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Schon wegen der insgesamt fünf verschiedenen Strom-Verbundsysteme kann es keinen unbeschränkten Stromhandel und keine allumfassende Strombörse innerhalb Europas geben. Aber auch innerhalb des kontinentaleuropäischen Verbundsystems der früheren UCTE (blau) sind die Verbindungen zwischen den einzelnen nationalen Regelblöcken nicht für den Stromhandel gedacht gewesen. Die zunehmende Belastung dieser "Engpässe" gefährdet die Versorgungssicherheit.

Auf Wunsch der EU gründeten die europäischen Transportnetzbetreiber 2009 den neuen Verband ENTSO-E als Nachfolger der bisherigen Verbundsystem-Verbände UCTE (Kontinentaleuropa), Nordel (Skandinavien), UKTSOA (Großbritannien), ATSOI (Irland) und BALTSO (baltische Staaten).

Eine Strombörse für ganz Europa?

Normalerweise gab sich die Leipziger EEX in ihren Verlautbarungen sehr optimistisch. Schließlich galt es, das Wirken der Strombörse als Erfolgsgeschichte darzustellen. Um so mehr verwunderte es, daß sich ausgerechnet der Vorsitzende des EEX-Börsenrats, Jacques Piasko, im November 2007 recht pessimistisch über die Zukunft der Strombörsen äußerte: "Der Stromhandel außerhalb der Börsen wächst dramatisch", jammerte er gegenüber der "Wirtschaftswoche", die für die Wünsche der Finanzwirtschaft stets ein offenes Ohr hat. "Damit werden die Börsen langsam an den Rand gedrückt. Bestimmend für den Strompreis wird bald nicht mehr die Börse sein, sondern der Handel, den beispielsweise Stromproduzenten mit ihren Großkunden oder auch Stadtwerke außerhalb der Börse betreiben."

Was der EEX-Sprecher als Drama sah, wäre eigentlich eine erfreuliche Entwicklung gewesen. Schließlich kam man in den ersten Jahren nach der Liberalisierung sogar ganz ohne Strombörse aus. Dennoch - oder gerade deshalb - sanken damals die deutschen Strompreise auf einen nie mehr erreichten Tiefstand. Aber leider traf Piaskos Behauptung über die Zunahme des außerbörslichen Handels überhaupt nicht zu. Zumindest nicht für seine eigene Börse: Zum Beispiel stieg 2005 das Handelsvolumen am EEX-Spotmarkt um sage und schreibe 43 Prozent auf 86 Terawattstunden. Das entsprach rund 14 Prozent des gesamten Stromverbrauchs in Deutschland. Und just im Jahr 2007, als Piasko die Strombörsen "langsam an den Rand gedrückt" sah, erhöhte die EEX erneut ihr Handelsvolumen am Spotmarkt um satte 40 Prozent auf 124 Terawattstunden. In den beiden folgenden Jahren wuchs es trotz des sinkenden Stromverbrauchs weiter auf 146 Megawattstunden. Damit erreichte der Anteil des an der EEX gehandelten Stroms rund 25 Prozent des gesamten deutschen Stromverbrauchs.

Das Gejammer des schweizerischen Börsenratsvorsitzenden Piasko (der damals noch Chef des Stromhändlers EGL war, aber kurz darauf seine eigene Stromhandelsfirma gründete) war demnach völlig unbegründet und sogar absurd. Es hatte aber dennoch einen Grund: Es gehörte zur propagandistischen Vorbereitung eines Coups, der die EEX endgültig über die Grenzen Deutschlands hinaus zu einer europäischen Strombörse machen sollte. "Langsam an den Rand gedrückt", wie Piasko sagte, wurde zwar nicht die EEX, aber wohl die eine oder andere Handelsplattform, die sich im übrigen Europa etabliert hatte. Zum Beispiel waren die französische Powernext und die niederländische APX nicht so erfolgreich wie die EEX. Wenn diese nun das eher schleppende Geschäft von Konkurrenten als ein allgemeines Drama für die Strombörsen beklagte, hatte sie Krokodilstränen in den Augen. Sie war nämlich inzwischen drauf und dran, auch in anderen Ländern Europas das Strombörsengeschäft zu übernehmen.

