Udo Leuschner / Geschichte der FDP (17)

9. Bundestag 1980 - 1983


Die sozialliberale Koalition vor dem Ende

Nach dem Wahlerfolg streben Genscher und Lambsdorff ein neues Bündnis mit der Union an

Bei den Bundestagswahlen am 5. Oktober 1980 erzielte die FDP einen Zuwachs um 2,7 auf 10,6 Prozent und damit ihr zweitbestes Ergebnis seit 1949. Offenbar kamen ihr viele Stimmen von Unionsanhängern zugute, denen der Kanzlerkandidat Strauß nicht geheuer war. Die Unionsparteien verbuchten mit 44,5 Prozent ihr schwächstes Ergebnis seit 1949. Vor allem die CDU mußte dafür büßen, daß sie sich dem Druck der Schwesterpartei gebeugt und Strauß als Kanzlerkandidaten akzeptiert hatte. Die SPD profitierte allerdings nicht im erhofften Ausmaß von der Angst vor Strauß. Sie verzeichnete nur einen bescheidenen Zuwachs von 0,3 auf 42,9 Prozent. Die neue Partei der Grünen, die erstmals an einer Bundestagswahl teilnahm, mußte sich mit 1,5 Prozent begnügen.

Insgesamt konnte die sozialliberale Koalition sehr zufrieden sein: Mit 271 Mandaten gegenüber 226 der CDU/CSU verfügte sie nun über eine solide Mehrheit von 45 Sitzen im 9. Bundestag. Sie regierte damit wieder so komfortabel wie nach den Neuwahlen im November 1972, als sie einen Vorsprung von 46 Mandaten erzielte. Allerdings behielt die Union weiterhin die Mehrheit im Bundesrat.

Im dritten Kabinett von Helmut Schmidt, das am 6. November 1980 vereidigt wurde, saßen dieselben FDP-Minister mit denselben Zuständigkeiten wie zuletzt im zweiten Kabinett: Hans-Dietrich Genscher (Vizekanzler und Äußeres), Gerhart Rudolf Baum (Inneres), Otto Graf Lambsdorff (Wirtschaft) und Josef Ertl (Ernährung). Als Parlamentarische Staatssekretäre amtierten weiterhin Hildegard Hamm-Brücher (Äußeres), Andreas von Schoeler (Inneres), Martin Grüner (Wirtschaft) und Georg Gallus (Ernährung).

Die wirtschaftlichen Probleme nehmen zu - Streit um die NATO-"Nachrüstung"

Wirtschaftlich wurde die Lage schwieriger. Zum Jahresanfang 1981 gab es 1,1 Millionen Arbeitslose. Ein Jahr später waren es schon 1,9 Millionen. Aus heutiger Sicht wären beide Zahlen eine Erfolgsmeldung gewesen. Aber damals verglich man noch mit den Jahren der Vollbeschäftigung.

Bei der Beratung des Haushalts 1982 tat sich ein Loch von knapp acht Milliarden Mark auf. Es wurde mit einer Reihe unpopulärer Maßnahmen wie Kürzungen beim Kinder- und Arbeitslosengeld mehr schlecht als recht gestopft. Bei der Verabschiedung des Haushalts für das Jahr 1983 mutete die Bundesregierung den Bürgern weitere Belastungen zu.

Außenpolitisch verdüsterte sich der Himmel ebenfalls. Vier Wochen nach den Bundestagswahlen siegte in den USA der ehemalige Cowboy-Darsteller Ronald Reagan bei den Präsidentschaftswahlen. Damit gingen die USA nach einer Phase der Entspannung erneut auf Konfrontationskurs zur Sowjetunion.

Speziell in Deutschland bahnte sich seit längerem ein Konflikt um den sogenannten NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 an. Dieser war auf Betreiben Helmut Schmidts zustandegekommen: Der ehemalige Wehrmachts-Leutnant Schmidt sah das strategische Gleichgewicht in Europa gefährdet, nachdem die Sowjets ihre atomaren Mittelstreckenraketen modernisiert hatten. Deshalb sollte - so der eine Teil des NATO-Beschlusses - im Wege von Abrüstungsverhandlungen, die am 30. November 1981 in Genf begannen, ein beiderseitiger Verzicht auf die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa erreicht werden. Bei einem Scheitern dieser Verhandlungen aber - und das Scheitern war unter dem neuen US-Präsidenten Reagan so gut wie sicher - sollten die USA bis Ende 1983 ebenfalls atomare Mittelstreckenraketen in Europa bzw. Deutschland stationieren.

