PresseBLICK-Rezensionen Politik, Zeitgeschehen



Jochen Langkau, Hans Matthöfer, Michael Schneider (Hg.)

SPD und Gewerkschaften / Band 2: Ein notwendiges Bündnis

Bonn 1994: Verlag J. H. W. Dietz, 237 S., DM 22.80


Die SPD ist die älteste der deutschen Parteien und die einzige, die sämtliche Phasen der deutschen Geschichte seit der Reichsgründung begleitet hat. Inzwischen ist es 120 Jahre her, daß sich die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht geführten "Eisenacher" mit den Anhängern Lassalles vereinigten. Damit verselbständigte sich der "vierte Stand" der Arbeiterschaft vom bürgerlichen Liberalismus und betrat als eigenständige Kraft die politische Bühne. Die "soziale Frage" drängte in den Vordergrund und überlagerte den alten Gegensatz zwischen Liberalen und Konservativen.

Etwa genauso alt sind die deutschen Gewerkschaften, die den vierten Stand am Arbeitsplatz vertraten und von der Sozialdemokratie zunächst als ihr betrieblicher Arm angesehen wurden. Erst auf dem Mannheimer SPD-Parteitag von 1906 wurde die Gleichberechtigung von Gewerkschaften und Partei formell festgeschrieben. Noch heute sind - wie aus dem vorliegenden Buch hervorgeht - von den Mitgliedern der SPD-Bundestagsfraktion rund 95 Prozent gewerkschaftlich organisiert, und von den hauptamtlichen Vorstandsmitgliedern der DGB-Gewerkschaften besitzen rund 80 Prozent das Parteibuch der SPD.

Neue Konflikte überlagern den klassischen Gegensatz zwischen Kapitel und Arbeit

Inzwischen sind aber beide Organisationen in eine Krise geraten, die auch das beiderseitige Verhältnis, das schon immer konfliktträchtig war, neuen Belastungsproben aussetzt. Dies hat damit zu tun, daß der klassische soziale Gegensatz von Kapital und Arbeit an Bedeutung verliert. Besser gesagt: Er wird von anderen, neuen Interessenkonflikten überlagert. "Der soziale Wandel entzieht beiden - SPD und Gewerkschaften - den Kern ihrer sozialen Basis", stellt Michael Schneider in einem der lesenswertesten Beiträge des vorliegenden Sammelbandes fest. Auf der einen Seite bröckelt die traditionelle Basis der industriellen Facharbeiter unaufhaltsam, während auf der anderen Seite der Aufbruch in neue soziale Schichten nicht so recht gelingen will. Dies hat wiederum damit zu tun, daß es klar konturierte soziale Schichten kaum noch gibt. Der frühere hessische Wirtschaftsminister Ulrich Steger umschreibt das so: "Den schon ÔklassischenÕ Konflikt zwischen Kapital und Arbeit gibt es zwar immer noch, aber er wird in einer pluralistischen Gesellschaft relativiert von anderen Wahrnehmungen und Interessengegensätzen: Beitragszahler und Rentner, Beamte und Steuerzahler, Verbraucher und Produzenten, Randgruppen und Arbeitsplatzbesitzer, die Liste ließe sich beliebig fortsetzen."

"Die Modernisierungsverlierer wurden vergessen"

Für den Metallgewerkschafter Karlheinz Blessing, der von 1991 bis 1993 Bundesgeschäftsführer der SPD war, hat die Partei den "groben Fehler gemacht, die gesellschaftliche Entwicklung der achtziger Jahre nur eindimensional zu analysieren". Sie habe in einseitiger Weise den Anschluß an die sich neu herausbildenden sozialen Milieus und sozialen Bewegungen gesucht und darüber die alten sozialen Bewegungen vernachlässigt. "Sie übersah, daß es auch Modernisierungsverlierer gab, die mehr denn je eine Schutz- und Interessenvertretung in der politischen Arena brauchten." Auf solche Versäumnisse seien zum Teil auch die Erfolge der Rechtsradikalen zurückzuführen.

Während sich rechts die "Republikaner" breitmachen, sind links die Grünen erfolgreich in jene neuen sozialen Milieus vorgestoßen, aus denen sich eigentlich die SPD frischen Zustrom erhofft hatte. Nebenbei beerben die Grünen auch noch die FDP. Eine Zeitlang mochten sich die Sozialdemokraten damit trösten, daß die Zugewinne der Grünen links von der Mitte erzielt werden und somit gewissermaßen in der Familie bleiben. Inzwischen wird aber deutlich, daß sich die Grünen auch andere Koalitionspartner als die SPD vorstellen können.