Für die Durchführung dieses Coups brauchte sie ein günstiges politisches Umfeld. Vor allem brauchte sie das Wohlwollen der Europäischen Kommission, ohne und gegen die nichts lief. Im zuständigen Energiekommissar Andris Piebalgs hatte sie inzwischen einen mächtigen Verbündeten gefunden. Stolz präsentierte sie auf ihrer Halbjahrespressekonferenz 2007 einen Spruch, mit dem Piebalgs zwei Monate zuvor auf dem Kongreß des Verbands der Elektrizitätswirtschaft (VDEW) der EEX die Hauptrolle bei der finanzwirtschaftlichen Filetierung der europäischen Energiewirtschaft zugewiesen hatte:

"Die EEX ist sicher ein gutes Modell für eine europäische Strombörse, aber noch nicht groß genug, um alles abzudecken. Ich stelle mir eine Börse mit mehreren Standorten vor."

Das war ziemlich schwammig formuliert, wie bei den meisten Verlautbarungen der Kommission. Im Klartext hörte es sich ungefähr so an: Die Kommission will eine einzige Strombörse für Europa. Aber leider lassen die technischen Gegebenheiten des Netzes eine Verschmelzung der Spotmärkte vorläufig nicht zu. Deshalb sollte zumindest eine organisatorische Börsenintegration mit der Verteilung der Aufgaben auf die bisherigen Handelsplätze erfolgen. Nach Sachlage kommt dafür nur die EEX in Betracht. Wenn sie noch größer wird, kann sie alles abdecken.

EEX muß über die Grenzen expandieren, um ihr Geschäft noch ausweiten zu können

Die EEX genoß von Anfang an den Vorzug, im wichtigsten der europäischen Regelblöcke angesiedelt zu sein, der mit Deutschland den größten Strommarkt der EU umfaßte. Zudem gab es hier traditionell enge stromwirtschaftliche Verbindungen mit Österreich, der Schweiz und anderen Nachbarländern. Diesen Startvorteil galt es zu nutzen. Schon bei Gründung der Frankfurter EEX wurde deshalb der ursprünglich geplante Name "German Energy Exchange" durch "European Energy Exchange" ersetzt. Ebenfalls auf englisch, aber doch vergleichsweise bescheiden und rein stromhandelsmäßig orientiert, kam die Leipziger Konkurrentin als "Leipzig Power Exchange" (LPX) daher. Nachdem beide Börsen fusioniert hatten, gab es indessen nur noch die "European Energy Exchange" (EEX) mit Sitz in Leipzig. Die neue EEX war zunächst ebenfalls nichts weiter als eine deutsche Strombörse. Mit der Namensgebung erhob sie aber bereits den Anspruch, ihre Geschäftstätigkeit räumlich wie inhaltlich zu erweitern.

Die EEX unterstrich ihre europäische Ausrichtung zudem gerne mit dem Hinweis, daß sie – beispielsweise – 172 Handelsteilnehmer aus 19 Ländern habe (Stand Juli 2007). Das änderte aber überhaupt nichts daran, daß sich ihr Handelsgebiet bis 2009 auf die drei Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz beschränkte. Die österreichische Handelszone wurde im April 2005 eröffnet. Die Schweiz kam im Dezember 2006 als eigenständiger Spotmarkt hinzu. Von den soeben genannten 172 Handelsteilnehmern entfielen dabei 68 auf Deutschland, 21 auf die Schweiz und 11 auf Österreich. Insgesamt waren das 100 Unternehmen aus dem Bereich der beiden Spotmärkte für Deutschland/Österreich und die Schweiz. Natürlich war es auch ausländischen Firmen erlaubt, innerhalb dieses Bereichs zu handeln. Im wesentlichen dürften die restlichen 72 Handelsteilnehmer aber am Terminmarkt tätig gewesen sein, wo es auf die physische Lieferung von Strom in der Regel gar nicht ankommt, sondern lediglich auf die Preisentwicklung spekuliert wird. Beispielsweise stammten allein 24 Unternehmen aus Großbritannien.