CDU wirft SPD vor, sich von FDP gängeln zu lassen

Dennoch gab es zunächst keinen Anlaß, die soeben erneuerte Koalition für gefährdet zu halten. Soweit es um wirtschaftliche Fragen ging, hatte Helmut Schmidt mit Teilen der SPD größere Schwierigkeiten als mit der FDP. Schmidts Politik entsprach sogar in solchem Maße den Forderungen der FDP, daß CDU-Generalsekretär Heiner Geißler den Bundeskanzler von links her angriff: "Niemals zuvor in der 32jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind die sozial Schwächeren so belastet worden wie unter einem SPD-Kanzler", erklärte Geißler am 4. März 1982 in der Bundestagsdebatte über den Jahreswirtschaftsbericht und das Beschäftigungsprogramm der Bundesregierung. Es bestehe die Gefahr, daß sich in dieser Gesellschaft nur noch der Stärkere durchsetze: die Großindustrie gegen den Mittelstand, die Arbeitsfähigen gegen die Alten und die Arbeitsplatzinhaber gegen die Arbeitslosen. Die SPD sei keine Arbeiterpartei mehr, sondern lasse sich von der FDP deren Willen aufzwingen - "von einer Partei, von der niemand weiß, welche Grundsätze gerade bei ihr gelten".

In der Frage der "Nachrüstung" gab es ebenfalls starken Widerstand innerhalb der SPD, aber keine Differenzen mit der FDP. Und auf dem Feld der Ost- und Deutschlandpolitik war man sich ohnehin am nächsten: Vor allem wollte man sich die Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen nicht von einer Knallcharge im Weißen Haus vermasseln lassen. Darin bestand auch Übereinstimmung mit SED-Chef Erich Honecker, den Helmut Schmidt und Otto Graf Lambsdorff Ende 1981 in der DDR aufsuchten.

Linksliberale Orientierung gilt inzwischen als Sackgasse

Es scheinen deshalb vor allem machtstrategische Überlegungen gewesen zu sein, die den FDP-Vorsitzenden Genscher schon kurz nach den Wahlen veranlaßten, die Weichen in Richtung auf eine Koalition mit der CDU/CSU zu stellen. Sein engster Gehilfe war dabei Otto Graf Lambsdorff, der im September 1977 das Amt des Wirtschaftsministers übernommen hatte, nachdem Hans Friderichs als Vorstandsvorsitzender zur Dresdener Bank gewechselt war. Wie Friderichs gehörte Lambsdorff zum Wirtschaftsflügel der FDP. Er vertrat jenen Teil der FDP, der die Wandlung zu einer linksliberalen Partei nie mitgetragen hatte.

Eine wichtiger machtstrategischer Grund könnte gewesen sein, daß der Erfolg bei den Bundestagswahlen zum großen Teil auf "Leihstimmen" von Unionswählern beruhte. Die FDP durfte aber nicht hoffen, daß die Union ein zweites Mal mit Strauß antreten würde. Dagegen mußte sie sehr wohl befürchten, entscheidende Prozente an die neue Partei der "Grünen" zu verlieren, falls sie im Bündnis mit der SPD weiterhin den linksliberalen Part übernehmen würde. Denn die Grünen ernteten inzwischen dort, wo vor Jahren die außerparlamentarische Opposition gesät hatte - und wo ursprünglich eigentlich die FDP Neuland zu erschließen gehofft hatte.

