PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Ernst U. von Weizsäcker (Hg.)

Umweltstandort Deutschland - Argumente gegen die ökologische Phantasielosigkeit

Basel/Berlin 1994: Birkhäuser Verlag, 344 S., mit 43 Strichabbildungen, DM 19.80


"Seid realistisch, fordert das Unmögliche!" So lautete einmal eine Sponti-Parole. Einen Nachhall davon glaubt man in dem vorliegenden Buch zu spüren. Es ist einesteils so nüchtern und so pragmatisch, wie man es von einem Institut erwarten darf, das sich der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Klima, Umwelt und Energie verschrieben hat. Pures Wunschdenken wird man ihm folglich nicht vorwerfen können. Andererseits sind die Mitarbeiter des Wuppertal-Instituts weit entfernt davon, sich der vermeintlichen Logik von "Sachzwängen" fügen zu wollen und die Zukunft als simple Hochrechnung aus Daten der Gegenwart zu begreifen. Die Devise "weiter so!" ist für sie nicht zukunftsweisend, sondern führt in den Abgrund.

Das Buch umfaßt Beiträge von insgesamt zwanzig Mitarbeitern des Instituts. Zunächst geht es um die Themen Arbeit und Umwelt, ökologische Steuerreform und Verkehr. Die zweite Hälfte befaßt sich mit Least-Cost-Planning, Contracting, erneuerbaren Energien, globalen Energietrends und Rohstoffen. Die Beiträge sind von einem routinierten Schreiber so überarbeitet worden, daß ein lesbarer, ansprechender Text entstand und das Buch wie aus einem Guß wirkt. Dies verdient lobende Erwähnung, weil oft allzu schnell irgendwelche Referate zwischen zwei Buchdeckel gepreßt werden, die schon rein sprachlich eine Zumutung für den Leser bedeuten.

"Standortqualität bemißt sich nicht nur nach Betriebskosten"

Wie schon der Titel vermuten läßt, halten Ulrich von Weizsäcker und seine Mitstreiter nicht viel von der Klage, daß der Umweltschutz die Betriebskosten erhöhe und dadurch den Standort Deutschland gefährde. Sie verweisen darauf, daß sich die besondere Qualität des Standortes Deutschland nicht aus möglichst niedrigen Betriebskosten ergebe, sondern aus verhältnismäßig stabilen Sozialbeziehungen, aus der Qualifikation der Arbeitskräfte und aus hochwertiger Infrastruktur. Solche Vorteile seien aber nicht umsonst zu haben. Standortpolitik dürfe deshalb nicht bedeuten, in hochmobile Produktionsfaktoren zu investieren, die genauso Taiwan oder die Tschechei bieten können. Notwendig sei vielmehr die Investition in die wenig oder nicht mobilen Produktionsfaktoren, zu denen - als Teil der Infrastruktur - auch der Zustand der Umwelt gehöre.

Das wird man bei den Unternehmerverbänden vielleicht ein bißchen anders sehen. Aber auch die Gewerkschaften bekommen eine Kröte zu schlucken: Die Autoren plädieren für die Entstehung eines "zweiten Arbeitsmarktes" mit deutlich geringerer Bezahlung. Nur so lasse sich Hunderttausenden und demnächst Millionen Menschen noch die Chance bieten, in eine reguläre Beschäftigung hineinzukommen. Freilich müsse Vorsorge getroffen werden, daß dieser zweite Arbeitsmarkt nicht auf den Hochlohn-Bereich durchschlage. (Leider verraten sie nicht, wie das wohl zu bewerkstelligen wäre.)

Ebenso - das darf die Arbeitgeber wiederum freuen - haben die Autoren nichts gegen eine Privatisierung von staatlichen Bereichen einzuwenden, um die öffentlichen Haushalte zu entlasten - bis hin zum privaten Straßenbau mit "ökologisch angemessenen Straßenbenutzungsgebühren". Allerdings dürfe man nicht generell davon ausgehen, daß Private besser wirtschaften könnten als die öffentliche Hand: "Eine Vielzahl von Stadtwerken arbeitet sehr wirtschaftlich und ist, wenn es um rationelle Energienutzung geht, engagierter als viele Energieversorgungsunternehmen."

Für eine ökologische Steuerreform

Die Bejahung der Marktwirtschaft bei gleichzeitiger Absage an den ökonomischen Wettbewerb als Allheilmittel durchzieht wie ein grün-roter Faden das Buch. Mit den Lehren Friedrich Hayeks haben die Autoren nichts im Sinn. Eine ihrer Grundthesen lautet vielmehr: "Volkswirtschaftliches und betriebswirtschaftliches Wohl klaffen weit auseinander." Vor allem im Bereich der Energie seien die Preise weit entfernt davon, die "ökologische Wahrheit" zu sagen.