Wenn die EEX als Strombörse weiter expandieren wollte, mußte sie über kurz oder lang ihre beiden Spotmärkte für Deutschland/Österreich und die Schweiz über die bisherigen Grenzen hinaus ausdehnen. Denn mit jedem Prozent Anteilsgewinn am Stromverbrauch kam sie zugleich jener Grenze näher, wo die Käufer ihren kurzfristig-variablen Strombedarf befriedigt haben. Der restliche und größere Teil des Stromverbrauchs besteht dann aus einer unveränderlichen Grundlast, die durch langfristige Lieferverträge zwischen Erzeugern und Verteilern abgedeckt wird. Inzwischen hatte die EEX zwar auch den Handel mit Gas, Kohle und CO2-Zertifikaten aufgenommen. Zum Umsatz und Gewinn trugen diese neuen Geschäftsfelder aber nur sehr wenig bei. Sie war und blieb zu mehr als neun Zehnteln eine Strombörse, und um auf diesem Gebiet noch weiter expandieren zu können, erschien der Sprung über die Grenzen als absolute Notwendigkeit.

Nun war es aber nicht so, daß der Rest Europas einem unbestellten Feld glich, auf dem die EEX nur zu ackern brauchte (auf die technischen Hindernisse werden wir noch zu sprechen kommen). Entsprechend den Wünschen und Vorgaben der EU-Kommission waren in den meisten europäischen Ländern ähnliche Auktionsplätze gegründet worden. Die europäische Strombörsen-Vereinigung "Association of European Power Exchanges" (Europex) zählte neben der EEX ein Dutzend weiterer Strombörsen zu ihren Mitgliedern, nicht eingerechnet andere Großhandels-Plattformen wie den britischen Elektrizäts-Pool. Im einzelnen handelte es sich um APX-ENDEX (Niederlande), Belpex (Belgien), Borzen (Slowenien), EXAA (Österreich), GME (Italien), Nord Pool (Norwegen/Skandinavien), OMEL (Spanien), OMIP (Portugal), OPCOM (Rumänien), OTE (Tschechien), Powernext (Frankreich) und TGE (Polen).

Betrachtete man diese Strombörsen nach ihrer Bedeutung, so war an erster Stelle die Nord Pool zu nennen, die schon 1993 als Strombörse für den skandinavischen Markt entstanden war, im Jahre 2000 beim Start der Leipziger LPX den Geburtshelfer machte und bis 2008 mit 17 Prozent an der EEX beteiligt blieb. Dann kam die niederländische APX, deren Handelsvolumen erst 2004 von dem der EEX überflügelt worden war. Schließlich verdienten noch die französische Powernext, die belgische Belpex und die österreichische EXXA besondere Erwähnung, deren Handelsgebiete an das der EEX grenzten. Im letzteren Fall überlappten sich die Spotmärkte sogar, denn als die EEX den Handel auf Österreich und die Schweiz ausdehnte, expandierte die EXAA fast gleichzeitig in die Regelzonen von E.ON und RWE. Im Vergleich mit der EEX blieb sie aber eine marginale Veranstaltung.

Alle diese Strombörsen – vielleicht mit Ausnahme von Nord Pool – litten darunter, daß es mit ihrer Liquidität und den Teilnehmerzahlen nicht weit her war. Das galt auch für die EEX, was diese als Hinkende unter den Lahmen aber nicht daran hinderte, auf angeblich besonders hohe Liquidität und Teilnehmerzahlen zu verweisen. Beispielsweise rühmte sich die EEX 2008, daß bei ihr insgesamt 217 Unternehmen aus 19 Ländern am Handelsgeschehen beteiligt seien. Sie wollte so dem Verdacht vorbeugen, hinter der Anonymität des Börsengeschehens könnten ein paar Konzerne die Preise manipulieren. Die reinen Zahlen besagten aber nur wenig, zumal hier Spot-und Terminmarkt zusammengezählt wurden und gewiß nicht alle registrierten Handelsteilnehmer täglich aktiv waren. Beim Rest durfte die Quantität ebenfalls nicht mit Qualität verwechselt werden: Tatsächlich entfiel 2008 mehr als die Hälfte des Umsatzes am EEX-Spotmarkt auf nur fünf Handelsteilnehmer (53,51 Prozent). Vermutlich waren es dieselben fünf, die auch den Terminmarkt zu 49,03 Prozent beherrschten.

