Udo Leuschner / Geschichte der FDP (15)

8. Bundestag 1976 - 1980


CDU/CSU in der Zerreißprobe

Strauß sieht die "Linkspartei" FDP fest an der Seite der SPD und setzt auf Konfrontation

Auch in die Bundestagswahlen vom 3. Oktober 1976 ging die FDP mit einer klaren Koalitionsaussage zugunsten der SPD. Bei fast so hoher Wahlbeteiligung wie vier Jahre zuvor erlitten sowohl die SPD (von 45,8 auf 42,6 Prozent) als auch die FDP (von 8,4 auf 7,9 Prozent) Stimmeneinbußen. Die CDU konnte sich dagegen von 35,2 auf 38 Prozent und die CSU von 9,7 auf 10,6 Prozent verbessern. Insgesamt errangen die Unionsparteien 243 Sitze im Bundestag und wurden so nach vierjähriger Unterbrechung wieder stärkste Fraktion. Demgegenüber verfügte die SPD über 214 und die FDP über 39 Sitze. Die sozialliberale Koalition besaß somit eine Mehrheit von zehn Sitzen im Bundestag und konnte weiter regieren.

Am 15. Dezember 1976 wählte der 8. Bundestag Helmut Schmidt (SPD) mit 250 gegen 243 Stimmen erneut zum Bundeskanzler. Die FDP erhielt dieselben vier Ressorts wie im ersten Kabinett von Helmut Schmidt und besetzte sie wiederum mit denselben Ministern: Hans-Dietrich Genscher (Äußeres), Werner Maihofer (Inneres), Hans Friderichs (Wirtschaft) und Josef Ertl (Ernährung, Landwirtschaft, Forsten). Bei den parlamentarischen Staatssekretären behielten dagegen nur Gerhart Rudolf Baum (Inneres) und Martin Grüner (Wirtschaft) ihre bisherigen Ämter. Neu hinzu kamen Hildegard Hamm-Brücher (Äußeres), Andreas von Schoeler (Inneres) und Georg Gallus (Ernährung).

Strauß schockt die CDU mit dem Trennungsbeschluß von Wildbad Kreuth

Die Nein-Stimmen bei der Kanzlerwahl kamen wieder von der gemeinsamen Fraktion von CDU und CSU. Vorausgegangen war jedoch eine Zerreißprobe innerhalb der Unionsparteien, welche die seit 1949 bestehende Fraktionsgemeinschaft fast gesprengt und die beiden Schwesterparteien bundesweit zu Rivalen gemacht hätte: Am 18./19. November 1976 beschloß die CSU in einer Klausurtagung in Wildbad Kreuth, im 8. Bundestag eine eigene Fraktion zu bilden. In einem Rundschreiben an die CSU-Funktionäre verteidigte der Parteivorsitzende Franz-Josef Strauß diesen Beschluß damit, daß die CSU als separate Fraktion mehr Redezeit im Bundestag und generell mehr politische Aufmerksamkeit erhalten könne. Nur durch getrenntes Agieren der beiden Unionsparteien werde es künftig möglich sein, die sozialliberale Koalition aus dem Sattel zu heben und die FDP, die sich als Linkspartei auf Dauer an die SPD gebunden habe, effektiv zu bekämpfen:

"Solange die FDP eine nationalliberale Partei war, konnten CDU und CSU mit ihr eine Koalition bilden. Seit die FDP eine Linkspartei geworden ist, muß man die Dinge nüchtern und realistisch sehen. (...) Eine Erwartung, CDU und CSU könnten bis 1980 die absolute Mehrheit erreichen oder bis dahin die FDP gewinnen, muß als bloße, durch nichts begründete Selbsttäuschung angesehen werden."

