November 2017

171108

ENERGIE-CHRONIK


 


Obwohl in Deutschland insgesamt ein Überschuß an Kohle-Kapazitäten besteht, kann nicht jedes Kohle-Kraftwerk einfach abgeschaltet werden. Zum Beispiel sprachen sich am 5. November bei einem Bürgerentscheid in München 60,2 Prozent der Abstimmenden für die vorgezogene Abschaltung des mit Steinkohle befeuerten Blocks 2 im Heizkraftwerk München Nord aus (Foto). Die Bundesnetzagentur wird den Antrag aber voraussichtlich nicht genehmigen, da sie in Süddeutschland bisher fast alle zur Stillegung angemeldeten Erzeugungsanlagen aus netztechnischen Gründen als "systemrelevant" eingestuft hat.

Foto: SW München

Große Teile der Wirtschaft sind für Kohle-Ausstieg

Während sich bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin vor allem die FDP gegen einen beschleunigten Ausstieg aus der Kohleverstromung stemmte (171104), machten weite Teile der Wirtschaft am 7. November deutlich, daß diese Haltung nicht ihrer Interessenlage entspricht. Eine breite Allianz von großen und mittelständischen Unternehmen sowie Branchenverbänden forderte die Parteien auf, in ihren Sondierungsgesprächen den Klimaschutz zur zentralen Aufgabe der künftigen Bundesregierung zu machen. Die Erklärung unter dem Titel "Für Innovationen und Investitionssicherheit: Nächste Bundesregierung muss Klimaschutz zur zentralen Aufgabe machen" wurde von 52 Unternehmen und Verbänden unterstützt und auch als Anzeige veröffentlicht (siehe PDF).

"Unverzichtbar ist ein verläßlicher und sozialverträglicher Ausstiegspfad bei der Kohleverstromung", heißt es in der Erklärung. "Dazu gehört eine schrittweise Verringerung der treibhausgasintensiven Kraftwerkskapazitäten unter Berücksichtigung der Versorgungssicherheit und der Klimaziele. Hierbei sollte ein wirksamer CO2-Preis eine möglichst zentrale Rolle spielen."

Ausschreibungen für Wind- und Solarstrom sollen erhöht werden

Ferner drängen die Unternehmen auf konkrete Maßnahmenpakete für die Umsetzung des Klimaschutzplans samt seiner Sektorziele. Dazu gehören ein Anheben der Ausschreibungsmengen für Strom aus erneuerbaren Quellen, Anreize für eine beschleunigte Gebäudesanierung und Vorfahrt für Stromnetze und Speicher.

Die neue Regierung solle zudem die Modernisierung von Steuern und Abgaben sowie die Beendigung der Subventionen für fossile Energieträger bis 2025 prüfen. Deutschland und die EU bräuchten jetzt einen konsequenten Einstieg in die Verkehrswende auf Schiene und Straße. Von der neuen Bundesregierung erwarten die Unternehmen entschiedene und effiziente Maßnahmen zum Erreichen des 40-Prozent-Klimaziels für 2020. Das Klimaziel für 2050 müsse auf bis zu 95 Prozent Emissionssenkung angehoben werden.

Energiekonzerne und Stadtwerke sind ebenfalls vertreten

Koordinatoren der Erklärung sind die Unternehmensverbände Stiftung 2 Grad (110614) und B.A.U.M. sowie die Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch. Die Allianz repräsentiert ihren Angaben zufolge über 450.000 Beschäftigte alleine in Deutschland und einen globalen Umsatz von mehr als 350 Milliarden Euro. Besonders bemerkenswert ist, daß ihr auch die Energiekonzerne E.ON, EnBW, EWE und Entega, die Stadtwerke München und Tübingen sowie der Stadtwerke-Verbund Trianel angehören.

Siemens hofft auf neue Impulse für den notleidenden Geschäftsbereich Energie

Auffällig ist ferner die Mitwirkung des Siemens-Konzerns mit dem ZVEI als Branchenverband. Siemens hat momentan im Geschäftsbereich Energie riesige Probleme: Der Absatz an Kohle- und Gasturbinen ist drastisch eingebrochen (171103). Zugleich läuft das neue Geschäft mit Windkraftanlagen weit schlechter als erwartet (171009). Anscheinend tritt der Konzern die Flucht nach vorn an, wenn er nun einen verläßlichen Ausstiegspfad bei der Kohleverstromung und einen stärkeren Ausbau der Erneuerbaren verlangt. Aufträge für neue Kohlekraftwerke hat er zumindest in Deutschland sowieso nicht mehr zu erwarten (170411). Dagegen werden Gaskraftwerke zur Abpufferung der fluktuierenden Wind- und Solarstromerzeugung weiterhin benötigt. Falls der stark gebremste Windkraft-Ausbau vor der deutschen Küste wieder in Fahrt käme, könnte Siemens ebenfalls profitieren. Ebenso von der geforderten "Vorfahrt für Stromnetze und Speicher".

Laut "Spiegel online" (1.11.) hat die Berliner Lobby-Abteilung von Siemens sogar ein zweiseitiges Arbeitspapier an Vertreter von Grünen, CDU und FDP verschickt. Darin heißt es: "Ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung muß die klimapolitische Priorität der nächsten Bundesregierung werden. Die vorzeitige Stilllegung der CO2-intensivsten Kraftwerke sollte geprüft werden." Außerdem solle sich die neue Bundesregierung auf europäischer Ebene dafür einsetzen, daß für Emissionszertifikate ein Mindestpreis festgelegt sowie Subventionen und Kapazitätszahlungen für CO2-intensive Kraftwerke beendet werden.

FDP will noch immer eine subventionierte Kohle-"Kapazitätsreserve"

Die FDP spielte sich dagegen in den Koalitionsverhandlungen als Beschützer der Industrie auf, indem sie das alte Konzept einer subventionierten "Kapazitätsreserve" vertrat, mit dem die Betreiber von Kohlekraftwerken schon seit Jahren versuchen, ihre durchaus entbehrlichen Anlagen von den Stromverbrauchern alimentieren zu lassen (130702). Der frühere Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat dieses Konzept mal als "Hartz IV für Kraftwerke" verspottet. Trotzdem hat er dem Druck der Kraftwerksbetreiber zumindest teilweise nachgegeben und ihnen für die Stillegung von insgesamt acht Braunkohle-Blöcken millionenschwere Abwrack-Prämien zu Lasten der Stromverbraucher spendiert, die als Zahlungen für eine angeblich notwendige "Sicherheitsbereitschaft" kaschiert wurden (siehe 150701und Hintergrund Juli 2015).

 

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