September 2009

090903

ENERGIE-CHRONIK


Dem Emissionshandel droht erneut ein Überangebot an Zertifikaten

Die Richtlinie für die erste und zweite Periode des Handels mit Emissionszertifikaten (030701) gibt der EU-Kommission nicht das Recht, die von den Mitgliedsstaaten beabsichtigte Ausgabe von Emissionsberechtigungen im Rahmen der nationalen Zuteilungspläne unter Berufung auf eigene Daten zu kürzen. Das ist die Quintessenz von zwei Urteilen, mit denen der Europäische Gerichtshof am 23. September in erster Instanz entsprechenden Klagen von Polen und Estland stattgab, denen sich auch Ungarn, Litauen und die Slowakei angeschlossen hatten. Außerdem stehen noch ähnlich geartete Klagen von Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien und Tschechien zur Entscheidung an, denen der Gerichtshof vermutlich ebenfalls stattgeben wird.

Das Urteil ist insofern juristisch zu rechtfertigen und sogar positiv zu werten, als es die EU-Kommission bei der mitunter selbstherrlichen Auslegung ihrer Befugnisse in die Schranken verweist. Auf der anderen Seite hat die Kommission aber durchaus gute Gründe, den Angaben Polens und anderer postkommunistischer Staaten hinsichtlich des Bedarfs an Emissionszertifikaten zu mißtrauen. Falls diesen Ländern für die Jahre 2008 bis 2012 tatsächlich soviele Emissionszertifikate zugestanden würden, wie sie für den Ausstoß von Kraftwerken und Industrie beanspruchen, könnte es in ähnlicher Weise zu einem Überangebot an Zertifikaten kommen wie in der ersten Handelsperiode von 2005 bis 2007. Damals hatten Deutschland und die meisten anderen EU-Staaten deutlich mehr Emissionszertifikate ausgegeben als den tatsächlichen CO2-Emissionen entsprach (060501, 070502). Der Effekt des Emissionshandels war deshalb gleich null, wenn man mal davon absieht, daß die Energiekonzerne den fiktiven Wert ihrer kostenlos erhaltenen Zertifikate auf die Strompreise aufschlugen und so zusätzliche Milliardengewinne kassierten (061203, 070903).

Die Kommission überlegt nun, ob sie den Europäischen Gerichtshof in zweiter und letzter Instanz anrufen soll. Umweltkommissar Stavros Dimas betonte am 24. September in einer Stellungnahme zu dem Urteil, daß die vorgenommenen Kürzungen dem tatsächlichen CO2-Ausstoß Polens und Estlands entsprechen. Die Kommission werde nun eine neue Entscheidung treffen müssen, wobei sie sich auf die besten verfügbaren Daten stützen werde. Doch sei es unwahrscheinlich, daß sich dadurch die Gesamtzahl der ausgegebenen Zertifikate wesentlich verändern werde. Vorerst sei es Polen und Estland nicht erlaubt, mehr als die genehmigte Zahl von Zertifikaten auszugeben.

Zuteilungspläne der postkommunistischen Staaten wurden um bis zu 55,5 Prozent gekürzt

Die EU-Kommission hatte den Mißerfolg der ersten Handelsperiode beschönigt, indem sie ihn als Phase der praktischen Erprobung bezeichnete, in der es immerhin gelungen sei, die notwendigen Mechanismen zu installieren. Um zu verhindern, daß die zweite Handelsperiode zu einer ähnlichen Farce wird, nahm sie in den Jahren 2006 und 2007 an den von den 27 Mitgliedsstaaten vorgelegten nationalen Zuteilungsplänen mehr oder weniger starke Kürzungen vor. Ausgenommen blieben lediglich Dänemark, Frankreich, Großbritannien und Slowenien. Zum Beispiel kürzte sie den deutschen Zuteilungsplan um sechs Prozent (061104). Die neun Mitgliedsländer aus dem ehemaligen Ostblock, in denen man Daten noch immer gern zu politischen Zwecken manipuliert, mußten sogar Abstriche zwischen einem Fünftel und mehr als der Hälfte ihrer beantragten Zuteilungsmengen hinnehmen (siehe Tabelle).

Während Deutschland die Kürzungen nach einigem Hin und Her akzeptierte (070202), erhob Polen im Mai 2007 Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Im August 2007 beantragte Großbritannien seine Zulassung zu dem Verfahren als Streithelfer der Kommission. Polen erhielt seinerseits Verstärkung durch Litauen, Ungarn und die Slowakei, die dem Verfahren bis Februar 2008 beitraten. Zur selben Zeit betrieb die EU-Kommission die Verabschiedung einer neuen Richtlinie für den Emissionshandel ab 2013 (081207). Diese Richtlinie, die im Juni 2009 in Kraft trat, sieht keine nationalen Zuteilungspläne mehr vor, sondern überläßt es der Kommission, eine einzige EU-weit geltende Obergrenze festzusetzen und die Zertifikate zuzuteilen. Sie gilt aber erst für die dritte Handelsperiode und war nicht Gegenstand der Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof.