Beide Überlegungen galten auch für die SPD: Mit nur 0,3 Prozent Zuwachs war diese an die Grenzen ihres Wählerpotentials gestoßen, obwohl Helmut Schmidt zahlreiche "bürgerliche" Wähler sicher mehr ansprach als Strauß. Mit der Wiederholung einer derart günstigen Konstellation war nicht zu rechnen. Die parteiübergreifende Popularität Schmidts war außerdem zweischneidig: In der SPD kriselte es. Die Linken fühlten sich untergebuttert. Vor allem waren sie entschlossen, dem Weltkrieg-II-Leutnant die Gefolgschaft bei der "Nachrüstung" zu versagen. Mit dem weiteren Anwachsen der "Friedensbewegung" war zu rechnen. Dies mußte die Grünen begünstigen, die als einzige der größeren Parteien die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen entschieden ablehnten und auch sonst dabei waren, die SPD als parlamentarische Vertretung der Linken abzulösen.

FDP ermöglicht CDU den Regierungswechsel in Berlin

Eine Art Probelauf für den Koalitionswechsel fand Anfang 1981 in Berlin statt, wo die seit den Nachkriegsjahren fast ununterbrochen regierende SPD sich tief im "Filz" verstrickt hatte und damit dem langjährigen Koalitionspartner FDP besonders gute Möglichkeiten zur Distanzierung bot. Es kam in Berlin zwar vorläufig - solange in Bonn die Koalition noch bestand - zu keiner CDU/FDP-Regierung, aber doch zu einem inoffiziellen Bündnis, das der CDU eine Minderheitsregierung ermöglichte.

Auslöser war die "Garski-Affäre", einer jener Finanzskandale, wie sie für den Westberliner Filz typisch waren. Der Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe sah sich aufgrund der Affäre genötigt, einige Senatsposten umbesetzen. Bei vier der fünf Senatoren scheiterte aber die Bestätigung durch das Abgeordnetenhaus, obwohl die Koalitionsparteien rechnerisch über eine Mehrheit von acht Stimmen verfügten. Nach dieser Blamage erklärten Stobbe und der Senat am 15. Januar 1981 ihren Rücktritt. Wegen der völligen Zerstrittenheit der Berliner SPD und des Mangels an profilierten Politikern sprang der bisherige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel als Nothelfer ein und wurde am 23. Januar zum neuen Regierenden Bürgermeister gewählt. Die Posten des Justiz- und Schulsenators besetzte wie bisher die FDP mit Gerhard Meyer bzw. Walter Rasch. Der bisherige Wirtschaftssenator Wolfgang Lüder, der zugleich FDP-Landesvorsitzender war, wurde durch den früheren EG-Kommissar Guido Brunner ersetzt.

Ein paar Tage nach der Wahl des Vogel-Senats einigten sich die Fraktionen des Abgeordnetenhauses auf vorgezogene Neuwahlen am 10. Mai. Als Spitzenkandidat der CDU trat Richard von Weizsäcker an, den seine Partei - ähnlich wie dies die SPD mit Vogel tat - von Bonn auf die Berliner Provinzbühne schickte. Mit Weizsäcker als Zugpferd erreichte die CDU 48 Prozent der Stimmen und ihr bislang bestes Wahlergebnis in Berlin. Die SPD schrumpfte dagegen von 42,7 auf 38,3 Prozent und die FDP von 8,1 auf 5,6 Prozent. Zugleich zog die grüne "Alternative Liste" mit 7,2 Prozent erstmals ins Abgeordnetenhaus ein.

Um eine regierungsfähige Mehrheit zu erhalten, unterbreitete Weizsäcker der FDP ein Koalitionsangebot. Der Landesparteitag der FDP lehnte dieses Angebot aber ab - immerhin koalierte die Partei seit fast zwanzig Jahren mit der SPD und hatte sich auch im Wahlkampf auf eine Erneuerung des Bündnisses festgelegt. Ungeachtet dieses Votums beschloß die FDP-Fraktion mit vier gegen drei Stimmen, die Wahl eines CDU-Minderheitssenats zu ermöglichen. Man wolle zwar nicht mit der CDU koalieren, aber "diesem Senat eine faire Chance einräumen", erklärte der Fraktionsvorsitzende Horst Vetter. Damit folge man einer Empfehlung des FDP-Bundesvorstandes. Am 11. Juni 1981 wurde Richard von Weizsäcker mit Hilfe der FDP zum neuen Regierenden Bürgermeister gewählt.

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