Sehn-Sucht: 26 Essays zur Dialektik von Nostalgie und Utopie

Vorwort


Die "Fragments"

Wie der erfolglose Dichter Macpherson zum Fälschen verleitet und auf Expeditionsreise in die Highlands geschickt wurde

Die Rudimente schottischer Legenden, die Macpherson hier und da tatsächlich verwendet hat, spielten beim Erfolg seiner angeblichen Barden-Gesänge die geringste Rolle. Viel wichtiger waren die sozialen, politischen und ideologischen Konstellationen seiner Zeit, die aus einem ehrgeizigen jungen Dichter, dessen Verse so gut wie unbeachtet blieben, den größten und erfolgreichsten Fälscher der Literaturgeschichte machten.

Macpherson war der Sohn eines Kleinpächters aus den schottischen Highlands und entstammte dem Clan der Macphersons. Im Alter von neun Jahren war er Zeuge des letzten Aufstands der Schotten gegen die englische Krone geworden. Die schottischen Clans hatten sich bis dahin in den öden, unzugänglichen Highlands weitgehend behaupten können. Aufgrund ihrer archaischen Stammesverfassung und katholischen Religion waren sie geborene Anhänger der Stuarts, während in den schottischen "Lowlands" schon damals die englische Wirtschafts- und Geistesverfassung dominierte. So fiel es 1745 dem Stuart-Prinzen Charles Edward nicht schwer, die Mehrzahl der Clans zum Marsch nach Süden zu entflammen, um den Stuarts den englischen Thron und sich selbst die nationale Eigenständigkeit zurückzuholen. Die Highlander gelangten bis nach Derby, nur 130 Meilen von London entfernt, wurden dann aber von englischen Truppen zurückgedrängt und in der Schlacht von Culloden (1746) erbarmungslos niedergemetzelt. Mit brutaler Härte zerschlugen die Engländer auch die alten Clan-Strukturen, verboten das Tragen von Waffen, der Highlander-Tracht und sogar des Dudelsacks.

So sah der zeitgeschichtliche Hintergrund aus, vor dem James Macpherson aufwuchs. Er strebte zunächst die Laufbahn eines presbyterianischen Geistlichen an, verließ dann aber die Universität Edinburgh, um Schulmeister in seiner Heimat zu werden. Dort verfaßte er im Alter von zwanzig Jahren seine ersten Gedichte. Sie hießen Der Tod, Der Jäger oder Der Highlander und bewegten sich im Rahmen des damals üblichen klassischen Stils. Dem neu erwachten Naturgefühl huldigte der Dichter, indem er der Landschaft, besonders der nächtlichen, breiten Raum gab. Hinzu spielen Kampfszenen eine große Rolle. So behandelt "Der Highlander", der 1758 als Gedicht in sechs Versen in Edinburgh erschien, die Invasion Schottlands durch die Dänen im 11. Jahrhundert. In den Jahren 1758 und 1759 druckte "The Scots Magazine" weitere Gedichte von ihm. Im großen und ganzen war Macperhson als Poet jedoch ziemlich erfolglos. Er blieb, wie der Ossian-Experte Paul van Tieghem schreibt, ein kleiner Dichter von äußerst schwacher Begabung, und außerhalb des engen Kreises einiger Schöngeister Aberdeens völlig unbekannt.

Das begann sich zu ändern, als Macpherson 1758 wieder nach Edinburgh zog, um dort eine Stelle als Erzieher bei der Familie Graham anzutreten. In den wirtschaftlich und geistig arrivierten Kreisen der schottischen Hauptstadt begegnete er der neuen Empfindsamkeit für das Natürliche und die Glorie vergangener Zeiten. Als Sohn der Highlands mußte er im Tiefland bereits leicht exotisch wirken. Mit Gälisch als Muttersprache empfahl er sich den nur englisch sprechenden Literaten Edinburghs als Auskunftsquelle über Bräuche und Legenden der Hochlande. Hinzu kam wohl, daß deren Empfindsamkeit calvinistisch geprägt war: Die sinnesfeindliche, puritanische Haltung der Tiefland-Schotten mochte sich nicht so leicht den Verlockungen der Phantasie hinzugeben. Sie verlangte nach einer ähnlich soliden Grundlage wie der Bibel, auf die John Knox seine Reformation und das schottische Erziehungssystem gegründet hatte. Das feste Vertrauen in den Wortlaut der Heiligen Schrift war inzwischen unter dem Einfluß der Aufklärung abhanden gekommen. Um so näher lag es, in der eigenen geschichtlichen Vergangenheit nach Texten zu suchen, an denen sich die neue Empfindsamkeit und das schottische Nationalbewußtsein aufrichten konnte.

Den vorläufig wichtigsten Anstoß erhielt Macpherson im Herbst 1759, als er sich mit der Familie Graham in der Stadt Moffat aufhielt und dort dem Dichter John Home begegnete. Der arrivierte Literat befragte ihn über die Sitten und Nationalpoesie der Hochländer. Es muß für Macpherson sehr schmeichelhaft gewesen sein, vom "schottischen Shakespeare" derartige Aufmerksamkeit gewidmet zu bekommen. Jedenfalls gab er vor, über einige Verse der schottischen Nationalpoesie im gälischen Urtext zu verfügen. Da Home kein Gälisch konnte, mußte ihm Macpherson diese angeblichen Texte ins Englische übersetzen. Er tat dies anscheinend nur sehr widerstrebend. Home blieb jedoch hartnäckig und drängte auf die Übersetzung weiterer Texte. Macpherson zog sich darauf zurück und brachte nach zwei oder drei Tagen tatsächlich weitere Verse herbei. Das Hauptstück hieß Oskars Tod und besang einen keltischen Helden aus dem irisch-schottischen Sagenkreis, in dessen Mittelpunkt die legendäre Gestalt des kriegerischen Finn oder Fingal steht.

