August 1994

940801

ENERGIE-CHRONIK


Siemens darf die neue Hanauer Anlage zur Plutoniumverarbeitung vollenden

Die neue Anlage zur Plutoniumverarbeitung im Hanauer Siemens-Brennelementewerk darf zu Ende gebaut werden. Das Bundesverwaltungsgericht in Berlin wies am 9.8. die Klagen von zwei Anwohnern gegen drei Teilgenehmigungen zurück. Es hob damit ein Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom Juli vorigen Jahres auf, das den Klagen mit der Begründung stattgegeben hatte, die hessische Landesregierung habe mögliche Auswirkungen der Neubauarbeiten auf den Betrieb der alten Anlage zur Plutoniumverarbeitung nicht geprüft. Nach Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts konnte die Genehmigungsbehörde davon ausgehen, daß die Bauarbeiten trotz fortdauernden Betriebs der Altanlage "hinreichend sicher" ausgeführt werden. Inzwischen hat Siemens die Altanlage, deren Betrieb seit Sommer 1991 durch den hessischen Umweltminister Joschka Fischer (Grüne) blockiert wurde, in Absprache mit den deutschen Stromversorgern endgültig aufgegeben (Handelsblatt, 10.8.; FAZ, 10.8.; SZ, 10.8.; siehe auch 930707 u. 940403).

Die hessische Landesregierung ist in diesem Prozeß nur formal die siegreiche Partei, da sie als Rechtsnachfolgerin für die Verwaltungshandlungen der alten, CDU-geführten Landesregierung einstehen muß, gegen die sich die Klagen der Anwohner ursprünglich richteten. Die jetzige rot-grüne Landesregierung hätte das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom Vorjahr am liebsten akzeptiert. Sie war aber durch eine Weisung von Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) gezwungen worden, Revision beim Bundesverwaltungsgericht einzulegen.

Nach Bekanntgabe des Urteils hat Bundesumweltminister Töpfer seinen hessischen Amtskollegen Fischer angewiesen, weitere zwölf Untergenehmigungen zum Weiterbau der neuen Anlage zur Plutoniumverarbeitung im Siemens-Brennelementewerk zu erteilen. Fischer kam dieser Weisung nach, warf Töpfer aber vor, daß noch nicht alle Sicherheitsaspekte geklärt seien. Die Weisung sei "offensichtlich ein abgekartetes Spiel, mit dem Töpfer der Firma Siemens die Grundlage für eine eventuelle Schadenersatzklage wegen angeblicher Verzögerungen liefern will" (FAZ, 18.8.; Handelsblatt, 18.8.).

Siemens befürchtet weitere Verzögerungen

Für den umweltpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Müller, ist trotz des höchstrichterlichern Urteils noch nicht sicher, ob die neue Anlage zur Plutoniumverarbeitung in Hanau tatsächlich vollendet wird. Es gebe einen entscheidenden Unterschied zwischen der rechtlichen Situation und der gesellschaftlichen Zustimmung, sagte Müller am 10.8. im Deutschlandfunk. Demgegenüber erklärte Siemens-Sprecher Rainer Jend, seine Firma und die Energieversorgungsunternehmen hielten unverändert am Ziel der Fertigung von Mischoxid-Brennelementen in Hanau fest. Wie Siemens-Syndikus Christian Stubbe gegenüber der Welt am Sonntag (14.8.) sagte, befürchtet die Firma allerdings, daß die hessische Landesregierung die Inbetriebnahme der neuen Anlage über das Jahr 2003 hinaus verzögern könnte. Stubbe sieht wegen der Verzögerungen in Hanau auf das Land Hessen Schadenersatzforderungen von mehr als 500 Millionen Mark zukommen. Er rechnet mit einem Erfolg im Berufungsverfahren um eine Teilforderung von 31 Millionen Mark, über die das Oberlandesgericht Frankfurt am 22.9. entscheiden wird (siehe auch 930407).

VDEW: Beide Entsorgungswege offenhalten

Der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), Joachim Grawe, unterstrich in einem Gespräch mit dem Handelsblatt (29.8.) die Notwendigkeit der Hanauer Anlage. Gegenwärtig verspreche die direkte Endlagerung zwar Kostenvorteile gegenüber der Wiederaufarbeitung, doch spreche manches dafür, daß beide Entsorgungswege parallel verfolgt werden müßten und die Entscheidung von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich ausfallen werde. Unabhängig davon müßten aufgrund unkündbarer vertraglicher Verpflichtungen 40 Tonnen Plutonium aus der Wiederaufarbeitung im Ausland zurückgenommen werden. Die in Hanau entwickelte Technik könne auch eine wichtige Rolle bei der Unschädlichmachung und friedlichen Verwertung von Waffenplutonium spielen.

"Die Genehmigungsstreitereien gehen weiter"

In den Kommentaren der Presse wird wiederholt betont, daß die Ausräumung der juristischen Hindernisse noch nicht die unverzügliche Fertigstellung der Anlage oder gar generell grünes Licht für die Kernkraftnutzung in Deutschland bedeute. Nach Feststellung des Handelsblatts (10.8.) werden mit dem Berliner Urteil "die Genehmigungsstreitereien zwischen ausstiegswilligen Bundesländern und der kerntechnischen Industrie sowie den Reaktorbetreibern nicht beendet sein". Die Agentur DPA (10.8.) sieht den Hanauer Neubau auch durch die Möglichkeit der direkten Endlagerung in Frage gestellt, die das jüngst verabschiedete Energie-Artikelgesetz eröffnet: "Mit spitzer Feder rechnen die Kernkraftwerksbetreiber, welcher Weg auf lange Sicht für sie günstiger ist."

Für Die Tageszeitung (10.8.) steht nunmehr fest, "daß der Kampf gegen die Atom- und Plutoniumindustrie nicht vor den Schranken von Gerichten zu gewinnen ist". Die Frankfurter Rundschau (10.8.) äußert in ähnlichem Sinne: "Nach der Berliner Entscheidung bleibt SPD und Grünen in der Plutoniumfrage nur die Rückbesinnung auf die Politik. Der Ausstieg aus der Plutoniumwirtschaft erscheint jetzt nur mehr machbar, wenn die Wähler am 16. Oktober in Bonn für andere Mehrheiten sorgen."