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Allein an Weihnachten 2012 belief sich das Aufgeld, das verschenktem Strom noch hinterhergeworfen werden mußte, um ihn überhaupt loszuwerden, auf rund 92 Millionen Euro. Die Grafik zeigt die Preisentwicklung am Spotmarkt vom 24. bis 27. Dezember. Während 19 von insgesamt 96 Stunden waren die Strompreise negativ.

Strom umsonst, und dazu ein sattes Aufgeld

Das Auf und Ab der Preise gehört zu einer Börse wie der steigende oder fallende Pegel beim Wasserstand eines Flusses. Mitunter kommt es sogar vor, daß die Preise so schrumpfen wie ein Fluß, der bei großer Trockenheit nur noch ein Rinnsal ist. Oder daß sie in die Höhe schießen wie bei einem Fluß, der wegen starker Regenfälle Hochwasser führt. Im Extremfall wird eine Aktie oder eine Ware völlig wertlos, was der völligen Austrocknung des Flußbetts entspräche. Es wäre indessen völlig undenkbar, daß ein ausgetrocknetes Flußbett bei noch größerer Hitze plötzlich wieder Wasser zu führen beginnt, das nun aber – oh Wunder! – nicht mehr bergab, sondern bergauf zu fließen beginnt.

Bei normalen Börsen ist ein vergleichbarer Vorgang ebenfalls undenkbar. Hier wird dann die Aktie oder die Ware eben völlig wertlos. Anders an der Strombörse: Hier können seit September 2008 die Preise nicht nur in den Keller sinken, wie man so schön sagt, sondern den Kellerboden durchbrechen und drei Kilometer tief ins Erdreich vorstoßen.

Konkret heißt das, daß beispielsweise im Jahr 2009 an der EEX der Preis für die Megawattstunde Strom, die im Durchschnitt 39 Euro (Grundlast) bzw. 49 Euro (Spitzenlast) kostete, im Einzelfall zwischen 3000 Euro plus und 3000 Euro minus liegen konnte. Die 3000 Euro plus waren sozusagen jener Hochwasserstand, an dem die Schiffahrt bzw. die Börsennotierung eingestellt wurde. Im Durchschnittspreis steckten aber auch Preise, die gar keine waren, weil die Megawattstunde für 0 Euro zu haben war. Der Strom wurde also verschenkt. Und nicht nur das: Häufig sanken die Preise sogar unter diese Null-Euro-Grenze. Rein börsentechnisch hätten sie nach unten genauso 3000 Euro erreichen können wie nach oben.

Zum Beispiel sank am frühen Morgen des 4. Oktober 2009 der Preis für die Megawattstunde an der Strombörse auf bis zu minus 500 Euro (siehe Grafik 1). Am frühen Morgen des 24. November wurde mit minus 150 Euro ein weiterer Tiefpunkt erreicht (siehe Grafik 2). Das heißt, daß die Anbieter den Strom nicht einmal geschenkt losbekamen. Sie mußten sogar bis zu 500 Euro pro Megawattstunde bezahlen, damit ihnen ein Pumpspeicherkraftwerk oder ein anderer potenter Verbraucher den Strom abnahm. Allein am 4. Oktober belief sich so das Aufgeld, das die Anbieter zwischen ein und sechs Uhr morgens dem verschenkten Strom noch hinterherwerfen mußten, auf über 14 Millionen Euro. Die Ursache waren in beiden Fällen hohe Einspeisungen an Windstrom, die auf einen besonders geringen Bedarf trafen (frühe Morgenstunden am Wochenende).

Börse fungiert praktisch als Stromvernichtungsmaschine

Da es bei Negativpreisen auf eine produktive Verwertung des Stroms gar nicht mehr ankommt, wäre es sogar sinnvoll und ein höchst lukratives Unterfangen, eine Art Stromvernichtungsmaschine zu erfinden. Beispielsweise in Form eines ausgedienten Aluminium-Schmelzofens mit Anschluß ans Hochspannungsnetz und mit Internet-Verbindung zur Strombörse. Der Betreiber des Ofens könnte dann in kürzester Zeit Millionen scheffeln, während sich der über die Börse bezogene Strom in Wärme verflüchtigt.

