"Er hatte alles, was zur Erfüllung seiner widernatürlichen Wünsche notwendig war, gleich an Ort und Stelle in seinem Redakteurszimmer der Neuen Mannheimer Zeitung." - Chefredakteur Kurt Fischer zählte als Mitbegründer der "Deutschen Volkspartei" in Baden zu den Honoratioren der Mannheimer Bourgeoisie. Umso schockierender war sein plötzlicher Abgang als Chefredakteur. Ein Skandalblatt hatte enthüllt, daß sich Fischer die Notlage arbeitsloser Mädchen für seine sadomasochistischen Neigungen zunutze gemacht habe. Der Huck-Konzern feuerte seinen Mannheimer Stattbalter unverzüglich.

Sado-Sex im Chefzimmer

Schein und Sein bei der "Neuen Mannheimer Zeitung"

Man schrieb den 9. Oktober 1929, als die "Neue Mannheimer Zeitung" endlich von E 6 ins Bassermann-Haus am Marktplatz übersiedelte. Hinter dem prachtvollen Patrizier-Gebäude, das fortan Verlag und Redaktion beherbergte, war ein Neubau für die technischen Betriebsteile entstanden. Sein Architekt war Prof. Alfred Breslauer, der für Huck auch dessen Privatvilla entworfen hatte. Der Innenhof zwischen dem umgebauten Bassermann-Palais und dem Neubau war in einem durch die "neue Sachlichkeit" temperierten Renaissance-Stil gehalten - eine Spezialität des Architekten. Genau 15 Jahre später - am 19. Oktober 1944 - würde ein Bombenangriff die ganze Herrlichkeit in Schutt und Asche legen. Nur das rückwärtige technische Betriebsgebäude würde weitgehend verschont bleiben, so daß dort ab 1946 der "Mannheimer Morgen" als Lizenzzeitung der amerikanischen Besatzungsmacht erscheinen konnte.

Anläßlich des Umzuges in das neue Druck- und Verlagsgebäude brachte die "Neue Mannheimer Zeitung" eine Festbeilage mit historischen Rückblicken heraus. Dabei wurde besonderer Wert auf die angeblich 140jährige Tradition des Blattes gelegt. "140 Jahre Mannheimer Heimatzeitung" überschrieb Chefredakteur Kurt Fischer seinen Jubelartikel, in dem er zwar dies und jenes "Aus der Geschichte der Druckerei Dr. Haas" mitteilte, jedoch kein Wort über den gegenwärtigen Besitzer der Zeitung verlauten ließ. Offensichtlich sollte für die Öffentlichkeit der Anschein eines selbständigen mittleren Zeitungsunternehmens aufrechterhalten werden. (19)

Chefredakteur Fischer verlor sein Amt zweieinhalb Jahre später, nachdem ein auf Enthüllungen spezialisiertes Blatt, die "Neue Süddeutsche Freie Presse", ihm sittliche Verfehlungen vorgeworfen hatte: Der Chefredakteur, der den Lesern der "Neuen Mannheimer Zeitung" immer die "deutsche Zucht und Art" preise, besitze in Wirklichkeit die Art des berüchtigten Dr. Lorenz Petersen vom "Neuen Mannheimer Volksblatt".

Was es mit jenem Dr. Petersen auf sich habe, wurde nicht näher ausgeführt. Anscheinend war er aber auch kein solcher Heiliger, wie es sich für den Redakteur des katholischen Zentrumsblattes geziemt hätte.

Was Fischer anging, waren die Vorwürfe sehr konkret: Er habe die Not von stellungssuchenden Mädchen ausgenutzt, um sie mit pornografischer Lektüre ("Das grausame Weib") für sadomasochistische Sex-Spiele zu gewinnen. "Er hatte alles, was zur Erfüllung seiner widernatürlichen Wünsche notwendig war, gleich an Ort und Stelle in seinem Redakteurszimmer der Neuen Mannheimer Zeitung."

Folgte man dem Blatt, so hätte sich in der Chefredaktion der "Neuen Mannheimer Zeitung" ein Marquis de Sade sicher sehr heimisch gefühlt. "Die abwegigen Triebe des Herrn Kurt Fischer sind im Grunde genommen gleichgültig", hieß es dazu, "aber Abscheu und Empörung muß jeden erfassen, der erfährt, wie Herr Fischer die Notlage erwerbsloser Mädchen dazu ausnützt, um sie sich gefügig zu machen." (90)

Diese Vorwürfe waren vor dem Hintergrund der großen Weltwirtschaftskrise zu sehen, die just begonnen hatte, als die "Neue Mannheimer Zeitung" ihr neues Gebäude bezog. In Deutschland gab es sieben Millionen Arbeitslose. Unter den arbeitslosen Massen herrschten Hunger und Elend. Die Beschuldigung, der Chefredakteur habe die Not von stellungssuchenden Mädchen ausgenutzt, barg somit etliche Brisanz. Sie war auch nicht aus der Luft gegriffen, denn das Skandalblatt konnte einen Volltreffer verbuchen: Kurz nach Erscheinen der "Neuen Süddeutschen Freien Presse" wurde Fischer von der Konzernleitung in Urlaub geschickt. Drei Tage später wurde er gänzlich aus dem Impressum der Zeitung getilgt.