Technische Gegebenheiten lassen einheitlichen Spotmarkt für Strom nicht zu

Wenn man Strombörsen für ein sinnvolle Einrichtung hielt, lag es deshalb nahe, für die Errichtung einer europaweit tätigen Strombörse zu plädieren. Damit würde ein Maximum an Liquidität und Teilnehmerzahlen erreicht. Die Zusammenführung sämtlicher Verkaufs- und Kaufangebote für Strom an einer einzigen Börse würde den Kreis der potenten Handelsteilnehmer vergrößern und Manipulationsmöglichkeiten mindern.

So sah dies wohl auch die EU-Kommission, die um so verbissener die Liberalisierung der Energiemärkte betrieb, je mehr sich der seit den neunziger Jahren beschrittene Weg als grandiose Fehlorientierung herausstellte. Sie trat gewissermaßen die Flucht nach vorn an, um das Konzept des liberalisierten Strommarktes doch noch zu einem Erfolg werden zu lassen. Sie wußte aber natürlich, daß die technischen Voraussetzungen für die Einrichtung eines grenzenlosen Stromhandels oder einer einheitlichen europäischen Strombörse bis auf weiteres fehlten. Innerhalb der EU gab es nämlich insgesamt fünf verschiedene Stromsysteme. Und auch innerhalb des großen kontinentaleuropäischen Systems, das von Portugal bis Polen und von Jütland bis nach Sizilien reichte, hätten die Verbindungen zwischen den nationalen Regelblöcken einen unbegrenzten Stromhandel nicht verkraftet.

Diese technischen Hürden stammten aus der Zeit, als die nationalen Regelblöcke - oder die Regelzonen als kleinere Einheit, wie in Deutschland – nichts weiter leisten sollten als eine sichere Stromversorgung. Diesen Zweck erfüllten sie auch. Die grenzüberschreitenden Verbindungen dienten lediglich systemtechnischen Zwecken und dem Stromaustausch der Verbundunternehmen untereinander. Wenn sie nun als "Engpässe" bezeichnet wurden, geschah dies aus der Sicht eines Stromhandels, für den sie nicht angelegt waren. Sie gefährdeten auch nicht die Versorgungssicherheit, indem sie eine ausreichende Zufuhr ausländischen Stroms verhinderten, sondern es verhielt sich genau umgekehrt: Der Stromhandel gefährdete inzwischen die Versorgungssicherheit, weil er die beschränkte Kapazität der grenzüberschreitenden Verbindungen randvoll beanspruchte und damit die Sicherheitsreserven des Netzbetriebs minderte.

Stromhandel gefährdet die Versorgungssicherheit

Dieser grundsätzliche Konflikt zwischen Stromhandel und Versorgungssicherheit offenbarte sich beispielsweise, nachdem Italien immer mehr Strom im Ausland einkaufte, statt im eigenen Land durch Erhöhung der Kraftwerkskapazitäten für die Deckung des Bedarfs zu sorgen: Am 26. Juni 2003 erlitt das Land den größten Stromausfall seit zwanzig Jahren, weil eine aufgetretene Lastspitze nicht mehr durch Importe aus Frankreich ausgeglichen werden konnte. Nur ein Vierteljahr später, am 28. September 2003, kam es zu einem noch größeren Stromaufall, der von der Lombardei bis Sizilien die Lichter erlöschen ließ. Auslöser war in diesem Fall ein Baum, der einer Transportleitung durch die Schweiz zu nahe gekommen war und deshalb deren Abschaltung bewirkt hatte.

Normalerweise hätte der Ausfall einer Transportleitung die Versorgungssicherheit nicht gefährden und schon gar nicht eine solche Katastrophe bewirken dürfen. Zwischen den zuständigen Behörden der Schweiz, Italiens und Frankreichs entbrannte deshalb auch ein heftiger Streit darüber, wer sich wann und wie falsch verhalten habe. An der eigentlichen Ursache ging dieser Streit jedoch vorbei: Das Transportnetz der Schweiz war durch die rasante Zunahme des Stromhandels einfach überfordert. Es verfügte nicht mehr über die Reserven wie früher. Es bestrafte deshalb auch kleinere Fehler beim Netzbetrieb, die früher toleriert worden wären, mit totalem Zusammenbruch und Stromausfall für ein ganzes Land.

