PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Bruno Fritsch

Mensch - Umwelt - Innovationen / Wirtschaft und Ökologie im Widerstreit?

München 1994: Olzog Verlag, 183 S., DM 19.80


Das östliche System ist zusammengebrochen und seine Ideologie diskreditiert. Aber dennoch will im ehemaligen westlichen Lager kein rechter Triumph aufkommen: Jetzt, wo der jahrzehntelange Gegner weg ist, merkt man erst, was man an ihm gehabt hat. Der plötzliche Exitus des Widerparts hat im überlebenden Westen eine Art Identitätskrise ausgelöst. Geistige Defizite treten hervor, die schon lange bestanden, aber durch den Ost-West-Gegensatz kaschiert wurden.

Nach Ansicht von Bruno Fritsch hat sich seit 1989 die Welt tiefgreifender verändert als in allen Jahren seit dem Beginn des Kalten Krieges. "Die neunziger Jahre dürften als ein Jahrzehnt besonders heftiger Turbulenzen und Umbrüche sowie weitreichender Entscheidungen in die Geschichte eingehen", meint er in dem vorliegenden Buch, "als ein Jahrzehnt, in welchem sich die den neuen Realitäten angemessenen Denk-, Wirtschafts- und Staatsstrukturen herausgebildet haben."

Der emeritierte Professor für Nationalökonomie der ETH Zürich will einige der drängendsten Herausforderungen und den grundsätzlichen Ansatz zu ihrer Lösung skizzieren. Die wichtigsten Stichworte sind Bevölkerungswachstum und Altersaufbau, Energie, Verstädterung, Rohstoffe und Umwelt, Wertewandel, zunehmendes Umweltbewußtsein und Technikfolgenabschätzung.

Kluft zwischen Wissenschaft und Ideologie

Fritsch ist der Ansicht, daß alle auftauchenden Probleme im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gelöst werden können. Leider lasse sich aber eine "durch mediengestützte Untergangsphilosophen verängstigte Öffentlichkeit" in die Irre führen. Freiheitsbedrohende Ideologien seien künftig zwar kaum mehr in der primitiven Form stalinistischer Systeme zu erwarten, dafür aber "in Gestalt von antiwissenschaftlichen, antirationalen, mythologischen und parareligiösen Weltverbesserungsdoktrinen". Das Auseinanderfallen von Handlungsbedarf und Wissenszunahme bzw. von "empirischer und gesellschaftlicher Evidenz" bewirke die Gefahr einer "Ideologisierung" und eine Tendenz zur Bevorzugung "gordischer Lösungen".

Fritsch sieht eine große Kluft zwischen den wissenschaftlich dingfest zu machenden Gegebenheiten und ihrer "gesellschaftlichen Perzeption" durch Individuen, Medien und Öffentlichkeit. Beide Sichtweisen vollzögen sich beim modernen Menschen "in voneinander isolierten, monadenähnlichen Formierungen". So entstehe gar eine "Zweiteilung in einen sensual-autistischen und einen kognitiv-autistischen Erfahrungsbereich". Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Ideologie führe dann irgendwann entweder zur "Anpassung der Resultate ideologischer Wahrnehmung an die empirischen Evidenzen" oder zur Unterwerfung der Wissenschaft unter die Ideologie. Als Beispiel verweist er auf jenen Kotau, den seinerzeit die sowjetischen Wissenschaftler auf Stalins Geheiß vor der pseudo-wissenschaftlichen Evolutionstheorie Lyssenkos vollziehen mußten.

Unerschöpfliche Ressourcen durch die Verbindung von "Energie und Wissen"

Ideologisch verzerrt ist nach Ansicht von Fritsch auch die heutige pessimistische Sichtweise auf Umweltprobleme und drohende Erschöpfung von Ressourcen. Sie lasse außer Acht, daß die Menschheit über faktisch unerschöpfliche Ressourcen in Form von "Energie und Wissen" verfügt. Zum Beispiel werde die Knappheit des Rohstoffs Kupfer heute schon durch die zunehmende Verwendung von Glasfasern als Leitungen relativiert. Auf dem Energiesektor zeichneten sich umweltfreundliche und praktisch unerschöpfliche Ressourcen durch Photovoltaik, Kernfusion und geothermische Kraftwerke in Verbindung mit der Wasserstoff-Technologie ab. Bis zur großtechnischen Erschließung solcher Energiequellen werde freilich noch einige Zeit vergehen, und bis dahin dürfe keinesfalls auf die Nutzung der Kernenergie verzichtet werden. "Sie hat die größte Energiedichte und ist trotz aller Einwände, die man immer wieder gegen sie erhebt, die sicherste und umweltfreundlichste Energiequelle."