Die ökologische Wahrheit besteht für die Autoren darin, die Energie zu verteuern. Und zwar über eine ökologische Steuerreform, die umweltschädliche Energiequellen ebenso belastet wie umweltfreundliche Energiequellen begünstigt. Damit soll erreicht werden, daß die Stromerzeugung aus Sonnenlicht, Wind oder Biomasse zur Regel wird und sich nicht nur in Ausnahmefällen lohnt, wie dies bisher der Fall ist. Die Verteuerung wäre insgesamt enorm, doch soll sie in kleinen, kalkulierbaren Schritten vorgenommen werden, so daß Wirtschaft und Verbraucher sich sukzessive darauf einstellen können. Außerdem soll die ökologische Steuerreform "aufkommensneutral" sein, d.h. die Einnahmen aus der Verteuerung der Energie würden zur Entlastung der Verbraucher an anderer Stelle verwendet.

Für Ausbau der erneuerbaren Energien

Ihre Zauberformel für die Energieversorgung der Zukunft lautet "Sonne - Effizienz - Suffizienz". Die Sonne steht dabei für die regenerativen Energien, die Effizienz für rationelle Energienutzung und die Suffizienz für einen genügsamen Umgang mit Energie. Die Energieversorgung soll dezentral und regional orientiert werden, um die Möglichkeiten der Sonnenenergie und der Effizienzsteigerung ausschöpfen zu können. Konventionelle Kraftwerke sollen nur noch soweit eingesetzt werden, als die regenerativen Energien nicht ausreichen. Die geringe Leistungsdichte und die extrem schwankende Stromproduktion von Wind- und Solargeneratoren werden nicht als grundsätzliches Hindernis gesehen. Bei einer "flexibleren" Gestaltung des Versorgungsnetzes könne durchaus "ein wesentlich höherer Anteil aus intermitttierenden Quellen eingespeist werden".

Große Hoffnungen setzen die Autoren auf eine erhöhte "Energieproduktivität". Gemeint sind damit technologischer Fortschritte, die mit wesentlich geringerem Energieaufwand dieselbe Energiedienstleistung ermöglichen. Als Paradigma dient ihnen die heutige Arbeitsproduktivität: Diese sei auch nicht durch bloße Effizienzsteigerung erreicht worden, indem z.B. die Arbeit eines Schusters effizienter gemacht wurde, sondern durch grundlegend neue Verfahrensweisen der industriellen Produktion. Anscheinend gründet sich auf solche möglichen Fortschritte auch ein gut Teil ihres Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der erneuerbaren Energien.

Absage an Deregulierung der Stromwirtschaft

Sehr positiv äußern sich die Autoren zu Least-Cost-Planning, zu Contracting und zu der Idee, Energiedienstleistungen anstelle von Energie zu verkaufen. Freilich ist ihr LCP-Verständnis stark regulativ geprägt. Deshalb wenden sie sich entschieden gegen eine Deregulierung des Energiemarktes: Unter den gegenwärtigen Randbedingungen werde mehr Konkurrenz im Stromsektor "mit großer Wahrscheinlichkeit die ökologischen Folgen der Energieproduktion, der Energieverteilung und des Energieverbrauchs noch verschlimmern". Außerdem hätten dann erneuerbare Energiequellen wie Sonne, Wind und Biogas kaum noch eine Chance.

Zwei besondere Kapitel sind dem Verkehr gewidmet. Auch hier würden nicht die "wahren Kosten" zugrundegelegt, die durch Umweltverpestung, Waldsterben, Verschleuderung von Ressourcen, Verkehrsunfälle, Lärmbelästigung oder städtebauliche Verödung entstünden. So wird die "ökologische Absurdität" der niedrigen Transportkosten am Beispiel eines Joghurt-Bechers vorgerechnet, bei dem Zutaten und Verpackungsmaterial durch halb Europa gekarrt werden. Zusammen mit anderen Maßnahmen wird eine Verteuerung der Benzinkosten empfohlen, um die notwendige Reduzierung und Verlagerung der Verkehrsströme zu erreichen: Notwendig sei die klare Bevorzugung des öffentlichen Nahverkehrs gegenüber dem Individualverkehr.

Einkommen und Erwerbsarbeit sollen entkoppelt werden

Aber nicht nur im Bereich der Energie läuft nach Ansicht der Autoren einiges schief. Es knistere allenthalben im Gebälk der freien Marktwirtschaft. So würden immer mehr Arbeitslose erzeugt - nicht trotz, sondern gerade wegen einer hohen Arbeitsproduktivität, die im wesentlichen noch immer auf Kosten der Umwelt voranschreite. Wenn es aber nicht mehr genügend Erwerbsarbeit für alle gebe, müsse man sich überlegen, wie die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums vernünftiger organisiert werden kann. Die Mitarbeiter des Wuppertal-Instituts plädieren deshalb dafür, die soziale Sicherung schrittweise von der Möglichkeit zur Erwerbsarbeit abzukoppeln. Ein "Bürgergeld" für jedermann soll das Existenzminimum auch dann garantieren, wenn das Einkommen aus Erwerbsarbeit auf null absinkt.

