Udo Leuschner / Geschichte der FDP (70)

17. Bundestag 2009 - 2013


Ein Frosch namens Merkel

Rösler gelingt es, die Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten durchzusetzen

Zu den wenigen Glücksmomenten, die Philipp Rösler an der Spitze der FDP vergönnt waren, gehörte die Neuwahl des Bundespräsidenten am 18. März 2012. Denn es war hauptsächlich ihm zu verdanken, daß der 72-jährige Joachim Gauck von der Bundesversammlung mit großer Mehrheit zum höchsten Repräsentanten des Staates gewählt wurde. Endlich schien ihm damit das Gesellenstück gelungen zu sein, auf das man seit dem Rostocker Parteitag vor knapp einem Jahr vergebens gewartet hatte. "Ab heute wird die FDP liefern", hatte er damals versprochen. Endlich schien er sich auch vom hartnäckig anhaftenden Image eines zwar netten, aber wenig durchsetzungsfähigen Politikers befreien zu können. Schließlich war es ihm sogar gelungen, die Kanzlerin auszutricksen. Die hätte gern einen anderen Hausherrn im Schloß Bellevue gehabt. Es blieb ihr aber keine andere Wahl, als auch die Vertreter der Unionsparteien für Gauck votieren zu lassen.

Der ostdeutsche Pfarrer, der nach dem Zusammenbruch der DDR zehn Jahre lang als Bundesbeauftragter für die Unterlagen des früheren Staatssicherheitsdienstes amtierte – umgangssprachlich als Gauck-Behörde bezeichnet – war schon einmal fürs Amt des Bundespräsidenten nominiert worden. Das war 2010, als der wiedergewählte Horst Köhler überraschend sein Amt niedergelegt hatte. Anlaß für Köhlers Rücktritt war ein mißglücktes Interview zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, das ihm heftige Kritik eingetragen hatte. Damals war Gauck der Kandidat von SPD und Grünen gewesen, während Union und FDP den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff auf den Schild hoben und auch durchsetzten.

Köhler trat zurück, weil er für einen Polit-Profi zu dünnhäutig war

Köhler war 2004 als gemeinsamer Wunschkandidat von Union und FDP ins Amt gekommen. Seine Wahl erfolgte damals im Vorgriff auf eine schwarz-gelbe Regierungskoalition nach den Bundestagswahlen 2005, die dann aber nicht zustande kam, weil die Linke neu in den Bundestag einzog und die gewohnte Partei-Arithmetik durcheinander brachte (siehe 45). Ebenso einträchtig sorgten beide Parteien im Mai 2009 für Köhlers Wiederwahl (siehe 52). Damit verbunden war die Erwartung, in ihm einen treuen Begleiter auf höchster Ebene zu haben. Köhler entsprach dann aber diesen Erwartungen nicht immer. Zum Beispiel kritisierte er das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das die schwarz-gelbe Koalition Ende 2009 beschloß, und aus seiner Ablehnung der FDP-Forderungen nach Steuersenkungen machte er ebenfalls keinen Hehl. Die größte Enttäuschung bereitete er seinen Inthronisatoren mit dem Rücktritt. Offenbar war er für einen Polit-Profi zu dünnhäutig.

Nach seiner Wiederwahl stolperte Köhler letztendlich über der Unehrlichkeit, mit der Regierung und Bundestagsmehrheit den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan als humanitäre Friedensaktion darstellten, während es in Wirklichkeit um die Beteiligung an einem Krieg ging. Auf dem Rückflug von einem Truppenbesuch in Afghanistan war er am 22.Mai 2010 von einem Journalisten gefragt worden, ob es nicht besser wäre, sich klar zur Beteiligung an einer kriegerischen Auseinandersetzung zu bekennen. Köhler verwies darauf, daß der vom Bundestag gebilligte Auslandseinsatz der Bundeswehr im Bündnis mit anderen Nationen und aufgrund eines UN-Mandats erfolge. Außerdem setze sich die Einsicht durch, "daß ein Land unserer Größe, mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit, auch wissen muß, daß im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren".