Ähnlich verhielt es sich mit dem europaweiten Stromausfall, den am 4. November 2006 der deutsche Transportnetzbetreiber E.ON verursachte. Hier begann alles mit der routinemäßigen Abschaltung einer Höchstspannungsleitung. Hinzu kamen ein Mißverständnis über die Belastbarkeit der Kuppelstellen zwischen den Regelzonen von E.ON und RWE sowie eine gewisse Nachlässigkeit der Netztechniker, die sich auf ihre langjährige Erfahrung verlassen zu können glaubten, statt eine vorgeschriebene Berechnung nochmals durchzuführen. Aber auf diese langjährige Erfahrung war absolut kein Verlaß mehr. Die Techniker hatten nicht mit einer unvorhersehbaren Veränderung der Lastflüsse durch den Stromhandel gerechnet. So fehlten auch hier plötzlich die Reserven, die früher ein kleineres Fehlverhalten toleriert hätten. Prompt fiel in weiten Teilen Europas der Strom aus. Außerdem zerbrach das ganze UCTE-Netz, das normalerweise von Portugal bis Polen und von Jütland bis Sizilien mit exakt derselben Frequenz schwingt, in drei Inseln mit jeweils starker Unter- und Überfrequenz.

EU will Handels-Engpässe zwischen Regelblöcken und Systemen beseitigen

Halten wir also fest: Selbst innerhalb des kontinentaleuropäischen Verbundsystems war bis auf weiteres ein Stromhandel ohne jegliche Beschränkung nicht möglich. Er konnte nur stattfinden, soweit bestimmt technische Voraussetzungen erfüllt waren. Andernfalls mußte er unterbleiben oder von vornherein so beschränkt werden, daß er die von der Technik vorgegebenen Rahmenbedingungen einhielt.

Die EU-Kommission bemühte sich nach Kräften, diesen Zustand zu ändern. Per Verordnung erließ sie einen ganzen Katalog von Maßnahmen, um die innerhalb des kontinentaleuropäischen Verbundsystems bestehenden Engpässe abzubauen. Ferner sollten die Übertragungskapazitäten zwischen den fünf Verbundsystemen erweitert werden, was im Falle Skandinaviens, Großbritanniens und Irlands den Bau kostspieliger Gleichstrom-Brücken erforderte. Das Ziel war ein möglichst europaweiter Stromhandel, der auch vor Grenzen nicht haltmachte. Ferner verpflichtete diese Verordnung die europäischen Transportnetzbetreiber zu einer Zentralisierung ihrer Verbandsstruktur: An die Stelle der bisher fünf Verbundsystem-Verbände UCTE (Kontinentaleuropa), Nordel (Skandinavien), UKTSOA (Großbritannien), ATSOI (Irland) und BALTSO (baltische Staaten) sowie der systemübergreifenden Transportnetzbetreiber-Vereinigung ETSO trat 2009 als einziger Spitzenverband die ENTSO-E. Die Abkürzung ENTSO stand dabei für "European Network of Transmission System Operators".

Trotz dieser Bemühungen blieb ein unbeschränkter Stromhandel vorerst ebenso eine Utopie wie die flankierende Errichtung einer allumfassenden europäischen Strombörse mit einem einzigen Marktgebiet. Wer nur an einer sicheren und preiswerten Stromversorgung interessiert war, vermißte diese Utopie auch nicht. Schließlich waren es die Verbraucher, denen die Kosten für neue Stromautobahnen aufgebürdet wurden. Daß ein ungehinderter Stromhandel quer durch Europa endlich den Durchbruch zu mehr Wettbewerb mit Preissenkungen schaffen werde, mußte nach allen bisherigen Erfahrungen als äußerst fraglich gelten. Schließlich hatte sich seit 1996, als die EU ihre erste Richtlinie zur Liberalisierung der Strommärkte erließ, keine einzige der versprochenen Segnungen eingestellt: Anstatt zu sinken, waren die Strompreise in ganz Europa kräftig gestiegen. Anstatt einfacher zu werden, war das ohnehin komplizierte Gefüge der Stromversorgung mit einer Unzahl bürokratischer und technischer Regelungen zusätzlich befrachtet und schier undurchschaubar worden. Allein der Aufwand für die Netzregulierung, der notwendig wurde, um die "Deregulierung" der übrigen stromwirtschaftlichen Bereiche zu ermöglichen, glich einem Schildbürgerstreich. Besonders peinlich war für die neoliberalen Marktideologen, daß der versprochene Wettbewerb sich auch ein Jahrzehnt nach der Liberalisierung noch nicht eingestellt hatte. Im Gegenteil: An die Stelle der staatlich kontrollierten Gebietsmonopole von unzähligen integrierten Stromversorgern – allein in Deutschland gab es an die tausend – war europaweit das Oligopol einer Handvoll Energiekonzerne getreten.

