Oktober 1992

921010

ENERGIE-CHRONIK


Scharfe Kritik an Wiederinbetriebnahme von Reaktorblöcken in Tschernobyl

Die Wiederinbetriebnahme des dritten Blocks im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl ist in Westeuropa auf scharfe Kritik gestoßen. Sie war zunächst für den 16.10. geplant, mußte dann aber wegen "technischer Probleme" um einige Tage verschoben werden. In Kürze soll ein weiterer Block neben dem 1986 explodierten Reaktor wieder ans Netz gehen. Das Verhalten der Ukraine wurde in einer Bundestagsdebatte über die Sicherheit der osteuropäischen Reaktoren von allen Parteien verurteilt. SPD und Grüne warnten dabei vor einer falschen Weichenstellung durch die weitere Förderung der Kernkraft in Osteuropa. Der EG-Kommissar für Umweltpolitik, Karel van Miert, erklärte ebenfalls, daß die Wiederinbetriebnahme des Reaktors ganz Europa bedrohe. Er zog daraus die Schlußfolgerung, daß der Westen seine technische Hilfe für die Erhöhung der Sicherheit der Kernkraftwerke in Osteuropa beschleunigen müsse (FR,17.10.; SZ, 20.10.; siehe auch 920902).

"Tanz auf dem Vulkan"

In den Medien wurde die Wiederinbetriebnahme der Tschernobyl-Blöcke einhellig mit Wertungen wie "Pulverfaß" und "Tanz auf dem Vulkan" verurteilt. Allerdings gab es unterschiedliche Akzentuierungen, was die Mitverantwortung des Westens betrifft. Die Welt (20.10.) warnte: "Ein neuer Unfall würde unabsehbares Unheil auslösen und das Aus für die deutschen Kernkraftwerke mit einem Milliarden-Gau für die Volkswirtschaft bedeuten. Bis Ende des Jahres führt Bonn den Vorsitz in der G-7-Arbeitsgruppe. Bis dahin muß die Zündschnur am größten Pulverfaß der Welt ausgetreten werden."

Die Frankfurter Rundschau (28.10.) kritisierte in diesem Zusammenhang den österreichischen Stromvertrag mit der Ukraine sowie deutsche Lieferungen für Ost-Reaktoren: "Nicht einmal die nahen Nachbarn auf dem Kontinent scheint das Ticken zu stören. Aus dem Schlaf des Gerechten läßt sich die österreichische Regierung nicht aufwecken; die nämlich bezieht über das Verbundnetz tatsächlich ukrainischen Atomstrom für ihr gemäß Volksabstimmung atomfreies Land. Auch die sonst gewissenhaften Bonner Atomaufseher finden gar nichts dabei, mit Ersatzteilen und Brennstäben aus dem Greifswalder Atomkonkurs die Ost-Nuklearkraft in Schwung zu halten."

die tageszeitung (15.10.) meinte sarkastisch: "Hei, was ëne Gaudi. Der Sensenmann und seine Combo spielen zum Tanz auf. In Tschernobyl geht morgen einer der vier Katastrophenreaktoren wieder ans Netz und hält die Welt in Atem. Schwindelig dürfte bei dem Tanz auf dem Vulkan sogar der westeuropäischen Atomindustrie werden. Die Ukrainer fordern sie barsch zu einer Polka auf, bei der den Atom-Wessis am Ende leicht die Luft ausgehen kann. Sie wissen, den nächsten großen Ausbruch überleben sie nicht. ... Die Inbetriebnahme von Tschernobyl hat nichts mit dem Energienotstand im Osten zu tun. Der forsche Partner beim ball nucléaire, die Atommafia aus der Ukraine, rechtfertigt die Inbetriebnahme des Meilers vielmehr ganz unverhüllt mit dem Strom, den seine neue Republik nach Österreich liefern muß - zur Bezahlung von Atomtechnik-Importen. Die Zwillingsschwester der Atomindustrie, die westliche Strommafia, hat den Tanz selbstlos abgetreten."