Das war "keine besonders glückliche Formulierung", wie der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz schmallippig feststellte, als das im "Deutschlandfunk" gesendete Interview erste Wellen schlug. Die Formulierung entsprach allerdings Tatsachen. Der Außenminister und FDP-Chef Guido Westerwelle entfernte sich dagegen ziemlich weit von der Realität, als er den Kritikern "bewußtes Mißverstehen" vorwarf, weil der Bundespräsident über die Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika und den Schutz der "See- und Handelswege" gesprochen habe. Die Grünen fühlten sich durch Köhlers Äußerungen an die "Kanonenbootpolitik" des wilhelminischen Kaiserreichs erinnert. Die Linken zollten ihm ironisches Lob, weil er endlich klargestellt habe, daß es in Afghanistan nicht um "Schultüten", sondern um wirtschaftliche Interessen gehe.

Der Nachfolger Wulff schaffte es erst im dritten Wahlgang

Die Lücke, die am 31. Mai 2010 durch Köhlers sofortigen Rücktritt entstand, mußte laut Grundgesetz bis spätestens 30. Juni geschlossen werden. Dazu ausersehen war der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff. Seine Kandidatur hatte er aber allein der Bundeskanzlerin zu verdanken. Bei der FDP stieß der CDU-Politiker auf wenig Zustimmung. Die Spitzenpolitiker der sächsischen FDP sprachen sich sogar offen für Gauck aus. Der sächsische CDU-Vorsitzende Tillich forderte daraufhin im "Mitteldeutschen Rundfunk" den Parteichef Westerwelle auf, sämtliche FDP-Vertreter in der Bundesversammlung auf Wulff einzuschwören: "Herr Westerwelle hat eine Zusage gemacht, und er steht damit für die gesamte FDP." Außerdem versuchte die FDP, ihre Zustimmung von einer Gegenleistung abhängig zu machen. In erster Linie wünschte sie sich einen Verzicht auf Steuererhöhungen.

Wulff wurde dann am 30. Juni 2010 nach zwei vergeblichen Anläufen gewählt. Dabei verfügten Union und FDP rechnerisch über die absolute Mehrheit in der Bundesversammlung. Die kam aber erst im dritten Wahlgang zustande, in dem schon die relative Mehrheit gereicht hätte. Es handelte sich also um einen Denkzettel für die selbstherrliche Personalentscheidung der Kanzlerin, der aus der eigenen Koalition kam, und zugleich um eine parteiübergreifende Sympathiebekundung für den Gegenkandidaten Joachim Gauck.

Rücktritt wegen aufgebauschter Vorwürfe

Der 51-jährige Wulff war der bis dahin jüngste Bundespräsident. Mit seiner nochmals deutlich jüngeren Frau Bettina verhalf er diesem repräsentativen Amt, das bisher mehr oder weniger würdevoll von Senioren bekleidet wurde, erstmals zu so etwas wie glamouröser Ausstrahlung. Oder besser gesagt: Der Präsident und die "First Lady" wurden interessant für Klatsch- und Skandalmedien. Das rächte sich, als Ende 2011 die "Bild-Zeitung" herausfand, daß Wulff für sein Eigenheim in Hannover-Großburgwedel von einem Unternehmer zu günstigen Konditionen einen Kredit von 500.000 Euro erhalten hatte. Das hätte an sich noch keinen Vorwurf abgegeben. Dummerweise hatte Wulff aber zuvor, als er noch Ministerpräsident war, geschäftliche Beziehungen zu diesem Unternehmer verneint, als zwei Grünen-Abgeordnete im Landtag danach fragten. Und er verhielt sich noch dümmer, als er jetzt zum Telefon griff, um sich bei "Bild"-Chefredakteur Diekmann und Springer-Konzernchef Döpfner zu beschweren. Hinzu kamen andere Vorwürfe kleinen Kalibers, wie kostenlose Urlaube auf Einladung von "Freunden" oder ein Buch mit dem sinnigen Titel "Lieber die Wahrheit", das der Journalist Hugo Müller-Vogg zur Beweihräucherung des Ministerpräsidenten zusammengeschustert hatte und für das der Hannoveraner Krösus Carsten Maschmeyer eine Anzeigenkampagne spendierte. Die Staatsanwaltschaft Hannover sah jedoch genügend Anfangsverdacht, um wegen Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung zu ermitteln. Am 16. Februar 2012 beantragte sie deshalb die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten. Am folgenden Tag trat Christian Wulff zurück.