CDU will weiterhin um FDP-Wähler werben

Die CDU und deren Vorsitzenden Helmut Kohl, der eigentlich den Vorsitz der gemeinsamen Fraktion übernehmen wollte, traf die Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft völlig überraschend. Am 20. November bezeichnete die CDU-Führung den Beschluß der Schwesterpartei als "Absage an die Einheit der Union" und kündigte "Vorbereitungen zur Gründung eines Landesverbandes der CDU in Bayern" an. Das Argument von Strauß, daß die FDP sich auf Dauer an die SPD gebunden habe, ließ CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf nicht gelten. Am 28. November erklärte er auf dem Deutschlandtag der Jungen Union:

"Ich habe immer die Auffassung vertreten, daß es falsch ist, allzusehr auf die FDP als Partei zu schauen. Man muß sich mehr für die FDP-Wähler interessieren. Die FDP-Wähler gehören der FDP keineswegs als Besitzstand. Bei keiner Partei ist die Wählerloyalität geringer als bei der FDP. Bei keiner Partei ist es deshalb leichter, durch eine klare politische Offensive Wähler zu gewinnen als bei der FDP. (...) Ich habe es deshalb immer als eine der zentralen Aufgaben der CDU angesehen, mit der FDP um die liberale Wählerschaft zu konkurrieren."

Strauß läßt das Projekt "vierte Partei" fallen und lenkt ein

Strauß spielte schon seit längerem mit dem Gedanken an eine "vierte Partei", die sowohl der FDP als auch der SPD Wähler abjagen sollte. Im Vorgriff darauf hatten sich in verschiedenen Bundesländern außerhalb Bayerns sogenannte Freundeskreise der CSU gebildet. Aus Mitgliedern dieser rechtskonservativen Zirkel entstand im Oktober 1975 die "Aktionsgemeinschaft Vierte Partei" (AVP). Auf Vorhaltungen der CDU versicherte die CSU, daß sie nicht an eine bundesweite Ausdehnung denke. Die AVP machte indessen weiter und wählte auf ihrem ersten Parteitag im April 1976 den ehemaligen bayerischen FDP-Landesvorsitzenden Dietrich Bahner zum Vorsitzenden. Erst drei Wochen vor den Bundestagswahlen zog sie ihre Kandidatur zurück. Inzwischen stand fest, daß die CSU nicht bereit sein würde, ihr durch die Überlassung von drei Wahlkreisen den Einzug in den Bundestag zu sichern.

Nun, nachdem die Bundestagswahl für die Union insgesamt doch enttäuschend verlaufen war, holte Strauß die Drohung mit der vierten Partei wieder hervor. Triumphierend verwies er auf Bayern, wo die CSU mit 60 Prozent ihren bislang bestes Wahlergebnis seit 1949 erzielen konnte. Die Ergebnisse der CDU seien dagegen zum Teil weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben.

Angesichts der massiven Drohung der CDU, sie werde künftig auch in Bayern antreten und die CSU praktisch spalten, mußte Strauß am Ende aber doch einlenken. In einem am 12. Dezember unterzeichneten Kompromißpapier wurde die Fortsetzung der Fraktionsgemeinschaft vereinbart. Die CSU bekam darin bestätigt, daß sie eine "selbständige Partei" sei, die wie die CDU "ebenfalls einen bundesweiten Anspruch der von ihr vertretenen Politik" erhebe.

Die FDP koaliert in Hannover und Saarbrücken mit der CDU

Erleichtert wurde die Einigung zwischen CDU und CSU durch die Bereitschaft der FDP, der CDU in Niedersachsen und im Saarland zu einer stabilen Regierung zu verhelfen. Die Behauptung von Strauß, die FDP habe sich auf das Bündnis mit der SPD festgelegt, wurde dadurch zumindest relativiert.

In Hannover und Saarbrücken regierte die CDU bis dahin ohne Mehrheit, denn FDP und SPD verfügten im Landtag zusammen über genausoviel Stimmen wie die CDU. Nur eine Große Koalition oder eine CDU/FDP-Koalition hätte diese Patt-Situation beenden können. Die erste Lösung kam wegen der bundespolitischen Konfrontation von Union und SPD nicht in Frage. Die zweite war schon deshalb recht heikel, weil sich die FDP in beiden Ländern im Wahlkampf auf ein Bündnis mit der SPD festgelegt hatte. In Niedersachsen sah sie sich zudem dem Verdacht ausgesetzt, daß es ein Überläufer aus ihren Reihen war, der im Januar 1976 die Wahl des CDU-Politiker Ernst Albrecht zum Ministerpräsidenten ermöglichte.