Noch größer ist der Profit natürlich, wenn der Abnehmer mit dem Strom etwas Vernünftiges anfangen kann. Wenn beispielsweise der Betreiber eines Pumpspeicherkraftwerks den Strom abnimmt und zusätzlich eine sechsstellige Summe als Dreingabe erhält, macht er sogar ein mehrfaches Geschäft, da er mit dem kostenlos hochgepumpten Wasser später wiederum Strom erzeugen kann, der sich zur Abdeckung von Spitzenlast besonders teuer verkaufen läßt.

Das klingt absurd und ist es auch. Im Rahmen des liberalisierten Strommarktes hat es aber seine eigene Logik. Genauso wie die Einführung von Negativpreisen, die auf ausdrücklichen Wunsch der Branche erfolgte. Bei der EEX stießen sie damit auf offene Ohren, weil sich die Energiebörse mit solchen Dienstleistungen immer unverzichtbarer macht, so absurd das Gesamtsystem der liberalisierten Stromwirtschaft inzwischen anmuten mag.

Noch größer sind die Preisexplosionen im positiven Bereich der Preisskala


Aufgrund von Fehlprognosen für Nachfrage und Angebot schossen am 18. Oktober 2009 die Preise am französischen Spotmarkt für den folgenden Liefertag in schwindelerregende Höhen. Auch die Notbremsen des Börsen-Reglements versagten. Erst die technische Grenze des Systems stoppte die Preisexplosion.

Noch größere Ausschläge als im negativen Bereich gibt es naturgemäß auf der positiven Seite der Preisskala, auf der sich die Börsenstrompreise normalerweise bewegen. Die erste Preisexplosion ereignete sich hier bereits am 18. Dezember 2001. Damals stieß am Spotmarkt der EEX-Vorgängerin LPX der Preis an die technisch mögliche Grenze von 1000 Euro. Für die Börsenleitung war das der Anlaß, die Deckelung auf 3000 Euro anzuheben. Diese Obergrenze wurde vorläufig am deutschen Spotmarkt nicht erreicht. Am neuen Spotmarkt für Frankreich, den die EEX seit 2008 gemeinsam mit Powernext betreibt, kam es aber am 19. Oktober 2009 tatsächlich zu einer derartigen Preisexplosion. Sie hatte eine solche Sprengkraft, daß die Deckelung bei 3.000 Euro/MWh (negative Preise gab es bei der Auktion für Frankreich nicht) volle vier Stunden lang überfordert war: Für Lieferungen zwischen 8 und 12 Uhr explodierte der Preis auf mehr als das Sechzigfache des Durchschnitts und wurde nur durch die technische Grenze des Systems gestoppt (siehe Grafik 4).

Wie die französische Regulierungsbehörde CRE anschließend ermittelte, lag dies zunächst einmal an Fehlprognosen, was den Strombedarf am 19. Oktober betraf: Einerseits hatte der Netzbetreiber RTE den voraussichtlichen Strombedarf zu gering eingeschätzt. Andererseits hatte die Kraftwerksbetreibervereinigung UFE die voraussichtlich zur Verfügung stehende Kraftwerkskapazität zu hoch angesetzt. Als die Diskrepanzen sich abzeichneten, sei deshalb am 18. Oktober der Stromhandel am Spotmarkt für den folgenden Liefertag unter "brutale Anspannung" geraten.

