Udo Leuschner / Geschichte der FDP (12)

7. Bundestag 1972 - 1976


Scheel wird Bundespräsident

Die sozialliberale Koalition geht gestärkt in eine weitere Legislaturperiode

Die Neuwahlen zum 7. Bundestag am 19. November 1972 bestätigten die Politik der sozialliberalen Koalition eindrucksvoll: Die FDP verbesserte sich von 5,8 auf 8,4 Prozent, die SPD von 42,7 auf 45,8 Prozent. Mit 230 Mandaten stellte die SPD erstmals die stärkste Fraktion im Parlament. Zusammen mit den 41 Mandaten der FDP ergab das einen Vorsprung von 46 Mandaten gegenüber der CDU/CSU. Die Zeit der hauchdünnen Mehrheiten und Patt-Situationen war zu Ende.

Wie aus einer Wahlanalyse des infas-Instituts hervorging, konnte die FDP vor allem in Großstädten beachtlich zulegen. Dabei erhielt sie erheblich mehr Zweit- als Erststimmen, während es bei der SPD umgekehrt war. Offenbar war dies ein Erfolg der Kampagne für das "Stimmensplitting", die aufgerufen hatte, die Erststimme dem Direktkandidaten der SPD und die Zweitstimme der FDP zu geben.

Die Wahlbeteiligung lag mit 91,2 Prozent so hoch wie noch bei keiner anderen Bundestagswahl. Zur Mobilisierung trugen hunderte von Wählerinitiativen bei, die sich für die Ostverträge und die sozialliberale Koalition engagierten. Zugunsten des Kanzlerkandidaten Willy Brandt wirkte sich auch aus, daß er am 10. Dezember 1971 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war. Dem Kandidat der Union, Rainer Barzel, fehlte eine vergleichbare Ausstrahlung. Nach dem mißlungenen Kanzlersturz vom 24. April desselben Jahres war Barzel nun ein zweites Mal gescheitert. "An diesen 19. November wird die CDU/CSU lange denken. Ihre Niederlage hat schon fast den Charakter eines demütigenden Desasters", schrieb die "Frankfurter Allgemeine".

Die Union bremst im Bundesrat

Ganz ohne Machtpositionen war die CDU/CSU indessen nicht. Über den Bundesrat, wo die unionsregierten Länder mit 21 gegen 20 Stimmen über eine knappe Mehrheit verfügten, konnte sie die Gesetzgebung der sozialliberalen Koalition zumindest behindern. Etwa den Grundlagenvertrag mit der DDR, den Vertrag mit der Tschechoslowakei, die Fristenregelung zur Abtreibung und die Polen-Verträge. Ab Februar 1976, als in Niedersachsen Ernst Albrecht an die Regierung kam, verfügte sie in der Länderkammer sogar über eine komfortable Mehrheit von 26 zu 15 Stimmen. Fortan konnte sie im Vermittlungsausschuß Gesetze blockieren. Sie nutzte diese Chance auch sofort, um das "Radikalen-Gesetz" zu verhindern, mit dem SPD und FDP die übelsten Auswüchse des seit1972 praktizierten "Radikalenerlasses" zurückzunehmen versuchten.

Zunehmend wurde auch das Bundesverfassungsgericht bemüht, um politische Streitfragen zu entscheiden. So klagte 1973 das Land Bayern gegen den Grundlagenvertrag, weil er eine unzulässige völkerrechtliche Anerkennung der DDR bedeute.

FDP erhält fünf Ministerposten

In dem neuen Kabinett von Willy Brandt bekam die FDP fünf Ressorts und damit zwei Ministerposten zusätzlich. Walter Scheel wurde wieder Außenminister und Stellvertreter des Bundeskanzlers. Hans-Dietrich Genscher übernahm erneut das Innenministerium, und Josef Ertl war wieder für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zuständig. Außerdem übernahm Hans Friderichs das Bundeswirtschaftsministerium (dessen zeitweilige Verbindung mit dem Finanzministerium wieder gelöst wurde) und Werner Maihofer wurde "Bundesminister für besondere Aufgaben". Als Parlamentarische Staatssekretär der FDP fungierten Karl Moersch (Äußeres), Gerhart Rudolf Baum und Kurt Jung (beide Inneres), Martin Grüner (Wirtschaft) und Fritz Logemann (Ernährung).

Rudolf Augstein gibt sein Bundestagsmandat zurück

Über die Landesliste Nordrhein-Westfalen war auch der "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein in den Bundestag gelangt, der in Paderborn - dem Wahlkreis von Rainer Barzel - für die FDP kandidiert hatte. Augstein legte sein Mandat aber schon am 17. Januar 1973 nieder. Er begründete dies mit der Notwendigkeit seiner Anwesenheit in der Chefredaktion, nachdem Günter Gaus - einer der beiden Chefredakteure des "Spiegel" - sein Ausscheiden angekündigt hatte, um die Leitung der im Grundlagenvertrag mit der DDR vereinbarten "Ständigen Vertretung" in Ostberlin zu übernehmen.