Um die sozialliberalen Wähler nicht zu verprellen, ließ die niedersächsische FDP erst einmal die Bundestagswahlen über die Bühne gehen. Am 31. Oktober 1976 beschloß dann der Landeshauptausschuß mit 70 gegen 55 Stimmen, das Angebot der CDU zu Koalitionsverhandlungen anzunehmen. Am 12. Dezember billigte ein außerordentlicher Landesparteitag das ausgehandelte Koalitionspapier mit der knappen Mehrheit von 164 gegen 162 Stimmen. Hinsichtlich des Bundesrats hieß es darin, daß die Festlegung der niedersächsischen Haltung im Bundesrat "in partnerschaftlichem Geist" erfolgen und Konfrontationen mit Beschlüssen des Bundestags vermieden werden sollten. Am folgenden Tag nominierte die FDP-Landtagsfraktion den Landesvorsitzende Rötger Gross und seinen Stellvertreter Erich Küpker als Innenminister bzw. Wirtschaftsminister. Knapp ein Jahr nach dem Sturz der sozialliberalen Regierung in Hannover übernahmen damit Gross und Küpker im Kabinett von Ernst Albrecht dieselben Ressorts wieder, die sie zuvor in der Regierung Kubel innehatten.

An der Saar dauerte es noch länger, ehe die FDP der seit Mai 1975 ohne parlamentarische Mehrheit regierenden CDU offiziell beispringen konnte. Erst am 5. Dezember 1976 - 19 Monate nach den Landtagswahlen und zwei Monate nach der Bundestagswahl - gab ein Parteitag der FDP Saar mit 243 gegen 166 Stimmen bei sechs Enthaltungen grünes Licht für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der CDU. Es verging dann nochmals ein volles Jahr, ehe diese abgeschlossen wurden. Im Koalitionspapier wurde festgelegt, daß "die Stimmen des Saarlands im Bundesrat nicht gegen den erklärten Willen eines Koalitionspartners abgegeben werden" dürften. Der FDP-Vorsitzende Werner Klumpp übernahm das Ressort Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft. Weiteres FDP-Mitglied im Kabinett wurde Rosemarie Scheurlen mit der Zuständigkeit für Arbeit, Gesundheit und Soziales.

Strauß wird Kanzlerkandidat der Union - zur Freude von FDP und SPD

Der Burgfrieden innerhalb der Union blieb brüchig. Als sich der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß am 6. November 1978 zum bayerischen Ministerpräsidenten wählen ließ, sah er das nur als Vorstufe zum Bundeskanzler an. Am 24. Mai 1979 verkündete er das auch öffentlich. Dessenungeachtet hoben sein Widersacher Helmut Kohl und der CDU-Bundesvorstand vier Tage später den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht als Kanzlerkandidaten auf den Schild. Strauß setzte sich aber mit Brachialgewalt durch, indem er die Keule von Wildbad Kreuth erneut hervorholte und mit der bundesweiten Ausdehnung der CSU bzw. einer "vierten Partei" drohte. Widerstrebend gab ihm die Unionsfraktion bei einer Probeabstimmung am 2. Juli 1979 mit 135 gegen 102 Stimmen den Vorrang vor Albrecht.

Aus Sicht der sozialliberalen Koalition hatte die Union damit den idealen Kanzlerkandidaten. Denn kein anderer Politiker polarisierte derart die bundesdeutsche Gesellschaft und verschreckte selbst CDU-Wähler. Besonders für die FDP, die bisher als Strauß-Verhinderungs-Partei immer gut fuhr, war die Kandidatur von Strauß ein Geschenk.