Home war von Macphersons "Übersetzungen" fasziniert. Nicht anders erging es seinen gebildeten Freunden, denen er die Verse nach der Rückkehr in Edingburgh zeigte. Vor allem fesselten sie den Dr. Hugh Blair, einen Prediger und Professor für Rhetorik und Literatur, der als der Literaturpapst des Nordens galt. Nun war es dieser Blair, der Macpherson zu weiteren Übersetzungen drängte. Macpherson sträubte sich zuerst wieder gegen das Ansinnen. Schließlich war es eine sehr anstrengende Tätigkeit, aus den nur grob strukturierten Legenden, die ihm und vielen anderen aus der mündlichen Überlieferung bekannt waren, kunstvolle Verse zu schmieden. Hinzu kam, daß dabei für ihn als bloßen "Übersetzer" kein sonderlicher Ruhm abfiel. Da er aber die anfängliche Schwindelei nicht eingestehen wollte, mußte er wohl oder übel auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen, um sich die Geneigtheit der Edinburgher Gesellschaft zu erhalten.

Macpherson machte sich also erneut an die Arbeit und lieferte weitere "Übersetzungen" aus dem Gälischen, bis ein Bändchen mit Fragments of Ancient Poetry zustande kam, das im Juni 1760 in Edinburgh veröffentlicht wurde. Der Untertitel - collected in the Highlands of Scotland and translated from the galic or erse language - wies die angeblich in den schottischen Highlands gesammelten Gedichtfragmente als Übersetzungen aus dem Gälischen bzw. "Ersischen" aus.

Die spätere Prüfung hat ergeben, daß von den 16 Stücken dieser "Fragments" nur zwei auf tatsächlich überlieferten Balladen beruhten. Die übrigen waren mehr oder weniger frei erfunden. Auf Anraten seiner Gönner goß Macpherson die "Übersetzungen" nicht in Reime, sondern in eine rhythmische Prosa. Diese stilistische Innovation dürfte einer der Gründe gewesen sein, weshalb die "Fragments" solchen Erfolg hatten. Sogar Horace Walpole, die anerkannte Autorität in Sachen Altertum, zeigte sich zunächst von der Echtheit der Texte überzeugt. Er verglich die "Fragments" mit der Dichtung Homers, und auch sein Freund Thomas Gray pries sie als Verse von unendlicher Schönheit.

Die entscheidende Rolle für die begeisterte Aufnahme der "Fragments" spielte aber sicher ihre behauptete Authentizität, die durch ein gelehrtes Vorwort des Dr. Blair noch unterstrichen wurde: Die Übersetzung ist extrem wortgetreu, versicherte er, sogar die Wortstellung des Originals ist nachgeahmt worden.

Blair äußerte in seinem Vorwort die Vermutung, daß die hier veröffentlichten Fragmente nur Teil eines größeren Fingal-Epos oder gar zweier Epen seien. Wenn es gelinge, die übrigen Teile ausfindig zu machen, könne damit sicherlich ein wertvoller Beitrag zur Erhellung der schottisch-irischen Frühgeschichte geleistet werden.

Damit, wie auch schon in dem Titel "Fragments", war die Fortführung der Fälschung bereits angekündigt. Blair war offenbar überzeugt, mit Hilfe Macphersons ein schottisches Nationalepos ausfindig machen zu können, vergleichbar dem Nibelungenlied, das soeben neu entdeckt worden war, oder der noch älteren Edda. Da dabei der Wunsch der Vater des Gedankens war, spielte die Echtheit nur eine untergeordnete Rolle. Jedenfalls scheint es Blair und die anderen Gönner nicht irritiert zu haben, daß Macpherson kein einziges seiner angeblichen Original vorgelegt hatte.

Macpherson wollte sich dem Ansinnen, nach weiteren Teilen des Epos zu forschen, auch jetzt wieder entziehen. Immerhin gab es schon erste kritische Stimmen, die an der Echtheit der "Fragments" zweifelten. Hinter dem Rücken Blairs soll sich Macpherson sogar selbst über dessen romantic ideas lustig gemacht haben. Zwei Monate lang widerstand er dem Drängen seines Mentors. Vergeblich redeten ihm auch andere zu. Schließlich setzte ihn Blair massiv unter Druck: Er veranstaltete ein Festessen, zu dem er die ganze literarische Gesellschaft Edinburghs einschließlich Macphersons einlud. Unter massivem Drängen und Zureden von allen Seiten erklärte sich Macpherson schließlich bereit, eine Expedition in die Highlands zu unternehmen, um dort nach weiteren Fragmenten zu suchen. Um die Kosten der Expedition zu decken, hatte die noble Gesellschaft Edinburghs bereits eine Suskription veranstaltet, die hundert Pfund erbrachte.

Am 1. September 1760 brach Macpherson auf. Er durchstreifte auch tatsächlich den Nordwesten und Westen der Highlands. Er befragte Personen, von denen es hieß, daß sie alte Handschriften besäßen oder mündliche Überlieferungen kennen würden. Das, was er suchte, war aber offenbar nicht dabei. Nach einem Aufenthalt in seinem Heimatdorf in den Highlands unternahm er noch eine zweite Rundreise, die kein besseres Ergebnis erbrachte, und kehrte Anfang 1761 nach Edinburgh zurück.

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