Eine Ausgabe der "Charis" vom 2. Januar 1822 (Bild zum Vergrößern anklicken).


Charis. Rheinische Morgenzeitung

(April 1821 - Dez. 1824)

In die Zeit der schwärzesten Reaktion nach den enttäuschten Hoffnungen der Befreiungskriege gegen Napoleons Herrschaft fällt das Erscheinen von "Charis. Unterhaltungsblatt für Leben und Literatur, Poesie und Kunst", wie der anfängliche Titel eines Blattes lautete, das am 4. April 1821 in der Hofbuchdruckerei Kaufmann das Licht der Quadratestadt erblickte. Redakteur und Herausgeber war Fr. Karl Frhr. v. Erlach, ein ehemaliger preußischer Kriegsdomänenrat aus Quedlinburg, der 1806 "der Wohlfeilheit wegen" nach Mannheim Übergesiedelt war. Die "Charis" kam zunächst mittwochs und sonnabends heraus. Das vierteljährliche Abonnement kostete eineinhalb Gulden. Als Verleger trat die Schwan- und Götzische Buchhandlung auf.

Äußerlich war die "Charis" ein unpolitisches Blatt. "Der Geist blühender Anmut und die Huld des Lesers mögen mit reinem Hauch über diese Blätter wehen", hieß es einleitend. Die Titelgebung "Charis" wurde übersetzt mit "alles, was zum Wohlgefallen, zur Kunst, zur Anmut" gehört. - Unschuldiger konnte sich eine Zeitung beim Publikum kaum einführen.

Dennoch mußte dieses Blatt vor dem Hintergrund der Zeit als Lichtblick erscheinen. Seine Theaterkritiken, Gedichte, Charaden, Novellen und sonstige Beiträge konservierten so manches, was sich unmaskiert gar nicht mehr an die Öffentlichkeit getrauen durfte. In einer Zeit, zu der jede politische Opposition verboten war und unnachsichtig verfolgt wurde, mußte das Politische notwendigerweise die Form des Unpolitischen annehmen. Zu schwach, um den feudalen Machthabern die Herrschaft ernsthaft streitig zu machen, flüchtete sich das deutsche Bürgertum ins Traumreich der Künste. Besonders lebhaften Ausdruck fand diese Fluchtbewegung in der Passion für das Theater, und es entsprach ganz dem vorhandenen Bedürfnis, wenn die "Charis" ihren "Hauptgegenstand" in der Beurteilung der dramatischen und musikalischen Aufführungen in Mannheim erblickte.

Unter den literarischen Beiträgen in der "Charis" tauchen oft die Namen von Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, de la Motte-Fouque und Karl Thorbecke auf. Die Blätter atmen den Geist des Biedermeiers und der ausgehenden Romantik, die beide wohl als Kunst dle Reaktionszeit widerspiegelten, aber nicht schlechthin als reaktionär zu bezeichnen sind. "Im großen und ganzen betrachtet ist die deutsche Romantik Reaktion. Als geistige, poetisch-philosophische Reaktion enthält sie trotz dessen zahlreiche Keime zu neuer Entwicklung, unbestreitbare Erzeugnisses jenes Geistes des Fortschritts, der umbildend neues schafft, und unausgesetzt den Horizont erweitert" (Georg Brandes).

Die erzwungene Camouflage der bürgerlichen Opposition kam am deutlichsten im "Philhellenentum" der zwanziger Jahre zum Ausdruck. Zu ohnmächtig, um die eigenen Unterdrücker hinwegzufegen, berauschte sich das gebildete Deutschland am Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken. Der Aufstand gegen die Knechtschaft wurde symbolträchtig gefeiert. So findet sich beispielsweise auch in der "Charis" vom 4. August 1821 ein Gedicht von Fr. v. Poser auf den Freiheitskampf der Griechen sowie ein ausführlicher Bericht zur Lage auf der Balkan-Halbinsel, der in der poesievollen Umgebung vergleichsweise nüchtern wirkt.

Diese Camouflage dürfte bei den wenigsten damals die Schwelle des Bewußtseins überschritten haben. Artig motivierte die "Charis" ihr Philhellenentum mit der Verteidigung des Christentums gegen die Muselmanen. Noch war der Schritt zur "Tendenzliteratur" nicht getan, die augenblinzelnd dem Zensor ein Schnippchen schlägt. Noch gab es in Mannheim keinen Gustav Struve, der unterm Gelächter des Volkes zum Sturz der "chinesischen Regierung" aufforderte, wobei jedermann wußte, was unter der "chinesischen Regierung" oder unter dem "Kaiser von China" zu verstehen war.

In einer Liste der regelmäßigen Mitarbeiter, die das Blatt veröffentlichte, fallen zwei Namen auf, die später noch politischen Klang bekommen sollten: G. G. Gervinus und Dr. Siebenpfeiffer. Gervinus redigierte ab 1847 die "Deutsche Zeitung", das Leitorgan der deutschen Bourgeoisie, und Siebenpfeiffer trat nach der Julirevolution 1830 publizistisch mit dem "Westboten" und einem Probeblatt des "Hausfreund" hervor.