Die Brandrede von Sonthofen

Der frischgekürte Kanzlerkandidat machte seinem zweifelhaften Ruf auch gleich alle Ehre, indem er im November 1979 auf einer Tagung der CSU-Landesgruppe in Sonthofen eine Brandrede hielt, deren Text von der SPD genüßlich verbreitet wurde. Im Kern liefen die Ausführungen von Strauß darauf hinaus, daß die Bundesrepublik am Anfang einer großen Krise stehe. Es sei jedoch nicht sinnvoll, wenn die Union sich an Maßnahmen gegen die Zerrüttung der Staatsfinanzen, Inflation und steigende Arbeitslosigkeit beteilige. Im Gegenteil:

"Die Krise muß so groß werden, daß das, was wir für die Sanierung notwendig halten, dann auf einem psychologisch besseren Boden beginnen kann als heute."

Über die FDP äußerte sich Strauß folgendermaßen:

"Bei der FDP kann man sich auf eines verlassen, nämlich eine berechenbare Komponente, ihre Charakterlosigkeit. Wenn sie in der Dummheit noch treu wäre, wäre es für uns schlimmer als so, wo sie in der Dummheit unzuverlässig ist. Denn, wenn es ihr an den Kragen geht, kann man sich darauf verlassen, daß sie noch mit zum Schwur erhobener Hand der SPD Treue gelobt und mit uns den Koalitionsvertrag zu unterschreiben bereit wäre. Die Charakterlosigkeit der FDP, verbunden mit ihrem Selbsterhaltungstrieb, ist eine der zuverlässig berechenbaren Komponenten."

Terrorismus als Wahlkampfthema

Eines der Mittel, mit denen Strauß Kanzler zu werden hoffte, war die propagandistische Ausschlachtung des Terrorismus:

"Wir müssen sagen, die SPD und FDP überlassen diesen Staat kriminellen und politischen Gangstern. Und zwischen kriminellen und politischen Gangstern ist nicht der geringste Unterschied, sie sind alle miteinander Verbrecher. Und wenn wir hinkommen und räumen so auf, daß bis zum Rest dieses Jahrhunderts von diesen Banditen keiner mehr es wagt, in Deutschland das Maul aufzumachen. Selbst wenn wir es nicht ganz halten können. Aber den Eindruck müssen wir verkörpern."

Die FDP bleibt in Niedersachsen und Hamburg unter fünf Prozent

Die niedersächsischen Wähler honorierten es der FDP nicht, daß sie sich Ende 1976 zu einer Regierung mit der CDU unter Ernst Albrecht bereitgefunden hatte: Bei den Landtagswahlen am 4. Juni 1978 blieb sie mit 4,2 Prozent auf der Strecke und war nicht mehr im Landtag vertreten. Die CDU ging dagegen aus der Wahl gestärkt hervor und konnte allein weiterregieren. Am selben Tag flog die FDP mit mehr als halbiertem Stimmenanteil auch aus dem Hamburger Landesparlament, während ihr bisheriger Koalitionspartner SPD die absolute Mehrheit errang.

Bei den Landtagswahlen vom 8. Oktober 1978 in Hessen verschlechterte sich die FDP von 7,4 auf 6,6 Prozent und ging erneut eine Koalition mit der SPD ein. In Bayern konnte sie am 15. Oktober 1978 ihr Ergebnis von 5,2 auf 6,2 Prozent verbessern und im Landtag wieder den Status einer Fraktion erlangen. Verbesserungen erzielte sie auch bei den Wahlen, die am 18. März 1979 in Rheinland-Pfalz (von 5,6 auf 6,4 Prozent) und in Berlin (von 7,1 auf 8,1 Prozent) stattfanden. Dagegen mußte sie am 29. April 1979 in Schleswig-Holstein einen Stimmenschwund von 7,1 auf 5,75 Prozent hinnehmen.

Die Grünen schaffen erstmals den Sprung in Landesparlamente

Bei den Senatswahlen in Bremen am 7. Oktober 1979 sank der Stimmenanteil der FDP von 12,95 auf 10,75 Prozent. Einige der verlorenen Stimmen dürften bei der neuen "Bremer Grünen Liste" gelandet sein, die auf Anhieb 5,14 Prozent errang und damit den Grünen zum ersten Mal den Einzug in ein Landesparlament bescherte.

