Februar 1993

930202

ENERGIE-CHRONIK


Berichte über "Pfusch" bei Schweißnähten verschärfen Streit um KKW Brunsbüttel

Die Auseinandersetzung um die Risse an Rohrleitungen im KKW Brunsbüttel verschärfte sich im Februar, nachdem Focus (8.2.) und Der Spiegel (15.2.) über "Manipulationen" bei der Überprüfung von Schweißnähten in den KKW Brunsbüttel, Krümmel und Biblis berichtet hatten. Beide Blätter beriefen sich auf Aussagen ehemaliger Mitarbeiter von Firmen, die mit der zerstörungsfreien Materialprüfung beauftragt worden waren. Danach haben diese Mitarbeiter zum Teil nur eine mangelhafte Ausbildung gehabt, oft nachlässig gearbeitet und Untersuchungsergebnisse sogar vorsätzlich verfälscht .

Das KKW Brunsbüttel ist bereits seit August vorigen Jahres wegen Revisionsarbeiten abgeschaltet. Dabei wurden etwa 120 Risse im Leitungssystem festgestellt. Die Kieler Landesregierung ist der Ansicht, daß zumindest einige der Risse nicht herstellungs-, sondern betriebsbedingt seien. Damit werde die ganze bisherige Sicherheitsphilosophie der Kernkraftwerke in Frage gestellt (siehe auch 930105).

Bundesumweltminister Töpfer verwies darauf, daß er bereits im April vorigen Jahres angeordnet hat, alle deutschen Kernkraftwerke auf mögliche Risse an Rohrleitungen im nuklearen Sicherheitsbereich untersuchen zu lassen. Den Anlaß gaben damals Risse im Reaktorkreislauf des KKW Würgassen. Der Abschlußbericht werde in Kürze vorliegen. Töpfers Hinweis wurde in den Medien zunächst irrtümlich als neu eingeleitetes Untersuchungsprogramm interpretiert. Ein Sprecher des Kieler Energieministeriums begrüßte es deshalb, "daß Herr Töpfer endlich unserer Anregung folgt, auch die anderen Atomkraftwerke untersuchen zu lassen" (VWD, 10.2.; Der Tagesspiegel, 11.2.; DPA, 10.2.; siehe auch 920414).

Die Reaktorsicherheitskommission (RSK) veröffentlichte am 18.2. einen Zwischenbericht, wonach die von Töpfer angeordnete Überprüfung der deutschen Kernkraftwerke bislang nur in Brunsbüttel "gehäufte und größere Rißbefunde" ergeben hat. Die Risse in Brunsbüttel seien nach den bisherigen Erkenntnissen herstellungsbedingt und hätten keine Gefährdung bedeutet. Die Sicherheit der in Deutschland betriebenen Leichtwasserreaktoren sei nicht in Frage gestellt (Handelsblatt, 19.2.; SZ, 19.2.).

Auf Antrag der SPD befaßte sich der Bundestag am 3.2. im Rahmen einer Aktuellen Stunde mit den Rissen im KKW Brunsbüttel. Der SPD-Umweltexperte Michael Müller verlangte die sofortige Abschaltung des Kernkraftwerks und aller weiteren Siedewasser-Reaktoren. Bundesumweltminister Töpfer (CDU) betonte, daß Rißbildungen wie in Brunsbüttel nichts Neues seien. Die Befunde seien bereits im November vorigen Jahres durch ein Prüfprogramm entdeckt und formal nach der niedrigsten Meldestufe N (normal) gemeldet worden (DDP, 3.2.).

Die Hamburger Bürgerschaft befaßte sich am 10.2. in einer Aktuellen Stunde mit den Rissen im KKW Brunsbüttel. Umweltsenator Fritz Vahrenholt (SPD) wies dabei Forderungen nach sofortiger Stillegung des Kernkraftwerks zurück. Der Reaktor dürfe jedoch erst dann wieder in Betrieb gehen, wenn alle Zweifel geklärt seien, sagte Vahrenholt, der zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) ist (DPA, 10.2.).

Nach Meinung des Handelsblatts (22.2.) haben nicht sachliche, sondern ideologische Gründe den schleswig-holsteinischen Energieminister Günther Jansen (SPD) bewogen, von betriebsbedingten Rissen im KKW Brunsbüttel auszugehen: "Für Jansen besitzt das Ziel des Ausstiegs aus der Kernkraft Priorität. ... Es kommt nicht überraschend, daß die vorschnelle und einseitige Interpretation der Rißursachen in Brunsbüttel zum derzeitigen Zeitpunkt erfolgte. Die Suche nach einem parteiübergreifenden Energiekonsens in Bonn sollte gestört werden."

Für die Süddeutsche Zeitung (11.2.) birgt das "Ergebnis 120 zu 0", das die Überprüfung der deutschen Kernkraftwerke auf Risse im Leitungssystem ergeben hat, eine gewisse Ungereimtheit in sich: "Der Verdacht drängt sich auf, daß entweder die Null falsch ist oder daß die 120 Risse in Brunsbüttel eben doch die Folge von betrügerischer Großzügigkeit beim Prüfverfahren sind (wie der ëSpiegelí es darstellte)."

Die Frankfurter Rundschau (20.2.) meinte zur Stellungnahme der RSK: "Man muß nicht übermäßig ängstlich oder mißtrauisch zu sein, wenn einem der ëZwischenbescheid der Kommission eher wie ein Persilschein vorkommt, der die Atombetreiber erst einmal wieder zur Ruhe kommen läßt, die Öffentlichkeit aber nicht ruhigstellen darf."