Für die Oligopolisten, Stromhändler, Finanzmarkt-Jongleure und sonstigen Nutznießer der Strombörse sah das natürlich ganz anders aus. Sie brauchten die Stromautobahnen, um ein noch größeres Rad drehen zu können, was die "Veredelung" der Preise via Börse, das Profitieren von Preisschwankungen und die Ausweitung des Derivate-Handels betraf. Und wenn es schon nicht möglich war, einen einzigen Spotmarkt für ganz Europa als Basis für einen entsprechenden Terminhandel einzurichten, so sollte die Vereinheitlichung der Märkte doch wenigstens so weit wie möglich vorangetrieben werden.

Man hatte auf diesem Gebiet inzwischen einige Erfahrungen gesammelt. Beispielsweise mit "Market-Splitting", wie es Nord Pool betrieb, um Engpässe zwischen den Netzen der skandinavischen Länder zu überspielen. Oder mit "Market-Coupling", wie es Ende 2006 zwischen den Strombörsen Powernext, APX und Belpex vereinbart wurde (Belpex war eigens zu diesem Zweck gegründet worden). Im Juni 2007 beschlossen die Energieminister, in diese Marktkopplung der Benelux-Länder und Frankreichs auch Deutschland einzubeziehen, und zwar so, daß der Stromhandel, das Engpaß-Management (Kapazitätsauktion) und die Netzsteuerung in einem Vorgang zusammengefaßt werden.

Die verzwickten Berechnungen, die "Market-Splitting" und "Market-Coupling" erfordern, erledigen natürlich wieder Computer. Aber dennoch müssen die Rechner erst mal über die passenden Programme verfügen. Und das ist gar nicht so einfach, wie die EEX erfahren mußte, als sie Ende 2006 zusammen mit Nord Pool und den zuständigen Netzbetreibern die Einführung das "Market-Coupling" mit Dänemark für das vierte Quartal 2007 bekanntgab. Zunächst mußte der Start um ein Dreivierteljahr verschoben werden. Als es dann nach einer erneuten Verschiebung endlich losging, wurde die Marktkopplung nach ein paar Wochen wieder abgeblasen, weil die Systeme von EEX und Nord Pool einfach nicht unter einen Hut zu bringen waren.

EEX und Powernext gründen gemeinsame Töchter für den Spot- und Terminmarkt

Vor diesem Hintergrund begannen 2007 die EEX in Leipzig und Powernext in Paris mit Verhandlungen über eine enge Kooperation. Auch eine Fusion beider Unternehmen schien nicht ausgeschlossen. Zumindest war daran gedacht, die Spot- und Terminmärkte beider Börsen organisatorisch zusammenzulegen. Der gemeinsame Spotmarkt sollte künftig in Paris und der Terminmarkt in Leipzig angesiedelt sein. Der bisherige EEX-Geschäftsführer Hans-Bernd Menzel durfte hoffen, Chef der fusionierten Börse zu werden, während Powernext-Chef Jean-Francois Cornil-Lacoste als Leiter des fusionierten Spotmarkts vorgesehen war.

Mit am Verhandlungstisch saßen die Finanzgruppen, die beide Börsen beherrschten und von denen wohl auch die Initiative ausgegangen war: Bei der EEX war das die Terminbörse Eurex, die ihrerseits gemeinsam der Deutschen Börse AG und der SWX Swiss Exchange gehörte. Die Eurex betätigte sich bereits bei der Gründung der Frankfurter Strombörse EEX als treibende Kraft. Nach deren Fusion mit der Nordpool-Gründung LPX wurde sie mit 23 Prozent der größte und dominierende Aktionär der neuen EEX.