Die schnelle Verabschiedung des langjährigen Chefredakteurs schockierte Mannheims Bürgerkreise mehr als das, was ihm vorgeworfen worden war. Immerhin war Fischer seit 1922 Chefredakteur des "General-Anzeigers" gewesen. 1919 hatte er mit dem späteren Reichsaußenminister Curtius die "Deutsche Volkspartei" in Baden gegründet. Später war er Vorstandsmitglied der DVP in Mannheim und des geschäftsführenden Ausschusses der Landespartei. (91)

Eine ähnliche Stellung als Mitglied des Bürgerausschusses bekleidete Dr. Lorenz Petersen, der Chefredakteur des frommen "Neuen Mannheimer Volksblatts", der ebenfalls über sexuelle Abenteuer stolperte und seinen Posten abgeben mußte.

Schockierend war für das Bürger-Kartell vor allem, daß man nicht mehr sicher sein konnte, die eigene Doppelmoral, über die man sich bisher augenzwinkernd verständigt hatte, schwarz auf weiß vorgehalten zu bekommen. Denn im allgemeinen waren das, was die "Neue Süddeutsche Freie Presse" und andere Skandalblätter genüßlich aufbauschten, keine Geheimnisse. Die Skandalblätter zehrten von dem, was bisher mündlich verbreitet worden war, unter Verletzung ungeschriebener Spielregeln, freilich auch verfolgt von Behörden und Justiz. So wurde die "Neue Süddeutsche Freie Presse" am 25. Mai 1932 auf den Index der Schmutz- und Schundschriften gesetzt, was einem behördlichen Todesurteil gleichkam. Die "Neckar-Zeitung", die sich nach Ansicht bürgerlicher Kreise am "üblen Journalismus" beteiligte (92), geriet ebenfalls ins Visier staatlicher Stellen. Ende 1931 wies das badische Innenministerium die Mannheimer Polizei auf Artikel in der "Neckar-Zeitung" hin, die Anlaß zu polizeilichem Einschreiten geben könnten. "Ich ersuche, dieser Zeitung besondere Aufmerksamkeit zu schenken", formulierte der verantwortliche Beamte vieldeutig. (90)

Die "Neckar-Zeitung" war eine wöchentlich erscheinende Stadtteil-Zeitung für das Arbeiterviertel Neckarstadt. Sie wurde am 4. Mai 1907 gegründet, ging aber Ende 1911 schon wieder ein. Ihr Herausgeber, die Neckar-Druckerei von P. Eschert in der Zehntstraße 35, druckte nach dem Ersten Weltkrieg "Die Rote Fahne", das Organ der KPD. Am 6. November 1925 kam dann die "Neckar-Zeitung" erneut heraus. (90) Als verantwortlicher Redakteur zeichnete Dr. Ernst Hirsch, ein ehemaliges Mitglied der literarisch-expressionistischen Gruppe "Der Grüne Schrey", die 1919/21 die Flugschrift "Der Schrey" erscheinen ließ. Hirsch soll später nach Australien ausgewandert sein. (86)

Die "Neue Süddeutsche Freie Presse", die tatsächlich ein reines Skandalblatt war, wurde im Lohnauftrag bei der Rhein-Main-Druck AG, der Mannheimer Druckerei der KPD, hergestellt vermutlich deshalb, weil andere Druckereien bei Annahme des Auftrages um ihre Geschäftsbeziehungen hätten fürchten müssen. Der ehemalige Druckereileiter der Rhein-Main-Druck AG, Franz Büchler, erinnerte sich noch, wie die Herausgeber immer von auswärts angereist kamen, um das Blatt in Mannheim herstellen zu lassen. (93) Aus Polizeiakten geht hervor, daß das Blatt erstmals im Dezember 1931 in Stuttgart herauskam und sein Gründer, ein Tscheche, schon im Januar aus Württemberg ausgewiesen wurde. Darauf trat der Anzeigen-Aquisiteur als Eigentümer auf, der - für einen Verleger etwas befremdlich - in einem armseligen Zimmer, das auch die Redaktionsadresse war, zur Untermiete hauste. (90)

Letztlich zählte diese Art von Presse genauso zur kapitalistischen Geschäftemacherei wie die "seriöse" bürgerliche Presse, die bei einem Blick hinter die Kulissen gar nicht so seriös war. Im Kampf um Anzeigenaufträge und die Lesergunst des kleinen Mannes entwickelte sich auf der untersten Stufe des Handels mit bedrucktem Papier ein hemmungsloser Revolver-Journalismus, der in der Tat den gewohnten bürgerlichen Konsens sprengte und an den das zur selben Zeit gegründete "Hakenkreuzbanner" mit seiner zügellosen, desorientierenden Hetze gegen "Bonzen" und "jüdische Parasiten" nahtlos anknüpfen konnte.

Leidtragender war am Ende der Drucker: Als die "Neue Süddeutsche Freie Presse" in ihrer sechsten Nummer wieder mal zielbewußt unter die Gürtellinie griff ("Ist das Palasthotel ein Absteigequartier?") kam es zu einem Prozeß, in den auch die Rhein-Main-Druck AG als Drucker verwickelt wurde. Sie war froh, als sie den Druckauftrag los war. (93)

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