Trotz ihres harmlosen Paniers eckte die "Charis" mindestens einmal politisch an. In den Akten des Generallandesarchivs Karlsruhe befindet sich die Beschwerde eines Freiherrn Max von Berlichingen aus dem Jahre 1822, der dem Blatt vorwirft, einer seiner Artikel habe Ausfälle gegen den Adel enthalten.

Ab 1822 wechselte die "Charis" in den Verlag der Neuen akademischen Buchhandlung von Karl Groos in Heidelberg und änderte ihren Titel in "Charis. Rheinische Morgenzeitung für gebildete Leser". Druck und Herausgeber blieben unverändert in Mannheim. Die Adresse der Redaktion lautete B 2, 7. Ab 1823 erweiterte das Blatt seine Erscheinungsweise auf montags, mittwochs und sonnabends. Jeden Monat wurde als Lithographie ein Musikblatt mit Noten beigelegt, jedes Quartal ein Titelblatt mit Inhaltsangabe der zurückliegenden Nummern. Das jährliche Abonnement kostete zehn Gulden, 48 Kreuzer, für Mannheim und Heidelberg jedoch nur neun Gulden.

Der Rabatt für die Leser in Mannheim und Heidelberg, später auf Karlsruhe und Darmstadt ausgedehnt, verfehlte indes die erhoffte Wirkung. Es kamen nicht genügend Abonnenten zusammen, um dem Blatt auf die Dauer eine lebensfähige Grundlage zu bescheren. "Weder Vorteil noch Eitelkeit bewogen den Herausgeber, diese Zeitschrift ans Licht zu befördern, sondern der durch häufige Aufforderungen genährte Gedanke, daß auch wohl Mannheim sich jenen kunstsinnigen Städten anreihen dürfe, die, aus ihrer Mitte, Unterhaltungsblätter in die Welt schicken." So hatte Erlach zur Eröffnung des zweiten Abonnements im Juli 1821 geschrieben. Drei Jahre später mußte er bekennen, daß die Einnahmen nicht mal die Kosten deckten. Die Neue akademische Buchhandlung von Karl Groos in Heidelberg gab das defizitäre Blatt an den Herausgeber zurück und trat ab 3. Juli 1824 nur noch als Kommissionär auf. Erlach bezifferte die ihm drohende Einbuße für das zweite Semester auf drei- bis vierhundert Gulden. Dennoch, so kündigte er an, sei er zur Fortsetzung des Blattes entschlossen, in der Hoffnung, daß die gebildeten und höheren Stände Mannheims, Heidelbergs, Karlsruhes und Darmstadts ihn entsprechend unterstützten.

Dem verstärkten Bemühen um die Gunst des Publikums war es wohl zuzuschreiben, daß die "Charis" im letzten halben Jahr ihres Bestehens stellenweise an ein Tendenzblatt gemahnt. So erschien in Fortsetzungen die "Probe einer deutschen Bearbeitung des Candide" von F. L. Lindner voller deftiger Anspielungen. Als Zeichen des Abstiegs vom hohen Parnaß durfte es auch gewertet werden, daß eine Ode "an Ihre Hoheit die Frau Markgräfin Leopold bei Ihrem Wiederausgange" jetzt in Schwarzwälder Mundart abgedruckt wurde.

Ab 3. Juli 1824 ergänzte den Titel der "Charis" ein Motto: "Gehorsam den Regenten! - Achtung dem wahren Adel! - Allgemeinheit dem echten Christentum! - Friede und Segen den Hütten!" - Die Betonung lag natürlich auf "wahr" und "echt". Besonders maliziös war die letztgenannte Parole, die das Fragment eines Schlachtrufs der französischen Revolution darstellte, nämlich Chamforts "Friede den Hütten, Krieg den Palästen!". Einige Jahre später sollte diese Parole in Georg Büchners "Hessischem Landboten" neubelebt werden.

Die finanzielle Malaise des Herausgebers Erlach dürfte mit darauf zurückzuführen gewesen sein, daß er seit 1. Januar 1824 zusätzlich einmal wöchentlich die "Charis. Blätter für Kunst, Literatur und Altertum" erscheinen ließ. Diese wurden zunächst ebenfalls bei Kaufmann, ab 2. September beim Katholischen Bürgerhospital gedruckt. Auch für sie ließ sich Erlach um die Jahresmitte ein Motto einfallen: "Reichhaltigkeit, Klarheit, Kürze! - Schillers Manen, und Goethe dem Lebenden geweiht!" Die letzte Nummer erschien am 30. September 1824.

Dem Stammblatt, der "Charis. Rheinische Morgenzeitung", war kein viel längeres Leben mehr beschieden. Der Herausgeber wartete nur noch auf den Ablauf des alten Abonnements, um sich ihrer zu entledigen. Die letzte Nummer erschien am 31. Dezember 1824. Mit 5inn für Galgenhumor plazierte Erlach an die Spitze ein Gedicht: "Lord Byron's Schwanengesang". Daneben die lakonische Mitteilung: "Mit dieser Nummer ist die 'Charis. Rheinische Morgenzeitung' und zugleich ihr vierter Jahrgang geschlossen."