Kommission überschritt ihre von der Richtlinie vorgegebenen Kompetenzen

Das jetzt ergangene Urteil begründete der Europäische Gerichtshof mit Art. 249 Abs. 3 des EG-Vertrags, der die Verbindlichkeit einer EU-Richtlinie folgendermaßen umreißt: "Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel." Daraus ergebe sich, daß die Handlungsfreiheit der Mitgliedstaaten grundsätzlich unbeschränkt bleibe, wenn in einer Richtlinie die Form und die Mittel für die Erreichung eines bestimmten Ziels nicht vorgegeben sind. Aus Art. 9 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 2 der zur Verhandlung anstehenden Richtlinie für die zweite Handelsperiode ergebe sich aber eindeutig, daß allein die Mitgliedstaaten dafür zuständig sind, in einem ersten Schritt einen nationalen Zuteilungsplan aufzustellen, aus dem unter anderem hervorgeht, wie viele Zertifikate sie insgesamt für den betreffenden Zeitraum zuzuteilen beabsichtigen. Die Mitgliedsstaaten müßten sich dabei zwar auf objektive und transparente Kriterien stützen, wie sie in Anhang III der Richtlinie aufgezählt werden. Bei Einwänden der Kommission dürften sie den Zuteilungsplan auch erst in Kraft setzen, wenn die von ihnen gemachten Änderungsvorschläge von der Kommission akzeptiert werden. Gleichwohl schreibe die Richtlinie die Form und die Mittel zur Erreichung des in ihr festgesetzten Ziels nicht klar und präzise vor.

Der Kommission seien ihrerseits bei der Kontrolle der nationalen Zuteilungspläne enge Grenzen gesetzt sind. Sie sei zwar befugt, einen vorgesehenen Zuteilungsplan auf seine Vereinbarkeit mit den Kriterien der Richtlinie zu überprüfen und ihn gegebenenfalls abzulehnen. Sie habe aber einen Rechtsfehler begangen, als sie die Ablehnung der nationalen Zuteilungspläne Polens und Estlands mit Zweifeln an der Zuverlässigkeit der verwendeten Daten begründete. Sie dürfe solche nationalen Daten nicht einfach außer Acht lassen und durch Daten ersetzen, die auf ihrer eigenen Bewertungsmethode beruhen. Sie überschreite ihren Spielraum, wenn sie für alle Mitgliedstaaten ein und dieselbe Methode zur Beurteilung der Zuteilungspläne anwenden wolle, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen. Eine solche zentrale Rolle bei der Aufstellung der Zuteilungspläne sei ihr vom Gesetzgeber in der Richtlinie nicht zuerkannt worden.


Zuteilungsmengen der ersten Handelsperiode im Vergleich mit dem faktischen Bedarf 2005
sowie beantragte und genehmigte Zuteilungsmengen für die zweite Handelsperiode 2008 – 2012

(in Millionen Tonnen Kohlendioxid-Emissionen jährlich – die vor dem EuGh klagenden Staaten sind grau markiert)

Mitgliedsland Genehmigte Zuteilungsmenge 2005 - 2007 Überprüfte Emissionen 2005   Beantragte Zuteilungsmenge 2008 - 2012 Genehmigte Zuteilungsmenge 2008-2012 (in Prozent der beantragten Menge)
Belgien 62.1 55.58 63.3 58.5 (92.4%)
Bulgarien 42.3 40.6 67.6 42.3 (62.6%)
Dänemark 33.5 26.5 24.5 24.5 (100%)
Deutschland 499 474 482 453.1 (94%)
Estland 19 12.62 24.38 12.72 (52.2%)
Finnland 45.5 33.1 39.6 37.6 (94.8%)
Frankreich 156.5 131.3 132.8 132.8 (100%)
Griechenland 74.4 71.3 75.5 69.1 (91.5%)
Großbritannien 245.3 242.4 246.2 246.2 (100%)
Irland 22.3 22.4 22.6 22.3 (98.6%)
Italien 223.1 225.5 209 195.8 (93.7%)
Lettland 4.6 2.9 7.7 3.43 (44.5%)
Litauen 12.3 6.6 16.6 8.8 (53%)
Luxembourg 3.4 2.6 3.95 2.5 (63%)
Malta 2.9 1.98 2.96 2.1 (71%)
Niederlande 95.3 80.35 90.4 85.8 (94.9%)
Österreich 33.0 33.4 32.8 30.7 (93.6%)
Polen 239.1 203.1 284.6 208.5 (73.3%)
Portugal 38.9 36.4 35.9 34.8 (96.9%)
Rumänien 74.8 70.8 95.7 75.9 (79.3%)
Slowakei 30.5 25.2 41.3 32.6 (78.9%)
Slowenien 8.8 8.7 8.3 8.3 (100%)
Schweden 22.9 19.3 25.2 22.8 (90.5%)
Spanien 174.4 182.9 152.7 152.3 (99.7%)
Tschechien 97.6 82.5 101.9 86.8 (85.2%)
Ungarn 31.3 26.0 30.7 26.9 (87.6%)
Zypern 5.7 5.1 7.12 5.48 (77%)
SUMME 27 2298.5 2122.16 2325.34 2082.68 (89.56%)
Quelle: Europäische Kommission IP/07/1869