PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Paul Davies

Die Urkraft - Auf der Suche nach einer einheitlichen Theorie der Natur

München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990, 327 S., DM 14.80


Paul Davies, Julian R. Brown (Hg.)

Superstrings - Eine allumfassende Theorie der Natur in der Diskussion

München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1992, 270 S., DM 14.80


Als die klassische Physik noch als unumstößlich galt, schienen die Welträtsel im wesentlichen gelöst zu sein. Die Erforschung der noch offenen Probleme durfte man getrost für eine Frage der Zeit halten. Auch die Theorie der elektromagnetischen Wellen, die Maxwell in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte, schien den ehrwürdigen Bau der Newtonschen Physik eher zu ergänzen als ins Wanken zu bringen.

Dann aber kamen, zu Anfang dieses Jahrhunderts, Plancks Quantentheorie und Einsteins Relativitätstheorie: Raum und Zeit, die bislang als unveränderliche Gegebenheiten galten, wurden als voneinander abhängige Dimensionen erkannt. Dem gesunden Menschenverstand wurde einiges zugemutet. Zum Beispiel das klassische Paradigma der speziellen Relativitätstheorie, wonach ein Mensch, der sich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, weniger altert als die zurückbleibenden Artgenossen. Sogar eine so "selbstverständliche" Tatsache wie die Erdanziehung erschien nunmehr im neuen Licht der allgemeinen Relativitätstheorie, wonach die Gravitation eine quasi geometrische Erscheinung des "gekrümmten Raums" bzw. des raumzeitlichen Zusammenhangs ist.

Seitdem ist die Physik nicht mehr zur Ruhe gekommen. Auch die schönen Atommodelle aus den Schulbüchern, in denen Protonen und Elektronen so anschaulich wie Billardkugeln die Struktur der Materie repräsentieren, sind inzwischen revisionsbedürftig geworden. Immer neue Teilchen wurden entdeckt, und sie tun uns keineswegs den Gefallen, so eindeutig wie Billardkugeln auszusehen oder sich auch nur auf präzisen Bahnen zu bewegen.

Was Wunder, daß sich auf die neue Physik große, zum Teil auch überspannte Hoffnungen richten. So glaubt der englische Physiker Paul Davies, daß sich auf der Basis der heutigen physikalischen Erkenntnise eine "Allumfassende Theorie der Natur" (AUT) entwickeln lasse. Die wesentlichsten Bausteine dafür glaubt er bereits beisammen zu haben, nämlich die Gravitation und die elektromagnetische Kraft sowie die starke und die schwache Kernkraft. Diese vier elementaren Naturkräfte wertet er als Ausdruck jener "Urkraft", die den Titel seines ersten Buches bildet und für die sozusagen nur noch der geeignete Begriff und die passende mathematische Formulierung gefunden werden müsse.

Schon in der revidierten deutschsprachigen Ausgabe seines ersten Buches erwähnt Davies in diesem Zusammenhang die "Theorie der Superfäden", die bereits in den sechziger Jahren aufkam, in den siebzigern weiterentwickelt wurde und in den achtzigern unter Physikern Furore machte, weil sie das "Anomalieproblem" zu erklären schien. Davies glaubt nun, in dieser Superfäden-Theorie jene "Allumfassende Theorie der Natur" gefunden zu haben, nach der er in seinem ersten Buch Ausschau hielt. Sein zweites Buch ist deshalb ganz den "Superstrings" gewidmet, die man sich modellartig als winzige, eindimensionale "Fäden" vorstellen muß, die in sich selbst zurücklaufen und Schleifen bilden. Die jeweiligen Schwingungszustände dieser Superfäden sollen die unterschiedlichsten Teilchen, aber auch Eigenschaften wie Masse und elektrische Ladung bewirken.

Nun versagt in diesen Bereichen ohnehin jede Anschaulichkeit. Ob die Theorie der "Superstrings" sinnvoll ist, wird sich allein danach bemessen, ob sie den Physikern bei Problemlösungen behilflich ist. Andernfalls wäre sie wohl eher der Versuch, Sinn- und Seinsfragen, die letzten Endes metaphysischer Natur sind, mit dem Instrumentarium der Wissenschaften behandeln und sogar definitiv beantworten zu wollen. Die "Superstrings" wären dann so etwas ähnliches wie die "Atome" Demokrits, die "Materie" der Enzyklopädisten, die "Substanz" bei Spinoza oder das "Absolute" bei Hegel. Auf religiösem Gebiet träten sie in Konkurrenz zum Prinzip "Gott".

Was war vor dem "Urknall"?

Davies ist sich bewußt, daß er mit seiner Suche nach einer "Allumfassenden Theorie" in Bereiche der Philosophie und Religion vorstößt. Spätestens bei der Frage, was vor dem "Urknall" war, weiß auch er keine physikalische Antwort mehr. Er äußert die Vermutung, daß jene Gesetze, die das Universum schufen, "selbst das Ergebnis eines genialen Entwurfs sein" könnten. Daraus folgere wiederum, daß das Universum "einen Zweck haben" müsse. - In der Quintessenz also eine teleologische Sichtweise.

Der eigentliche, sichere Gewinn bei der Lektüre der beiden vorliegenden Bücher ist die allgemeinverständliche Art, in der Davies die Fortschritte der modernen Physik zu schildern versteht. Er macht klar, daß unser naiver, am Makrokosmos gewonnener Begriff von "Realität" im Mikrokosmos der Kernphysik ad absurdum geführt wird. Überzeugend legt er dar, daß die neue Physik mit ihren Raum-und Zeitzerrungen, Spins und Quarks "das Ende des gesunden Menschenverstandes" bedeutet und sogar "ein starkes mystisches Element mit sich bringt". Auch die Superfäden-Theorie kann vor diesem Hintergrund nur ein Versuch sein, Vorgänge und Gesetzmäßigkeiten zu veranschaulichen, die sich von Natur aus jeder Anschauung entziehen. Sollte sie unzulässigerweise Bereiche des Transzendentalen mit solchen der Naturwissenschaften verwechseln, so macht sie doch immerhin deutlich, welche Herausforderung die moderne Physik für Philosophie und Religion bedeutet.

(PB 3/92/*leu)