Die Gewerkschaften tun sich ebenfalls schwer mit der neuen Unübersichtlichkeit. Die Interessenlage ihrer Mitgliedschaft ist disparater denn je. Am Kern der Klientel, den industriellen Facharbeitern, nagt seit langem der soziale Wandel. Es ist den Gewerkschaften nicht gelungen, entsprechenden Ersatz aus den Reihen der Angestellten zu finden. Die Tendenz zur Auflösung der alten Milieus bringt es mit sich, daß dasselbe Gewerkschaftsmitglied oft in wechselnde Rollen schlüpft - je nachdem, ob es um den eigenen Arbeitsplatz oder um allgemeinpolitische Forderungen geht. Als Beispiel nennt Blessing die Forderung nach Rüstungskonversion, die im Gewerkschaftslager fast unisono Anklang findet, aber unter den Beschäftigten der einschlägigen Branchen auf Skepsis und Ablehnung stößt. Ähnlich sei es bei der Kernenergiepolitik: Während IG Metall und ÖTV zumindest versucht hätten, in solchen Fragen die berechtigten Arbeitsplatzinteressen ihrer Mitglieder mit gesamtgesellschaftlichen Ansprüchen auf einen Nenner zu bringen, hätten IG Chemie und IG Bergbau "eher branchenpolitische Partialinteressen" verfolgt.

Streit um Kernenergie belastete SPD und ihren industriepolitischen Konsens mit Gewerkschaften

Für Ulrich Steger war es besonders der Konflikt um die Kernenergie, der sowohl die SPD innerlich gespalten als auch ihren traditionellen industriepolitischen Konsens mit den Gewerkschaften belastet hat. Bis Anfang der siebziger Jahre sei der Umweltschutz ein eher unproblematisches Thema gewesen, das die sozialliberale Bundesregierung als Bestandteil ihrer "inneren Reformen" ansah und das von den Gewerkschaften mit Wohlwollen begleitet wurde. Danach sei es aber zu einer wachsenden "politischen Radikalisierung des Umweltthemas" gekommen. Innerhalb der SPD sei ein ökologisch orientierter linker Flügel um Erhard Eppler auf Konfrontationskurs zum "Regierungsflügel" und den Gewerkschaften gegangen. Bezeichnend sei, daß die Akteure des ökologischen Flügels eher aus den südlichen "Diaspora"-Gebieten der SPD stammten und aus bildungsbürgerlichen Schichten zur Partei stießen, während die Befürworter der Kernenergie eher dem traditionellen Arbeitermilieu verbunden waren. Nach dem Scheitern der sozialliberalen Koalition habe sich der aufgestaute linke Nachholbedarf Bahn gebrochen. So sei es zu dem offiziellen Nürnberger Parteibeschluß gekommen, innerhalb von zehn Jahren aus der Kernenergie auszusteigen, dem sich dann die Gewerkschaften 1986 unter dem Eindruck des Super-Gaus von Tschernobyl anschlossen.

Auch die übrigen Beiträge des Sammelbandes verdienen Aufmerksamkeit. Die prominentesten Autoren sind der SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping, der inzwischen verstorbene DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer, die ehemalige ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies und der IG Metall-Vize Walter Riester. Weitere Beiträge stammen von Rudolf Dressler, Hans-Jürgen Krupp, Siegmar Mosdorf, Christa Müller, Jürgen Kromphardt und Günther Schultze. Die Autoren sind durchweg Sozialdemokraten mit Gewerkschaftsbuch oder Gewerkschafter mit SPD-Parteibuch. Die vorhandenen Probleme werden relativ offen angesprochen. Auch Rudolf Scharping hält es bei allem pflichtschuldigen Optimismus für angebracht, "die Sorge über die Entfremdungstendenzen zwischen Gewerkschaften und SPD nicht auf die leichte Schulter zu nehmen".

Das Buch ist im Hausverlag der SPD erschienen. Es macht offenkundig, daß bei SPD und Gewerkschaften ein erheblicher Leidensdruck besteht, was ihr beiderseitiges Verhältnis wie die jeweils eigene Verfassung angeht. Es verdeutlicht aber auch, daß man in beiden Organisationen nach neuen Wegen sucht, um an der Schwelle des 21. Jahrhunderts bestehen zu können.

(PB 3/95/*leu)