März 2021

210304

ENERGIE-CHRONIK


Generalanwalt begründet Beschränkungen für Gazprom mit "Energiesolidarität" im EU-Recht

Der Grundsatz der Energiesolidarität, wie er in Artikel 194 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert ist, entfaltet unmittelbare Rechtswirkungen und nicht nur rein politisch-symbolische Wirkungen für die Auslegung des EU-Rechts. Mit dieser Feststellung wies am 18. März der Generalanwalt beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg das Verlangen der deutschen Regierung zurück, ein im September 2019 ergangenes Urteil zu ändern, mit dem in der Vorinstanz das Gericht der Europäischen Union die von der EU-Kommission erteilte Ausnahmeregelung für die Gaspipeline Opal annulliert hat (190904).

Da der EuGH in der Regel den Anträgen des Generalanwalts folgt, wird die Opal-Betreibergesellschaft, die der russischen Gazprom und der BASF-Tochter Wintershall Dea gehört, wahrscheinlich weiterhin nur die Hälfte der Gesamtkapazität von jährlich 36 Milliarden Kubikmeter Erdgas nutzen können. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit noch geringer geworden, dass die kurz vor der Vollendung stehende Schwester-Pipeline Eugal von den Vorschriften ausgenommen wird, die für den EU-Gasbinnenmarkt gelten.

Außer der Opal ist auch die soeben fertiggestellte Eugal betroffen

Die Pipeline Opal übernimmt den Hauptteil der russischen Gasmengen, die seit 2011 über die Ostsee-Pipeline Nord Stream bei Greifswald ankommen (111101), um sie nach Tschechien zu transportieren, von wo sie über die Transitleitung Gazelle (130103) größtenteils wieder nach Deutschland fließen. Die parallel verlaufende Eugal soll vor allem die zusätzlichen Gasmengen der noch unvollendeten Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 aufnehmen. Ihr erster Strang verfügt über eine Kapazität von jährlich bis zu 30,9 Milliarden Kubikmeter Erdgas und ist seit Januar in Betrieb. Der zweite soll Anfang April fertiggestellt sein und die Gesamtkapazität auf bis zu 55 Milliarden Kubikmeter jährlich erhöhen.

Streit um Opal-Kapazitäten begann vor zwölf Jahren

Auf Wunsch der Bundesregierung hatte die Bundesnetzagentur 2009 die Opal für den Zeitraum von 22 Jahren ab Inbetriebnahme von der Regulierung ausgenommen, weil sie angeblich das Kriterium einer zwischenstaatlichen Verbindungsleitung erfüllte (090306). Auf Verlangen der EU-Kommission mußte sie dann aber die erteilte Ausnahmegenehmigung ein paar Monate später mit der Einschränkung versehen, dass die Gazprom nur die Hälfte der Kapazität nutzen darf. Die von der Bundesregierung gewünschte Änderung dieser Entscheidung lehnte die Kommission Ende 2014 ab (141206). Allerdings gab sie dann dem fortdauernden Drängen aus Berlin am Ende doch nach und erlaubte der Gazprom im Oktober 2016 eine Ausnutzung der Kapazität bis zu 93 Prozent (161017).

Mit Unterstützung aus Berlin und Brüssel konnte Gazprom die Gasflüsse durch Ukraine und Polen verringern

Diese weitgehende Freigabe der Opal-Kapazitäten führte erwartungsgemäß dazu, dass die Gazprom die Gasflüsse verringerte, die bisher über die Gasfernleitungen Jamal (Belarus, Polen) und Brotherhood/Transgas (Ukraine, Slowakei, Tschechien) von Russland in die Europäische Union gelangten. Die polnische Regierung klagte deshalb mit Unterstützung von Lettland und Litauen vor dem Europäischen Gerichtshof, wobei sie geltend machte, dass der Beschluss der Kommission gegen den in Artikel 194 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankerten Grundsatz der Energiesolidarität verstoße. Der Gerichtshof folgte diesem Argument und annullierte im September 2019 die Freigabe der Opal-Kapazitäten (190904). Damit trat wieder die restriktive Regelung in Kraft, die ab Oktober 2016 gegolten hatte.

In Berlin wollte man das Urteil des Europäischen Gerichtshofs nicht akzeptieren

Nun wollte allerdings die deutsche Regierung diese Niederlage nicht hinnehmen und legte Rechtsmittel beim EuGH ein, um eine Änderung dieses Urteils zu erreichen. Im Wesentlichen machte sie geltend, dass die Energiesolidarität nach Artikel 194 lediglich als politischer Begriff zu verstehen sei und nicht als rechtliches Kriterium, aus dem unmittelbar Rechte und Pflichten für die Union bzw. die Mitgliedstaaten abgeleitet werden könnten. Aus diesem Begriff lasse sich nur eine Beistandspflicht in Krisensituationen ableiten, und die Kommission habe dies beim Erlass ihres Beschlusses vom Oktober 2016 bereits berücksichtigt. Die polnische Regierung verteidigte dagegen die Auffassung des Gerichts, wobei sie erneut von Lettland und Litauen unterstützt wurde.

Generalanwalt sieht Solidarität im Primärrecht der EU verankert

Der Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona stützt mit seiner Ansicht, dass die Berliner Beschwerde zurückzuweisen sei, die Position der osteuropäischen Staaten ganz entscheidend. Er gelangt zu dem Schluss, dass die Solidarität im Primärrecht der Union als ein Wert (Art. 2 EUV) und als ein Ziel (Art. 3 EUV) erkennbar sei, die mehr und mehr die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen der Union selbst leiten sollten. Allerdings sei es nicht möglich, aus diesen Bestimmungen eine vollständige und allumfassende Konzeption der Solidarität im Unionsrecht abzuleiten. Der Gerichtshof habe deshalb in seiner Rechtsprechung auf den Grundsatz der Solidarität Bezug genommen, nicht aber dessen Profil allgemein herausgearbeitet. In bestimmten Bereichen, wie der Einwanderungs-, Asyl- und Grenzkontrollpolitik (Artikel 80 AEUV), habe der Gerichtshof jedoch den Grundsatz der Solidarität ausdrücklich herangezogen, als er beispielsweise über die Verteilung der Kontingente von internationalen Schutz beantragenden Personen zwischen den Mitgliedstaaten habe entscheiden müssen. Nach Ansicht des Generalanwalts lässt sich der Grundsatz der Solidarität auch im Bereich der Energiepolitik der Union anwenden. In Artikel 194 Abs. 1 AEUV sei der Grundsatz der Solidarität als ein Element vorgesehen, das alle Ziele der Energiepolitik der Union durchdringe, und es seien zahlreiche Vorschriften des Sekundärrechts in diesem Bereich erlassen worden, die diesen Grundsatz umfassten.

 

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