Mai 1996

960502

ENERGIE-CHRONIK


Schwere Krawalle und weitere Anschläge beim "Castor"-Transport nach Gorleben

Der erste Bahntransport eines "Castor"-ähnlichen Spezialbehälters mit hochradioaktiven Abfällen aus der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague überquerte am 7.5. die Grenze bei Lauterbourg und traf am folgenden Tag im Zwischenlager Gorleben ein. Schon kurz hinter Darmstadt blockierten Demonstranten die Schienen und mußten von Polizisten weggetragen werden. Die weitere Fahrt wurde von mehreren Bombendrohungen begleitet. Im Hildesheimer Bahnhof steckten Unbekannte vier Bahnschwellen in Brand. In Bielefeld wurden sechs Kernkraftgegner beim Verbarrikadieren einer Bahnstrecke festgenommen. Auf den letzten Kilometern, die der Transport auf der Straße zurücklegte, kam er nur im Schritttempo voran. Ein Großaufgebot von mehreren tausend Polizisten mußte immer wieder Sitzblockaden von Demonstranten und brennende Barrikaden aus dem Weg räumen. Dabei waren die Beamten einem ständigen Beschuß mit Steinen, Zwillen und Signalmunition augesetzt. Für die zwanzig Kilometer lange Strecke vom Bahnhof Dannenberg nach Gorleben benötigte der Transport deshalb sechs Stunden. Rund dreißig Protestierer wurden festgenommen. Zahlreiche Demonstranten und Polizisten erlitten bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen zum Teil erhebliche Verletzungen. Für den Schutz des Transports wurden bundesweit rund 15 000 Polizisten aufgeboten, davon allein 9 000 in Niedersachsen. An den Protesten beteiligten sich rund 8 000 Kernkraftgegner (FAZ, 9.5.; Hannoversche Allgemeine, 9.5.; Welt, 25.5.).

In den Tagen vor dem Transport hatte sich die Serie von Anschlägen auf Bahnanlagen und sonstigen Straftaten (siehe 960409) fortgesetzt. Am 1.5. sägten Unbekannte einen Strommasten um, der vier Oberleitungen zerstörte und damit den Bahnverkehr auf den Strecken Hannover-Bremen und Hannover-Ruhrgebiet zeitweilig völlig zum Erliegen brachte. Am 3.5. kam es zu weiteren Anschlägen auf Bahnstrecken in Niedersachsen und Brandenburg. In Anrufen bei Rundfunksendern drohten Kernkraftgegner, auf der Strecke Helmstedt-Hannover im Viertelstunden-Takt Sprengsätze hochgehen zu lassen. In der Nacht zum 6.5. wurden Polizisten von 300 meist vermummten und mit Holzstangen bewaffneten Kernkraftgegnern angegriffen, als sie versuchten, eine Blockade der Bahnstrecke zwischen Lüchow und Dannenberg aufzulösen (Hannoversche Allgemeine, 2.5. u. 4.5.; DPA, 3.5. u. 6.5.).

Während Vertreter von Bundesregierung und Koalition einem gewalttätigen Kern von Demonstranten die Schuld an den Ausschreitungen gaben, kritisierten Oppositionspolitiker den Transport und das Vorgehen der Polizei. Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) versah eine polemisierende Presseerklärung zu den Vorfällen mit der Überschrift: "Prätorianergarden der Atomwirtschaft prügeln strahlende Abfälle hemmungsloser Geldproduktion nach Gorleben durch".

"Gorleben gilt den Demonstranten als Symbol für die Kernenergie-Politik der Bundesregierung"

Für die Süddeutsche Zeitung (10.5.) ist nach dieser "Schlacht um Gorleben" offenbar geworden, wie verantwortungslos die "Hardliner auf allen Seiten" gehandelt hätten, als sie vor einem knappen Jahr die schon weit gediehenen Gespräche über einen Energiekonsens platzen ließen: "Ein Land, das ohnehin genug zerrissen ist, zwischen Ost und West, Reich und Arm, Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, kann vieles brauchen, nur nicht einen weiteren Konflikt, den am Ende keiner gewinnen kann. Und der nicht zuletzt deshalb so erbittert geführt wird, weil beide Seiten im Recht sind."

Für die Frankfurter Rundschau (9.5.) sind die "Castor"-Transporte nach Gorleben bedauerlicherweise "geradezu geschaffen für all die miesen Berufschaoten und Schläger, sich endlich an der Staatsmacht abarbeiten zu können. Und die zu Recht besorgten und protestierenden Bürger kommen mit unter den Knüppel."

Ein Kommentator der Zeit (17.5.) meinte: "Es ist nicht die Pflicht des Volkes, seinen Frieden mit der Atomwirtschaft zu deren Bedingungen zu schließen. Vielmehr muß die Kernenergie-Gemeinde begreifen, daß die Mehrheit nicht auf Dauer mit der Kernenergie leben will."

Die Welt (9.5.) stellte demgegenüber fest: "Es ist legitim, gegen die Kernkraft zu sein, ja zu 'kämpfen'. Aber es gibt nicht das Recht, mit Gewalt und Nötigung demokratische Entscheidungen umzubiegen. Deshalb muß sich der Rechtsstaat in Gorleben durchsetzen."

Nach Ansicht des Handelsblatts (9.5.) trifft auch den friedlichen Großteil der Demonstranten eine Mitschuld an den Ausschreitungen: "Wer ist dafür verantwortlich? Alle, die keine klare Grenze zu Kriminellen ziehen, die ihnen im Gegenteil als Kulisse oder Rückzugsmasse dienen, die so eine Strafverfolgung erschweren oder verhindern. Alle, die in aggressiven Aufrufen Verständnis für Rechtsbruch äußern und ihn auf diese Weise anfeuern."

Für die Stuttgarter Zeitung (9.5.) prägt sich in der Haltung der Kernkraftgegner "eine elitäre Moral aus, die, wie Gorleben jetzt wieder gezeigt hat, auch vor elitärer Gewalt nicht zurückschreckt".

Für die Berliner Zeitung (9.5.) hat das "Symbol Gorleben" durch die gewalttätigen Konfrontationen der vergangenen Tage weiter an Kraft gewonnen: "Es geht längst nicht mehr nur um den jeweiligen Atommüllbehälter. Auch dem hartnäckigsten Bürgerinitiativler ist klar, daß die Transporte nicht zu verhindern sind. Gorleben steht gegen die Energiepolitik der Bundesregierung, die weiter - scheinbar unbeirrt - auf Kernkraft setzt."