Ursprünglich wollte Augstein sogar Fraktionsvorsitzender der FDP werden. Wie Günter Gaus kurz nach Augsteins Tod im Jahr 2002 berichtete, offenbarte der "Spiegel"-Herausgeber seine politischen Ambitionen bei einem Gespräch, das im Sommer 1972 in Scheels Ferienhaus in Österreich stattfand: "Walter, ich will für die FDP in den Bundestag, ich kandidiere." Der FDP-Vorsitzende sei hellauf begeistert gewesen, einen finanziell und politisch so potenten Verbündeten in den Reihen der eigenen Abgeordneten zu sehen. Dann habe es ihm aber doch kurz die Sprache verschlagen, als Augstein nachlegte: "Und ich will Fraktionsvorsitzender werden." - Daß ein politischer Neuling den bewährten Wolfgang Mischnick vom Fraktionsvorsitz verdrängen könnte, war auch in der Partei der "Senkrechtstarter" nicht so ohne weiteres vorstellbar. Im Unterschied zu Augstein war Scheel aber ein echter Politiker. Er redete deshalb dem "Spiegel"-Herausgeber das Vorhaben nicht aus, sondern meinte, daß es sich trotz aller Schwierigkeiten verwirklichen lassen werde.

Bei dem Gespräch in Scheels Ferienhaus verfiel man bereits auf den Gag, Augstein in einem besonders "schwarzen" Wahlkreis antreten zu lassen. Für den Wahlerfolg spielte das keine Rolle, da die FDP nirgendwo Aussichten auf ein Direktmandat hatte und das Mandat des "Spiegel"-Herausgebers in jedem Fall über die Landesliste abgesichert sein mußte. Augstein bereitete daraufhin seinen Einzug in die Politik vor. Seine Position als Herausgeber des "Spiegel" erklärte er für ruhend. Um die Kontinuität der Chefredaktion zu gewährleisten, ließ er Gaus einen Scheck mit einer sechsstelligen Summe zukommen, den dieser nur einlösen konnte, wenn er am 1. Januar 1974 noch Chefredakteur des "Spiegel" war. Denn Gaus galt als Kandidat fürs Amt des Regierungssprechers, falls die sozialliberale Koalition die Wahlen gewinnen sollte.

Nach den Wahlen merkte Augstein aber schnell, daß er als "Spiegel"-Herausgeber weit mehr politischen Einfluß entfalten konnte als innerhalb der FDP-Fraktion. Es begann damit, daß Mischnick als Fraktionsvorsitzender bestätigt wurde. Sogar als Stellvertreter hatten Karl-Hermann Flach und Lambsdorff die besseren Karten. Für Augstein wäre allenfalls so etwas wie der "Staatsminister im Auswärtigen Amt" übrig geblieben. Schon wenige Wochen nach der Bundestagswahl war der Journalist von seinem Ausflug in die Bonner Politik tief enttäuscht. Er war deshalb geradezu erleichtert, als Günter Gaus, den er eigentlich als Chefredakteur an den "Spiegel" binden wollte, das Angebot von Willy Brandt annahm, erster Botschafter der Bundesrepublik in der DDR zu werden. Denn so bekam er selber einen Anlaß, sein Bundestagsmandat niederzulegen und als Herausgeber zum "Spiegel" zurückzukehren.

Streit um Grundlagenvertrag mit der DDR

Noch kurz vor den Wahlen hatte die Bundesregierung den Grundlagenvertrag mit der DDR paraphiert, der zahlreiche menschliche Erleichterungen im Verhältnis der beiden deutschen Staaten ermöglichte. Die Union befürchtete indessen eine völkerrechtliche Anerkennung des zweiten deutschen Staats. Ihr Kanzlerkandidat Rainer Barzel hatte vor den Wahlen erklärt, daß die Paraphierung eine künftige Bundesregierung nicht binden werde. Das Wahlergebnis war damit zugleich ein Plebiszit zugunsten des Grundlagenvertrags. Er wurde am 21. Dezember endgültig unterzeichnet und am 11. Mai 1973 vom Bundestag ratifiziert. Auch im Bundesrat mußten die unionsregierten Länder am Ende klein beigeben.

Die CSU-Landesregierung von Bayern sperrte sich allerdings weiter gegen den Grundlagenvertrag. Sie wollte durch das Bundesverfassungsgericht klären lassen, ob er eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR bedeute, und beantragte eine einstweilige Verfügung gegen das Inkrafttreten. Das Gericht lehnte den Erlaß einer einstweiligen Verfügung am 5. Juni 1973 einstimmig ab, so daß der Bundespräsident Heinemann den Vertrag unterzeichnen konnte. Am 31. Juli 1973 wies es auch die Normenkontrollklage Bayerns zurück. Diese Zurückweisung war aber gespickt mit grundsätzlichen Ausführungen über das Verhältnis beider deutscher Staaten zueinander, die von den Gegnern des Grundlagenvertrags mit Genugtuung aufgenommen wurden. Das Gericht befand nämlich, daß die Gefahr einer völkerrechtliche Anerkennung der DDR nicht gegeben sei, weil die Bundesrepublik die DDR gar nicht völkerrechtlich anerkennen könne. Der Grundlagenvertrag sei ein Vertrag "zwischen zwei Staaten, die Teile eines noch immer existierenden, wenn auch handlungsunfähigen, weil noch nicht reorganisierten umfassenden Staates Gesamtdeutschland mit einem einheitlichen Staatsvolk sind". Im Klartext: Das Deutsche Reich existiert weiter und umfaßt auch die DDR, aber es ist derzeit als Gesamtdeutschland handlungsunfähig, weil nur die Bundesrepublik beanspruchen kann, seine legitime Fortsetzung zu sein.