FDP entscheidet sich für Gauck als Nachfolger und stellt die Kanzlerin vor vollendete Tatsachen

Nun mußte wieder in aller Eile ein neuer Kandidat für das höchste Amt im Staat gefunden werden. Die Kanzlerin dachte beispielsweise an den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, der freilich gleich wissen ließ, daß er nicht zur Verfügung stand. Zwei weitere Favoriten waren der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, und der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU). Nur an einen dachte sie nicht: Den "Bundespräsidenten der Herzen", wie Joachim Gauck seit seinem überraschend guten Ergebnis bei der letzten Wahl genannt wurde. Dabei soll er ihr persönlich sympathisch gewesen sein. Aber er paßte aus irgendwelchen Gründen nicht in ihr Kalkül. Wahrscheinlich störte sie weniger das fehlende CDU-Parteibuch als die ausgeprägte Persönlichkeit, da sich Gauck bei der Ausübung des Amtes sicher nicht von der Kanzlerin gängeln lassen würde.

In dieser Situation faßte sich der FDP-Parteivorsitzende Rösler ein Herz und rief am 19. Februar den Bundespräsidenten der Herzen zum Kandidaten seiner Partei aus. Die Kanzlerin erfuhr vom Beschluß des FDP-Präsidiums aus Agenturmeldungen. Als Rösler ihr kurz darauf die Nachricht auch persönlich übermittelte, verband er dies mit dem Hinweis, daß seine Partei selbst dann mit SPD und Grünen für Gauck votieren werde, wenn die Union nicht mitziehe. Die Kanzlerin schäumte – zumindest innerlich – ob dieser Unbotmäßigkeit. Sie soll der FDP sogar mit dem Ende der Koalition gedroht haben, falls es bei dem Beschluß bleibe. Dann sah sie freilich ein, daß es unter den gegebenen Umständen das vernünftigste war, ebenfalls für Gauck zu stimmen. Denn die FDP, die hier mit Todesverachtung gegen den Koalitionspartner aufbegehrte, hatte deutlich weniger zu verlieren als die Union. Bei einer Infratest-Meinungsumfrage war sie inzwischen auf nur noch zwei Prozent der Stimmen abgesackt. Am 18. März 2012 wurde Gauck von der Bundesversammlung zum elften Bundespräsidenten gewählt. Mit 991 von 1228 Stimmen.

Die Kanzlerin war über ihre Rolle bei der Frosch-Parabel nicht amüsiert

Rösler freute sich ein bißchen allzu kindlich über diesen endlich errungenen Erfolg. Sonst wäre er wohl vorsichtiger gewesen, als er sich am 23. Februar 2012 in der Fernsehsendung "Markus Lanz" zu den Geschehnissen befragen ließ. Ausgesprochen locker, schlagfertig und witzig parierte er zunächst alle Fragen des Moderators, der beispielsweise wissen wollte, wie sich die einseitige Entscheidung der FDP für Gauck auf das Verhältnis der Duzfreunde Angela und Philipp ausgewirkt habe. Lächelnd räumte er ein, daß es eine "lebhafte Debatte" gegeben habe. "So würde ich das niemals sagen" antwortete er schalkhaft auf die Frage, ob er Merkel über den Tisch gezogen habe. Dann ließ der Moderator ein Video einspielen. Es zeigte Rösler auf dem Rostocker Parteitag, wie er jene Frosch-Parabel vortrug, die das Image vom "netten Herr Rösler" korrigieren sollte (siehe 64). Dann folgte die Frage, wann Angela Merkel wohl gemerkt habe, daß sie dieser Frosch sei (für den es zu spät ist, wenn er in dem langsam erwärmten Wasser endlich merkt, was mit ihm passiert). Rösler zog sich unbedacht diesen Schuh an, indem er meinte: "Schätzungsweise bei der besagten Schaltkonferenz des CDU-Präsidiums." Die Kanzlerin war über ihre Rolle bei dieser Frosch-Parabel verständlicherweise nicht amüsiert. Per Regierungssprecher ließe sie ausrichten: "Tiergleichnisse sind denkbar ungeeignet für die Beschreibung des Verhältnisses der Kanzlerin zu ihrem Vizekanzler."

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