Die Grünen tauchten fortan auch bei anderen Wahlergebnissen gleich hinter der FDP auf. Bei den Landtagswahlen am 5. Oktober 1980 in Baden-Württemberg gelang ihnen mit 5,3 Prozent zum zweitenmal der Sprung in ein Landesparlament. Trotz der neuen Konkurrenz konnte die FDP indessen um 0,5 auf 8,5 Prozent zulegen. Bei den Wahlen, die am selben Tag im Saarland und Nordrhein-Westfalen stattfanden, blieben die Grünen dagegen unter fünf Prozent, während die FDP leichte bis herbe Verluste erlitt. In Saarbrücken, wo die FDP um 0,5 auf 6,9 Prozent abfiel, setzte sie die Koalition mit der CDU fort.

Die FDP fliegt auch in Düsseldorf aus dem Landtag

In Nordrhein-Westfalen sackte die FDP bei den Wahlen am 5. Oktober 1980 um 2,9 auf 4,9 Prozent ab. Sie war damit nicht mehr im Landtag vertreten, obwohl ihr nur 1079 Stimmen fehlten. Die SPD brauchte die FDP aber ohnehin nicht mehr als Koalitionspartner, da sie zum ersten Mal die absolute Mehrheit errungen hatte. Eine der Ursachen des FDP-Debakels war die vorangegangene Führungskrise innerhalb des Landesverbandes: Am 12. November 1979 war der bisherige Landesvorsitzende und Wirtschaftsminister Horst-Ludwig Riemer zum Rücktritt gezwungen worden. An seiner Stelle hatten Innenminister Burkhard Hirsch den Landesvorsitz und die Bundestagsvizepräsidentin Liselotte Funcke das Wirtschaftsministerium übernommen.

Vier FDP-Abgeordnete im Europäischen Parlament

Am 7. Juni 1979 fanden erstmals Direktwahlen zum Europäischen Parlament statt. Das Ergebnis für die FDP bewegte sich mit 6 Prozent im üblichen Rahmen. Sie erhielt dadurch vier Sitze in Straßburg, wo die Liberalen über insgesamt 40 Mandate verfügten - als fünftstärkste Fraktion nach Sozialisten (112), Christlichen Demokraten (106), Konservativen (63) und Kommunisten (44).

Die Union sperrt sich gegen eine Wiederwahl von Scheel zum Bundespräsidenten

In der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten zu wählen hatte, verfügte die sozialliberale Koalition infolge der Verschiebungen in den Länderparlamenten über keine Mehrheit mehr. Der Bundestagspräsident Karl Carstens, den die Unionsparteien am 5. März 1979 für dieses Amt nominierten, durfte somit seiner Wahl sicher sein. Der amtierende Bundespräsident Walter Scheel kündigte unter diesen Umständen seinen Verzicht auf die Kandidatur für eine zweite Amtszeit an. Ersatzweise bemühten sich SPD und FDP, den Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, der bei Teilen der Union größere Chancen gehabt hätte als Scheel, als Gegenkandidaten zu Carstens zu gewinnen. Weizsäcker wollte sich aber nur auf parteiübergreifender Basis nominieren lassen und keiner Kampfabstimmung stellen. Am Ende nominierte die SPD ihre Bundestags-Vizepräsidentin Annemarie Renger, während die FDP Enthaltung beschloß.

Am 23. Mai 1979 wurde Karl Carstens mit 528 gegen 431 Stimmen bei 72 Enthaltungen zum fünften Bundespräsidenten gewählt. Nach Theodor Heuss (FDP), Heinrich Lübke (CDU), Gustav Heinemann (SPD) und Walter Scheel (FDP) stellte die Union damit zum zweitenmal den Bundespräsidenten - und beide Male kamen die hohen Würdenträger wegen ihrer NS-Vergangenheit ins Gerede. Lübke war Bauleiter bei Rüstungsprojekten gewesen, bei denen auch KZ-Häftlinge eingesetzt wurden. Wegen seiner Unterschrift unter Plänen für Baracken zur Unterbringung solcher Häftlinge war er in der DDR-Propaganda als "KZ-Baumeister" bezeichnet worden. Bei Carstens stellte sich nun heraus, daß er ab 1933 Mitglied der SA und ab 1940 Mitglied der NSDAP gewesen war. Auch sonst gehörte er wie Lübke zu den schwächsten Besetzungen des höchsten Staatsamtes.