Scheel löst Heinemann ab

Im November 1973 gab Gustav Heinemann bekannt, daß er nicht für eine zweite Amtszeit als Bundespräsident kandidieren werde (er hätte sie auch nicht überlebt, denn er starb am 7. Juli 1976). Darauf nominierte die FDP in Absprache mit der SPD ihren Parteivorsitzenden Walter Scheel als Nachfolger. Im Frühjahr 1974 einigte sich die Union auf Richard von Weizsäcker als Gegenkandidaten. Am 15. Mai 1974 wurde Walter Scheel mit 550 von 1033 Stimmen der Bundesversammlung gewählt. Weizsäcker bekam 498 Stimmen.

Brandt tritt wegen der Affäre Guillaume zurück

Der Wechsel Scheels vom Außenminister und Stellvertreter des Bundeskanzlers ins Amt des Bundespräsidenten hätte eine Regierungsumbildung erforderlich gemacht. Noch vor der Bundespräsidentenwahl kam es aber zu einem Ereignis, das die Bundesregierung viel kräftiger durcheinanderwirbelte: Am 24. April 1974 wurde ein enger Mitarbeiter des Bundeskanzlers Willy Brandt als Spion verhaftet: Der angebliche DDR-Flüchtling Günter Guillaume, der sich in der SPD zielstrebig hochgearbeitet hatte, entpuppte sich als eingeschleuster Offizier der DDR-"Staatssicherheit". Willy Brandt erklärte daraufhin am 6. Mai 1974 seinen Rücktritt als Bundeskanzler. Am nächsten Tage händigte Bundespräsident Heinemann sämtlichen Mitgliedern des Kabinetts die Entlassungsurkunden aus.

Genscher wird Außen- und Maihofer Innenminister

Am 16. Mai 1974 wählte der Bundestag mit den Stimmen der Koalition den bisherigen Bundesfinanzminister Helmut Schmidt (SPD) zum Bundeskanzler. In dem neuen Kabinett Schmidt behielt die FDP die vier Ressorts Äußeres, Inneres, Wirtschaft und Ernährung. Die freigewordene Stelle des Außenministers übernahm nun aber Genscher, während Maihofer anstelle von Genscher das Innenministerium übernahm. Die Zahl der Minister reduzierte sich dadurch auf vier. Da am Vortag zum zweitenmal ein FDP-Politiker die Würde des Bundespräsidenten erlangt hatte, ließ sich dies aber gewiß verschmerzen. Auch die Aufgaben des Parteivorsitzenden übernahm nun Genscher. Von den parlamentarischen Staatssekretären der FDP wechselte Kurt Jung vom Innenministerium ins Ressort des Bundespostministers Kurt Gscheidle (SPD).

Bangemann muß als Generalsekretär zurücktreten

Die FDP hatte sich inzwischen vollkommen auf die SPD als Koalitionspartner ausgerichtet und wollte - wohl auch mit Blick auf die Leihstimmen von SPD-Wählern - keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß sie das Bündnis nach den nächsten Bundestagswahlen fortsetzen werde. Es irritierte deshalb, als der FDP-Generalsekretär Martin Bangemann verschiedentlich erklärte, die Partei werde erst nach der Wahl über Koalitionsmöglichkeiten entscheiden. Bangemann versuchte sich damit herauszureden, er habe nur die Situation in Baden-Württemberg gemeint. Dann ließ er sich aber von Genscher überzeugen, daß es besser sei, wenn er seinen Rücktritt erkläre, zumal auch seine Amtsführung als Generalsekretär umstritten war. Am 3. Oktober 1975 stellte Bangemann sein Amt zur Verfügung.

Der gelernte Rechtsanwalt Bangemann gehörte zu den "Senkrechtstartern" in der FDP. Zunächst hatte er sich innerhalb des Landesverbands Baden-Württemberg als Linksliberaler und als Verteidiger von Angeklagten aus den Reihen der "außerparlamentarischen Opposition" profiliert. Er saß seit 1972 im Bundestag, amtierte von 1974 bis 1978 als Vorsitzender der FDP Baden-Württembergs und wurde am 4. Oktober 1974 mit 291 gegen 60 Stimmen bei 24 Enthaltungen als Nachfolger des verstorbenen Karl Hermann Flach zum FDP-Generalsekretär gewählt. Bangemann erwarb sich dann aber schnell den Ruf, ein Vertreter des rechten Parteiflügels mit ausgeprägtem Sinn für Pfründen und schwach entwickeltem Arbeitseifer zu sein. Daß er vom Amt des Generalsekretärs zurücktreten mußte, bremste seine Karriere nur vorläufig.

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