Hinzu kam allerdings noch das Versagen des Börsen-Reglements, das eigentlich die Wiederholung der Auktion vorsah, wenn sich solche Wahnsinnspreise abzeichnen. Und das hatte wiederum mit Zeitdruck zu tun. Die einzelnen Auktionen für die Spotmärkte Deutschland/Österreich, Frankreich und Schweiz fanden nämlich in kurzen zeitlichen Abständen statt. Man wollte so die Chancen der Marktteilnehmer erhöhen, bei der einen oder anderen Auktion ins Geschäft zu kommen. Die Auktion für das französische Marktgebiet endete normalerweise um 11 Uhr, während sie für die Schweiz schon um 10.30 Uhr und für das deutsch-österreichische Marktgebiet erst um 12 Uhr abgeschlossen wurde. Um 10.59 Uhr erkannte das Management der Börse schließlich, daß bei der französischen Auktion die Nachfrage und das Angebot in einer Weise aus den Fugen geraten waren, die nach den hauseigenen Regeln die Annullierung der Auktion und die Durchführung einer zweiten erforderlich gemacht hätte. Dazu kam es aber nicht mehr. Der Grund dafür war anscheinend, daß man nicht noch eine weitere Verzögerung des Börsengeschehens für die insgesamt drei Marktgebiete in Kauf nehmen wollte. Denn kurz zuvor war am Spotmarkt für die Schweiz eine zweite Auktion durchgeführt worden und hatte dort das "Fixing" um eine halbe Stunde verzögert. Jedenfalls führte nun das Börsenmanagement um 11.13 Uhr das Fixing für Frankreich durch, wodurch die Wahnsinnspreise gültig wurden.

Importe bewahrten Frankreich vor Schlimmeren - aber die Kapazität der Kuppelstellen war fast erschöpft

Die Regulierungsbehörde hielt es für fraglich, ob eine zweite Auktion tatsächlich den erwünschten Erfolg gebracht hätte. Offenbar stand der Nachfrage einfach kein entsprechendes Angebot gegenüber. Das Schlamassel, das der Stromhandel anrichtete, hatte aber wenigstens technisch keinen gravierenden Folgen: In den vier Stunden, in denen das Stromdefizit trotz "Wahnsinnspreisen" nicht behoben werden konnte, floß über die Grenzen Frankreichs stündlich eine Leistung von fast 7200 Megawatt. Damit war die Kapazität der grenzüberschreitenden Verbindungen von insgesamt rund 9000 MW aber auch schon fast erschöpft, zumal die wichtigsten Kuppelstellen mit Deutschland und Belgien zu hundert Prozent und die mit der Schweiz zu 91 Prozent ausgelastet waren. Der Import aus Spanien war wegen Reparaturarbeiten nicht möglich, und die Verbindung mit Italien stand aus Stromhandelsgründen ebenfalls nicht für Lieferungen nach Frankreich zur Verfügung.

Auch an diesem Beispiel sieht man, daß die monatlichen oder jährlichen Durchschnittspreise an der Strombörse mit Vorsicht zu betrachten sind. Sie haben ungefähr dieselbe Aussagekraft, wie wenn ein Mann mit dem Hintern zur Hälfte auf einem heißen Ofen und mit der anderen Hälfte auf einem Eisblock sitzt, aber ungerührt beteuert, die Durchschnittstemperatur sei erträglich. Strompreise aus Einzel-Notierungen zwischen 3000 Euro plus und 3000 Euro minus kommen nicht zufällig zustande. Dahinter stecken qualitative Veränderungen der Stromwirtschaft, die im Regelfall zu Lasten des Verbrauchers gehen und an anderen Stellen Profite ermöglichen, die es sonst nicht geben könnte. Die "Neue Zürcher Zeitung" - die gewiß ganz unverdächtig ist, an der Liberalisierung der Strommärkte Kritik üben zu wollen - drückte das beiläufig mal so so aus. "In liberalisierten Märkten ist zu beobachten, dass die Reservekapazitäten tendenziell zurückgehen. Das hat zur Folge, dass die Preisschwankungen extremer werden – eine Tatsache, die jedes Händlerherz höher schlagen lässt, denn der Handel profitiert nicht von steigenden Preisen, sondern vielmehr von den Kursschwankungen."