Generell sei bei der Lösung der anstehenden Probleme der vermehrte Einsatz von elektrischer Energie von ganz entscheidender Bedeutung. Schon Lenin habe die "strukturverändernde und damit gesellschaftsformende Wirkung" der Elektrifizierung sehr richtig erkannt. In Abwandlung von dessen Parole "Sowjetmacht und Elektrizität = Kommunismus" könne man heute sagen: "Demokratie und Elektrizität = humane Gesellschaft".

Diese humane Gesellschaft stelle sich freilich nicht automatisch ein. Zu Beginn seines Buches widerspricht Fritsch deshalb der These des US-Autors Fukuyama, daß mit dem Ende des Ost-West-Konflikts das "Ende der Geschichte" erreicht sei und fortan dem weltweiten Siegeszug des liberalen Gesellschaftsmodells nichts mehr im Wege stehe. Er hält dies für eine sehr fragwürdige These, die beispielsweise durch den Vormarsch des religiösen Fanatismus in den islamischen Ländern ebenso widerlegt wird wie vom andauernden Elend der Dritten Welt oder vom Chaos der realsozialistischen Trümmerlandschaft. Fritsch glaubt in Fukuyama einen Hegelianer erkennen zu können, der - ähnlich wie seinerzeit Marx, wenn auch mit anderen Vorzeichen - die "Phänomenologie des Geistes" in eine Geschichtsphilosophie transformiere und so zu chiliastischen Vorstellungen gelange.

Kant und Jefferson versus Hegel und Marx

Grundsätzlich versteht sich Fritsch als Anhänger des Neopositivismus. Es gibt für ihn "eine Komplementarität zwischen der Offenheit des Erkenntnisprozesses und der Offenheit der gesellschaftlichen Strukturen". In den Denksystemen der jüngeren Geistesgeschichte ausgedrückt bedeutete dies, daß "nicht Hegel, sondern Kant, nicht Marx, sondern Jefferson, nicht das Kommunistische Manifest, sondern die Grundprinzipien der amerikanischen Verfassung, nicht die Ayatollahs, sondern Karl Popper" die zukunftsträchtigen Bewußtseinsinhalte repräsentierten.

Ein recht streitbares Buch also, das einen ungebrochenen Optimismus bezüglich der wirtschaftlichen und technologischen Entfaltungsmöglichkeiten der hochindustrialisierten Gesellschaften vertritt, zugleich aber überall Fallstricke in Form von Ideologien und rückständigem Bewußtsein sieht. Fritsch wandelt sichtlich auf den Spuren von Poppers Klassiker "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde". Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems sieht er diese Feinde eher im Innern der demokratischen Gesellschaft, in Gestalt neuer Irrationalismen und Ideologien, welche den richtigen, von der Vernunft gebotenen Lösungsweg blockieren.

Verschiedene Punkte richtig erkannt

Das Buch verweist zu Recht auf die Fragwürdigkeit einfacher Hochrechnungen von der Gegenwart in die Zukunft. Der Begriff des Wachstums wird üblicherweise nur im quantitativen Sinne aufgefaßt. Er besitzt aber auch eine qualitative Seite, die sich auf die erwähnte Formel "Energie und Wissen" bringen läßt. Von dieser Art Wachstum, das die Umwelt nicht bedroht, sondern erhalten hilft, wird die Menschheit nicht genug haben können. Es klingt auch plausibel, daß sich diese höhere Qualität des Wachstums in einer noch ausgedehnteren Anwendung der Elektrizität in allen Bereichen der Wirtschaft und des alltäglichen Lebens äußern wird.

Ebenso warnt Fritsch zu Recht vor der blauäugigen Erwartung, daß nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes die wesentlichen Hindernisse für eine weltweite Ausbreitung des liberal-demokratischen Gesellschaftsmodells beseitigt seien. Man kann ihm nur beipflichten, wenn er eine intelligentere Auseinandersetzung mit den anstehenden Problemen fordert.

Fragwürdige Gegenüberstellung

Aber gerade in diesem Punkt einer intellektuell anspruchsvollen Auseinandersetzung hapert es dann doch etwas. Ziemlich platt erscheint zum Beispiel die Gegenüberstellung von Kant und Hegel, wobei der eine Poppers offene Gesellschaft und der andere eher den Totalitarismus antizipiert. Eine solche Sichtweise verkennt, daß uns durchaus beide Philosophen noch etwas zu sagen haben und aus heutiger Sicht sogar eher Gemeinsamkeiten als Gegensätze aufweisen. So habe beide die erkenntnistheoretisch bedeutsame Unterscheidung zwischen transzendentaler "Vernunft" und empirischem "Verstand" getroffen, und Hegels Dialektik ist im Grunde nichts anderes als die Fortführung von Kants "Antinomie der reinen Vernunft" in einer dynamisierten Form. Vor allem scheint Fritsch zu übersehen, daß - wie Hegel erkannt hat - Widersprüche und Gegensätze nun mal die Voraussetzung jeder Entwicklung sind. Es waren ja wohl nicht bloß Irr- und Umwege, wenn die Geistesgeschichte, anstatt schnurstracks von Kant zu Sir Popper zu führen, ganz nebenbei auch noch die romantische Naturphilosophie, Hegels Dialektik, den Marxismus, die Werke von Schopenhauer, Nietzsche, Sartre und vieles andere mehr hervorgebracht hat. Der Versuch, die einen als Wegbereiter der offenen Gesellschaft und die anderen als Herolde des Totalitarismus sehen zu wollen, gemahnt ein bißchen an das Schubladendenken des "Marxismus-Leninismus", der die ganze Geistesgeschichte unerbittlich nach "Idealismus" und "Materialismus" selektiert hat.