Die FDP unterstrich mit ihrer Stimmenthaltung in der Bundesversammlung, daß Scheel für sie nach wie vor der beste Kandidat gewesen wäre. Am 9. Juli 1979 wählte sie den Altbundespräsidenten zu ihrem Ehrenvorsitzenden.

Das Bundesverfassungsgericht entwickelt sich zum Ersatz-Gesetzgeber

Mit ihrer Mehrheit im Bundesrat blockierte die Union weiterhin die ihr mißfallenden Gesetze, soweit es ihr möglich war. Die Koalition griff ihrerseits in die Trickkiste, indem sie Gesetzesvorhaben in zwei Teile auftrennte, von denen nur der eine Teil der Zustimmung des Bundesrats bedurfte. Der neue Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel (CDU), warnte deshalb in seiner Antrittsrede als Bundesratspräsident am 3. Dezember 1976 die Bundesregierung davor, "die Mitwirkung des Bundesrates zu unterlaufen".

Zunehmend umstritten wurde auch die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, weil es immer häufiger über politische Streitfrage entschied. So klagten die Arbeitgeberverbände 1977 gegen das Mitbestimmungsgesetz, weil es ihre Eigentumsrechte und die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft in grundgesetzwidriger Weise beeinträchtige. Die Klage wurde am 1. März 1979 zurückgewiesen. Wie bei der Entscheidung über den Grundlagenvertrag mit der DDR im Jahre 1975 wurden damit aber dem Verfassungsgericht politische Kompetenzen übertragen, die eigentlich dem Parlament zustanden. Das Gericht beschränkte sich nicht mehr auf rein verfassungsrechtliche Fragen, sondern wurde in die Rolle eines Ersatz-Gesetzgebers gedrängt. Schon Thomas Dehler hatte vor dieser Entwicklung gewarnt, weil die Besetzung des Verfassungsgerichts letzten Endes nur den Parteienproporz des Parlaments widerspiegelt, ohne im selben Maße demokratisch legitimiert zu sein. Die Berufung der Verfassungsrichter durch den Richterwahlausschuß des Bundestags erfolgt sogar nach recht undurchsichtigen Kriterien, von denen man allenfalls weiß, daß neben formalen juristischen Qualifikationen das richtige Parteibuch eine entscheidende Rolle spielt.

Die Neufassung des Abtreibungsparagraphen tritt in Kraft

Das Bundesverfassungsgericht habe "keinen Auftrag und keine Zuständigkeit zu politischer Gestaltung", betonte auch Bundespräsident Walter Scheel bei einem Festakt zum 25jährigen Bestehen des Gerichts am 18. November 1976 in Karlsruhe. Scheel spielte damit vor allem auf eine Entscheidung an, mit der das Bundesverfassungsgericht am 25. Februar 1975 der Klage der baden-württembergischen Landesregierung gegen die Liberalisierung der Abtreibung (Fristenregelung) stattgegeben hatte. In einem Minderheitsvotum hatten zwei der beteiligten Verfassungsrichter selber festgestellt: "Die in diesem Verfahren begehrte Prüfung verläßt den Boden der klassischen verfassungsgerichtlichen Kontrolle."

Die Neufassung des Abtreibungsparagraphen war ein heiß diskutiertes Thema und ein zentraler Punkt der sozialliberalen Reformpolitik. Bisher wurde jede Frau mit Gefängnis oder Zuchthaus bestraft, wenn sie abgetrieben hatte, sogar wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung war. Dasselbe galt für die Beihilfe. Indessen wurde keine andere Strafandrohung so häufig ignoriert. In der Praxis richtete sich der berühmt-berüchtigte Paragraph 218 nur gegen Frauen, die weder Geld noch Beziehungen hatten, um ihn zu umgehen. Die Unionsparteien verdarben es sich deshalb vor allem mit weiblichen Wählern, als sie die Reformierung dieses weithin umstrittenen Paragraphen durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts stoppten und auch die daraufhin abgeschwächte Neufassung der Fristenregelung ein weiteres Mal über den Bundesrat zu blockieren versuchten. Am 21. Juni 1976 trat die "weitgefaßte Indikationenregelung" schließlich in Kraft.