Die französische Börse Powernext war dagegen eine Gründung der Euronext-Gruppe, die im Jahr 2000 aus der Fusion der Börsen in Amsterdam, Brüssel, Lissabon und Paris entstanden war und zudem den Terminmarkt in London betrieb. Nord Pool stellte hier nur die technischen Dienstleistungen bereit. Ähnlich wie die Eurex in Leipzig überließ die Euronext in Paris die Mehrheit der Börsenanteile anderen Unternehmen der Finanz- und Energiewirtschaft. Im Jahr 2007 fusionierte sie mit der New Yorker Börse zur transatlantischen Börse NYSE Euronext.

Als erster Schritt zur Zusammenlegung der Spot- und Terminmärkte wurden 2008 die beiden Tochtergesellschaften Epex Spot SE (für den Spotmarkt) und EEX Power Derivatives GmbH (für den Terminmarkt) gegründet. Die EPEX Spot war eine Gesellschaft europäischen Rechts (Societas Europaea) mit eingetragenem Sitz in Paris und einer Niederlassung in Leipzig. Sie gehörte zu jeweils 50 Prozent EEX und Powernext. Die EEX Power Derivatives GmbH hatte dagegen ihren Sitz in Leipzig sowie eine Niederlassung in Paris. Ferner war hier die Beteiligung nicht paritätisch: Sie gehörte zu 80 Prozent der EEX und zu 20 Prozent der Powernext.

Ab Oktober 2009 wurden die Handelsvolumina an beiden Märkten gemeinsam veröffentlicht. Ungeachtet der organisatorischen Zusammenfassung unter dem Dach der neuen Epex erfolgten die Spotmarkt-Auktionen für die Marktgebiete Schweiz, Frankreich und Deutschland/Österreich aber weiterhin getrennt, und zwar in zeitlich versetzter Reihenfolge mit dem Fixing um 10.30, 11.00 und 12.00 Uhr. Im November 2009 setzten die beiden Tochtergesellschaften insgesamt ein Volumen von 113,4 Terawattstunden (TWh) um, wovon der allergrößte Teil mit 94,4 TWh auf den Terminhandel entfiel. Das Clearing und die Abwicklung aller Geschäfte besorgte die European Commodity Clearing AG (ECC) als Tochterunternehmen der EEX.

Nord Pool zieht sich aus der EEX zurück

Noch während der Verhandlungen zwischen beiden Börsengruppen schied Nord Pool Anfang 2008 bei der EEX als Großaktionär aus. Die Skandinavier waren bei der nun begonnenen Aufteilung des kontinentaleuropäischen Marktes das fünfte Rad am Wagen. Nachdem sie das Arrangement nicht verhindern konnten, sahen sie in der Beteiligung an der EEX offenbar keine Perspektive mehr. Zunächst wollte die Eurex die freiwerdende Beteiligung von 17 Prozent für 46 Millionen Euro übernehmen und so ihren Kapitalanteil an der EEX zusammen mit weiteren Aktien aus bisherigem Eigenbesitz der Börse auf 44 Prozent aufstocken. Am Ende begnügte sie sich aber mit 35 Prozent. Den Rest der Anteile übernahm hauptsächlich die Landesbank Baden-Württemberg als Nachfolgerin der Landesbank Sachsen, indem sie deren bisherige Beteiligung von 17 auf 23 Prozent erhöhte.

Bemerkenswert war ferner, daß EEX und Powernext den Handel mit CO2-Zertifikaten bei ihrer Kooperation von vornherein ausklammerten: Schon im Oktober 2007 teilten sie mit, daß sie dieses Geschäft künftig in enger Anlehnung an die Mütter Eurex bzw. Euronext betreiben würden. Dabei waren die CO2-Zertifikate – anders als Strom – eine rein virtuelle Ware, die ohne Beschränkungen europaweit gehandelt werden konnte. Aber gerade deshalb scheint jede der beiden Börsengruppen auf diesem Gebiet an ihrer eigenen Strategie festgehalten und sich davon besondere Vorteile erhofft zu haben.

