalismus". Der Vorsitzende Wolfgang Gerhardt ließ wissen, daß er "keine Nachhilfe beim Verfechten der Bürgerrechte" nötig habe. Der baden-württembergische Landesvorsitzende Walter Döring sprach gar von "Geseire" und verlangte: "Der Mist muß endlich aufhören."

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