Was heißt schon "empirische Evidenz"?

Ähnlich platt mutet es an, wenn Fritsch dem ideologisch verbohrten Bewußtsein, das die "gesellschaftliche Perzeption" bestimme, die "empirische Evidenz" der Wissenschaft gegenüberstellt. Ganz so einfach ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ideologie nun doch nicht. Fritsch liefert dazu selbst die passenden Stichworte, wenn er wiederholt Kopernikus, Darwin und Freud als markante Beispiele für die Veränderung unseres Denkens durch Wissenschaft und Technik preist. - Auch für Kopernikus schien noch völlig evident zu sein, daß sich die Erde in einer exakten Kreisbahn um die Sonne drehen müsse. Aus Darwins Evolutionslehre schien für viele Wissenschaftler evident hervorzugehen, daß das Zusammenleben der Menschen und Völker von einem gnadenlosen "Kampf ums Dasein" bestimmt sein müsse. Und was Freud betrifft, so können dessen Theorien insgesamt eher der Ideologie als der Wissenschaft zugerechnet werden. Zumindest, wenn man sich an die Kriterien des neopositivistischen Wissenschaftsverständnisses hält, auf das sich gerade Fritsch beruft.

Neopositivismus und Wissenschaftsglaube

Daß der Autor der verbreiteten Ablehnung von Wissenschaft und Technik die Leviten lesen möchte, ist sicher löblich. Die militante Art, in der er sich mit den "antiwissenschaftlichen Weltverbesserungsdoktrinen" auseinandersetzt, hat aber selber etwas Doktrinäres an sich. Es wirkt wie eine Neuauflage des alten Wissenschaftsglaubens, wenn er von der notwendigen "Anpassung der Resultate ideologischer Wahrnehmung an die empirischen Evidenzen" spricht. Wenn man die Semantik seiner komplizierten Ausdrucksweise aufdröselt, kann das eigentlich nur heißen: Die Leute sind ein bißchen dumm und vermögen nicht die Sachzwänge zu erkennen, die sich aus einer streng wissenschaftlichen Betrachtungsweise der Dinge ergeben.

Das Pochen auf die Autorität der Wissenschaft ist aber genau das, was heute kaum noch einer hören will. Man wird dieser Haltung kaum durch eine Art Gegenreformation beikommen können, die den früheren Glauben an eine zuverlässige Wegweisung durch Wissenschaft und Technik wiederherstellen möchte. Dies gilt übrigens nicht nur für das vorliegende Buch, sondern für eine ganze Reihe von Schriften, die zwar formal der Wissenschaftstheorie des Neopositivismus Tribut zollen, de facto aber doch einen ziemlich unreflektierten Wissenschaftsglauben vertreten.

Der Neopositivismus sieht sich zu Recht in der Nachfolge Kants, soweit er auf den empirischen Verstand bzw. die "praktische Vernunft" baut und im übrigen, d.h. erkenntnistheoretisch, jenen Agnostizismus vertritt, der sich bei Kant aus der "Antinomie der reinen Vernunft" ergibt. Wer jedoch die Wissenschaft verabsolutiert und sogar hochkomplexe Zukunftsfragen ganz "ideologiefrei" beantwortet sehen möchte - diesen Eindruck erweckt Fritsch wiederholt -, fällt vom Agnostizismus in den Rationalismus der frühen Aufklärung zurück, gegen den sich seinerzeit der Hauptstoß von Kants "Kritik der reinen Vernunft" gerichtet hat.

Man möchte dem Autor deshalb jene Stelle in der "Kritik der reinen Vernunft" empfehlen, wo Kant vor einem bloßen "Vernünfteln" warnt, bei dem der wissenschaftlich-rationale Verstand seine Grenzen verkennt und dogmatisch wird. Im Originaltext: "Wenn der Empirismus in Ansehung der Ideen (wie es mehrenteils geschieht) selbst dogmatisch wird und dasjenige dreist verneinet, was über der Sphäre der anschauenden Erkenntnisse ist, so fällt er selbst in den Fehler der Unbescheidenheit."

(PB Juni 1994/*leu)