"Strommarkt-Kopplung von Marseille bis Hammerfest erreicht"

Am 9. November 2010 war es dann soweit, daß die Bundesnetzagentur enthusiastisch von einem "gemeinsamen Strommarkt von Hammerfest bis Marseille" sprechen konnte, der in nicht allzuferner Zukunft auch "Lissabon, Tallin und Athen" umfassen werde. Genau ein Jahr zuvor war die zunächst gescheiterte Marktkopplung zwischen EEX und Nordpool wieder aufgenommen worden. Sie funktionierte nun tatsächlich und brauchte nicht wieder rückgängig gemacht zu werden. Zur Abwicklung des Geschäfts gründeten die beiden Börsen zusammen mit den Transportnetzbetreibern 50Hertz Transmission (ehemals Vattenfall), TenneT (ehemals E.ON) und Energinet (Dänemark) die European Market Coupling Company GmbH (EMCC) mit Sitz in Hamburg.

Die seit 2005 betriebene Marktkopplung zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten kam ebenfalls voran. Dem seit Ende 2006 bestehenden Zusammenschluß der Strombörsen Powernext, APX und Belpex konnte nun auch die EEX eingefügt werden. Wobei "einfügen" nicht ganz der richtige Ausdruck ist, weil mit der Einbeziehung der EEX diese zweifellos noch an Gewicht gewann und ihre Rolle als führende Strombörse Europas festigen konnte.Als grenzüberschreitend tätiger Netzdienstleister für die fünf Länder fungierte die Capacity Allocation Service Company for the Central West European Electricity market (CASC-CWE) mit Sitz in Luxemburg. Als Gesellschafter fungierten hier nur die beteiligten Netzbetreiber.

EEX wird zum Scharnier zwischen den Märkten Zentraleuropas und Skandinaviens

Am 9. November 2010 wurden jedoch nicht nur die Strommärkte Deutschlands, Frankreich und der Benelux-Staaten börsenmäßig vereinigt. Zugleich wurde diese neue Preiskopplung für die fünf Staaten des zentralwesteuropäischen Elektrizitätsmarkts (CWE) mit dem bereits existierenden Verbund zwischen Deutschland und Skandinavien bzw. EEX und Nordpool koordiniert. Da die beiden Verbünde operativ noch unterschiedlich organisiert waren, bezeichnete man die Zusammenarbeit als vorübergehende Volumenkopplung (Interim Tight Volume Coupling – ITVC). Der Betrieb sollte aber sobald wie möglich vereinheitlicht werden. Die EEX bildete bei dieser Vereinigung des zentraleuropäischen mit dem skandinavischen Strommarkt sozusagen das Scharnier.

Die Marktkopplung ermöglichte der Börse eine effizientere Nutzung der Engpässe zwischen den europäischen Regelblöcken, indem sie den grenzüberschreitenden Stromhandel mit dem Erwerb der dafür erforderlichen Übertragungskapazitäten kombinierte. Bislang handelte es sich um getrennte Vorgänge, wodurch manches Stromhandelsgeschäft mangels Kapazität unterbleiben mußte oder ein Teil der Übertragungskapazität nicht genutzt wurde.Im Idealfall – das heißt bei ausreichenden Kapazitäten an den Kuppelstellen der Regelblöcke – ergaben sich durch die Marktkopplung gleiche Preise an den Strom-Spotmärkten der beteiligten Länder. Wenn die Nachfrage die Kapazität der grenzüberschreitenden Verbindungen überstieg, kam es zwar zu unterschiedlichen Strompreisen, doch wurde mit dem höheren Strompreis zugleich die Lieferung gesichert.

Neue Möglichkeiten für das "Zocken" mit Derivaten

Mit den neuen Möglichkeiten am Spotmarkt erweiterte sich zugleich der Spielraum für den Derivate-Handel am Terminmarkt, bei dem eine Lieferung gar nicht beabsichtigt ist und der den Börsen das meiste Geld bringt. Auch für die großen Börsen-Akteure hatte das sicher einen ganz besonderen Reiz. Im Oktober 2010 wurde eine Studie zur Entwicklung der Konzerngewinne bei RWE, E.ON und EnBW bekannt, derzufolge der E.ON-Konzern einen großen Teil seiner Gewinne mit Derivaten erzielte: Inzwischen verdiene er mit dem "Zocken" an der Börse sogar mehr als im Kerngeschäft mit Strom und Gas.