"Herkömmliche Denkweise versperrt die Sicht aufs Ganze"

Höchst aufschlußreich ist der "Epilog" am Schluß des Buches. Er enthält gewissermaßen das Credo, von dem sich die Autoren bei ihrer Sicht der Dinge leiten lassen. Sie beklagen hier den "reduktionistischen Wissenschaftsstil", bei dem die Komplexität der Welt in lauter Detailstudien zerfalle. Die unbestreitbaren Vorteile des in der Renaissance (von Descartes, Bacon u.a.) begründeten Wissenschaftsverständnisses kämen inzwischen immer weniger zum Tragen. Die Menschheit erfahre nur immer mehr über Details, verliere aber den Blick und das Verständnis für die großen Zusammenhänge. Dabei wisse heute doch jeder, daß viele Phänomene von Natur aus "chaotisch und nicht vorhersehbar sind".

Damit hänge es wiederum zusammen, daß das Handeln der Regierenden richtungslos geworden sei, daß die Legitimität von Regierungen und öffentlichen Einrichtungen schwinde, daß die Gesellschaft insgesamt "ihren Weg verloren" habe und daß viele Menschen inmitten des materiellen Überflüsses unzufrieden seien und sich ängstigten. Düster prophezeien die Autoren Folgen, "die den noch anhaltenden Umbrüchen in der früheren sozialistischen Welt ähnlich sein werden".

Die Umweltdiskussion als Bestandteil eines langfristigen Paradigmawechsels

Die Töne, die in diesem Epilog angeschlagen werden, sind nicht neu: Ähnlich klingt es, wenn Günter Altner über die kartesianische "Naturvergessenheit" räsoniert (vgl. PB 11/92), wenn sich Hans-Peter Dürr über die erkenntnistheoretischen Löcher im "Netz des Physikers" ausläßt (vgl. PB 3/92) oder wenn Robert Kurz den "Kollaps der Modernisierung" prophezeit (vgl. PB 9/94). Es scheint, als bahne sich hier ein neuer Idealismus an, der an den Positivismus-Streit der sechziger Jahre anknüpft, aber mit eher naturwissenschaftlichen Argumenten operiert.

Seinerzeit waren es Geisteswissenschaftler, die den Vorwurf des "Szientismus" und "Fachidiotentums" gegenüber dem Neopositivismus mit seiner naturwissenschaftlich geprägten Denkweise erhoben. Auf der einen Seite standen Adorno und Habermas mit ihrer "kritischen Theorie", auf der anderen Popper und Albert mit ihrem "kritischen Rationalismus". Als dann in der APO-Zeit die Vorlesungen und Seminare vom Kampfgeschrei gegen die "bürgerliche Wissenschaft" widerhallten, wurden die Anhänger Sir Poppers als "Taschenträger des Kapitals" oder zumindest als "Fliegenbeinzähler" geschmäht. Intellektuell bedeutete dieser Neo-Marxismus allerdings keine sonderliche Herausforderung. Er enthielt soviel Romantizismus und heiße Luft, daß die Angefeindeten ihn sogar als Bestätigung empfinden konnten.

Inzwischen ist alles ein bißchen anders geworden. Die Fronten sind zwar noch da, aber irgendwie seltsam verkehrt: Heute sind es Naturwissenschaftler, welche die schärfste Kritik an der Komplexitäts-Blindheit und Geistlosigkeit des etablierten Wissenschaftsbetriebs üben (vgl. PB 3/92). Ihre Sprache ist nicht der kritischen Theorie entlehnt, sondern klingt nüchtern und pragmatisch. Sie argumentieren nicht mit Dialektik, sondern mit Chaos-Theorie (vgl. PB 8/92). Sie ergehen sich nicht in sozialistischen Wunschvorstellungen, sondern in Prognosen und Szenarios. Sie begreifen die Gesellschaft nicht als Klassenkampf-Veranstaltung, sondern als kybernetischen Regelkreis mit gestörtem Steuerungsmechanismus (vgl. PB 8/93). Sie verstehen sich selbst auch gar nicht als Systemveränderer, sondern sehen - wie die Autoren dieses Buches - die "marktwirtschaftliche Ordnung" und die "liberale Gesellschaft" in Gefahr. Und diese Besorgnis ist nicht etwa bloß vorgeschützt, sondern darf ihnen ruhig abgenommen werden.

Das vorliegende Buch zeigt insofern ein weiteres Mal, daß sich die derzeitige Diskussion um Energie- und Umweltfragen gar nicht innerhalb des sachlichen Rahmens verstehen läßt, um den es vordergründig zu gehen scheint. Sie ist vielmehr die Spitze eines Eisbergs und hat teilweise Stellvertreter-Funktion: als Bestandteil einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um den einzuschlagenden Kurs und eines langfristigen geistigen Paradigmawechsels.

(PB November 1994/*leu)