Regierung darf Steuergelder nicht für Wahlwerbung verwenden

Eine positive Funktion erfüllte das Bundesverfassungsgericht indessen dort, wo es Regierung und Parteien auf die Finger klopfte, weil sie ihre Machtpositionen mißbrauchten. So hatten die Karlsruher Richter schon am 19. Juli 1965 die Umleitung von Steuergeldern in die Taschen der Parteien als angeblich zustehendes Honorar für deren "Wirken bei der politischen Willensbildung" für grundgesetzwidrig erklärt und nur den Ersatz der Wahlkampfkosten für zulässig gehalten (die FDP vertrat dagegen wie die CDU die Auffassung, daß diese Selbstbedienung der Parteien aus dem Steuersäckel rechtens sei). Nun folgte am 2. März 1977 ein weiteres Urteil, das der Bundesregierung untersagte, mit Steuergeldern Wahlwerbung zu treiben. Die Verwendung von Haushaltsmitteln für Regierungspropaganda wurde zwar nicht generell untersagt, aber doch an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Das Urteil kam aufgrund einer Organklage des CDU-Bundesvorstandes zustande, die den großzügigen Einsatz von Regierungsmaterialien im Bundestagswahlkampf 1976 beanstandet hatte.

Die DDR wird immer abhängiger und forciert die politisch-ideologische Abgrenzung

In der Deutschlandpolitik ging der "Wandel durch Annäherung" zügig voran. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der DDR von der BRD verstärkte sich weiter. 1978 erreichte der innerdeutsche Handel ein Volumen von 8,8 Milliarden Verrechnungseinheiten, wobei die DDR wie immer Mühe hatte, ihre Bezüge aus der BRD mit Lieferungen auszugleichen und mit 688 Millionen Verrechnungseinheiten in der Kreide stand. Beim Freikauf von Häftlingen, den es seit 1962 gab, erhielt die DDR pro Person mindestens 40000 Mark und kassierte so allein 1975 mehr als hundert Millionen Mark. Auch in vielfältiger anderer Weise, etwa durch die Einnahmen aus den Transitgebühren und dem Zwangsumtausch, war die DDR von der unvergleichlich potenteren BRD abhängig geworden. Mit der Einrichtung besonderer Läden ("Intershop"), in denen sonst nicht erhältliche Ware mit Westgeld gekauft werden konnte, erschloß sich das SED-Regime eine zusätzliche Devisenquelle - und trug so selber dazu bei, die D-Mark zur inoffiziellen "harten" Zweitwährung der DDR zu machen.

Zugleich war dem SED-Regime diese zunehmende Abhängigkeit nicht geheuer. SED-intern wurde die Parole ausgegeben, das sozialliberale Konzept des "Wandels durch Annäherung" bezwecke eine "Aggression auf Filzlatschen". Die SED glaubte, dem Dilemma entrinnen zu können, indem sie einen scharfen Kurs der politisch-ideologischen Abgrenzung verfolgte. Vor diesem Hintergrund wurde am 16. November 1976 dem Polit-Barden Wolf Biermann, als er sich zu einem Konzert in der BRD aufhielt, die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt. Dem Ostberliner ARD-Korrespondenten Lothar Loewe wurde seine Akkreditierung entzogen, weil er in der "Tagesschau" am 21. Dezember 1977 über die innere Situation der DDR ungeschminkt berichtet hatte: "Die Menschen in der DDR verspüren die politische Kursverschärfung ganz deutlich. Die Zahl der Verhaftungen aus politischen Gründen nimmt im ganzen Land zu. Ausreiseanträge von DDR-Bürgern werden immer häufiger in drohender Form abgelehnt. Hier in der DDR weiß jedes Kind, daß die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen."

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