Oktober 1993

931001

ENERGIE-CHRONIK


Suche nach neuem Energiekonsens am Referenz-Reaktor gescheitert

Die SPD ist nicht bereit, die Entwicklung und den Bau eines besonders sicheren Reaktortyps als Referenzanlage zu akzeptieren, mit dem ein wissenschaftlich-technologischer "Fadenriß" auf dem Gebiet der Kernenergie verhindert werden soll. So entschied das Präsidium der SPD am 25.10. unter Verweis auf den Parteitagsbeschluß, der den Ausstieg aus der Kernenergie fordert. Obwohl das Präsidium ansonsten dem Konzept des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder als Verhandlungsführer der SPD bei den Gesprächen über einen neuen Energiekonsens zustimmte, gelten damit die Gespräche als gescheitert (SZ, 27.10.; Handelsblatt, 27.10.; siehe auch 930901).

Schröders Konzept sah als Kernpunkt vor, im Grundgesetz ein Genehmigungsverbot für Kernkraftwerke zu verankern, das Bundestag und Bundesrat nur mit Zweidrittelmehrheit ändern könnten. Dafür würden die Sozialdemokraten zugestehen, daß zu Forschungszwecken noch in diesem Jahrzehnt der Prototyp eines neuen, besonders sicheren Reaktors als Referenzanlage errichtet wird. Die bestehenden Kernkraftwerke sollten nach einer bestimmten Laufzeit von 30 bis 40 Jahren ersatzlos abgeschaltet werden. Die Wiederaufarbeitung von Brennstäben sollte entfallen, die Möglichkeiten zur Zwischenlagerung erweitert und die Erkundungsarbeiten für die Endlagerung in Gorleben eingestellt werden. Ferner sollten die rationelle Energieanwendung und die Erforschung erneuerbarer Energien mehr als bisher staatlich gefördert werden.

Wie Schröder in seiner Vorlage zur Sitzung des SPD-Präsidiums ausführte, seien die Genehmigungskriterien für den Referenzreaktor derart hoch gesteckt, daß dieser ökonomisch nicht wettbewerbsfähig sein könne. Mit der tatsächlichen Errichtung eines solchen Prototyps sei deshalb nicht zu rechnen. Schröder räumte aber zugleich ein, daß sich dieser Teil seines Konzepts den innerparteilichen Gegnern der Kernenergie nur schwer vermitteln lasse und "auf der symbolischen Ebene als Wiedereinstieg" interpretiert werden könne (SZ, 25.10.).

Der Spiegel hatte am 4.10. berichtet, daß sich die Vertreter von Koalition und Opposition bereits grundsätzlich auf Schröders Konzept geeinigt hätten. Der Kompromiß solle beim Parteiengespräch am 27.10. besiegelt werden. Allerdings wüßten weder Schröder noch Töpfer, ob sie bis dahin den Widerstand in den eigenen Reihen überwinden könnten.

Die Umweltverbände kündigten am 18.10. an, daß sie an der Abschlußrunde der Gespräche mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen am 9.11. nicht mehr teilnehmen. Die Verhandlungen über einen Energiekonsens seien gescheitert, weil die Bundesregierung keine Neuorientierung der Energiepolitik wolle und an der Kernenergie festhalte, erklärten Vertreter des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), Greenpeace und der Internationalen Vereinigung Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) in Bonn (FR, 19.10.; Handelsblatt, 19.10.).

Für die Süddeutsche Zeitung (29.10.) stehen nach dem Scheitern der Verhandlungen alle Beteiligten als Verlierer da. Besonders gelte dies für die SPD. Es sei dieser nicht gelungen, ihr Hauptziel einer energiepolitischen Wende der Öffentlichkeit zu vermitteln und Schröders Pragmatismus zu honorieren. Zugleich sei Schröders Optionsmodell aber auch nicht geeignet gewesen, einen Energiekonsens zu befördern: "Wer den Ausstieg ermöglichen will, indem er den Wiedereinstieg zuläßt, gleichzeitig aber erklärt, er halte diesen Wiedereinstieg für unmöglich, überfordert die eigene Klientel. Und er verprellt die Wirtschaft, die auf der Grundlage vager Aussichten nie einen neuen Reaktor bauen würde."

Für die Frankfurter Rundschau (27.10.) eröffnen sich nunmehr beim Ausblick auf die kommenden Bundestagswahlen zwei Möglichkeiten: "Schneiden die Sozialdemokraten gut ab, könnten sie - sollte der Mut zu einer rot-grünen Koalition reichen - den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie durchsetzen. Den E-Werken ist vor allem an sicheren Restlaufzeiten für die Milliarden teuren und profitablen Reaktoren gelegen. Das garantiert Gesprächsbereitschaft. Reicht das rote Wahlergebnis bloß für die Rolle des Juniorpartners der Union, kommt Schröders Vorschlag wieder auf den Tisch - und zwar als Bestandteil einer Koalitionsvereinbarung. Das Anti-Atomlager - auch das in der SPD - erlebt dann sein blaues Wunder."