Februar 2018

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


Netzreserve - Kapazitätsreserve - Sicherheitsbereitschaft - Netzstabilitätsanlagen

Im Energiewirtschaftsgesetz findet man inzwischen vier unterschiedliche Arten von Kraftwerksreserven

 

Die EU-Kommission hat nach anfänglichen Bedenken am 7. Februar auch die "Kapazitätsreserve" gebilligt, die mit dem 2016 beschlossenen Strommarktgesetz geschaffen wurde. Damit findet man im Energiewirtschaftsgesetz inzwischen vier verschiedene Arten von Kraftwerksreserven, derer sich die Übertragungsnetzbetreiber bedienen können, um einen Stromausfall abzuwenden. Sie klingen zum Teil sehr ähnlich und können leicht verwechselt werden. Hinsichtlich der Tauglichkeit dieser Instrumente gibt es allerdings große Unterschiede. Die vierjährige "Sicherheitsbereitschaft" von acht Braunkohle-Blöcken wurde sogar nur erfunden, um den Betreibern eine Art Abwrackprämie zu Lasten der Stromverbraucher spendieren zu können. Zum besseren Verständnis der Unterschiede werden im folgenden alle vier Arten inklusive einiger Hintergründe ihres Zustandekommens vorgestellt.

 

Für das aktuelle Winterhalbjahr 2017/2018 haben die Netzbetreiber eine Netzreserve von 10.400 MW für notwendig gehalten. Das war soviel wie noch nie. Im kommenden Jahr dürfte der Bedarf deutlich geringer sein, weil mit der Auflösung der deutsch-österreichischen Stromhandelszone die Netzengpässe entlastet werden.    Im Winter 2015/ 2016 mußten die Netzbetreiber eine Reservekraftwerksleistung von 7.500 MW vorhalten. Wie diese Grafik zeigt, wurde diese Reserve von Oktober bis April an 93 Tagen mit insgesamt 1.220.212 Megawattstunden in Anspruch genommen, und zwar hauptsächlich in den Monaten Dezember, Januar und Februar.

(1) Die "Netzreserve" nach § 13d EnWG

Ihr Vorläufer war die am 12. Juni 2013 erlassene Reservekraftwerksverordnung (ResKV). Die Bundesregierung nutzte damit eine der Ermächtigungen, die ihr durch das Ende 2012 beschlossene "Dritte Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftlicher Vorschriften" eingeräumt wurden (121103). Auf Basis der neu in das Energiewirtschaftsgesetz eingefügten §§ 13a und 13b untersagte die Verordnung die Stillegung von Kraftwerken, die von der Bundesnetzagentur als "systemrelevant" zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit eingestuft werden, und regelte die Einzelheiten zur Vorhaltung einer entsprechenden "Netzreserve" (130605).

Den Anstoß gab die Sondervereinbarung zum Gaskraftwerk Irsching

Im wesentlichen sollte die Verordnung die Stillegung von Gaskraftwerken verhindern, deren Rentabilität wegen der zunehmende Einspeisung von Wind- und Solarstrom zu den Zeiten des höchsten Strombedarfs stark gesunken ist, die aber dennoch weiterhin bereitstehen müssen, um von Fall zu Fall die fluktuierende Erzeugung aus erneuerbaren Stromquellen ausgleichen zu können. Der Konflikt zwischen dem privatwirtschaftlichem Kalkül der Kraftwerksbetreiber und dem übergeordneten Interesse der Allgemeinheit an einem sicheren Netzbetrieb hat sich vor allem in Süddeutschland zugespitzt. Schon im April dieses Jahres kam es deshalb zwischen den Eigentümern des Gaskraftwerks Irsching, der Bundesnetzagentur und dem Netzbetreiber TenneT zu einer Sondervereinbarung, die den Weiterbetrieb dieser Anlage sicherte (130418).

Ende 2014 wurden die ersten Netzreserveverträge unterzeichnet

Die Verordnung erweiterte den Kompetenzbereich der Bundesnetzagentur noch mehr. Schon bisher verfügte die Behörde über weitreichende Möglichkeiten zur Steuerung der vorhandenen Kraftwerkskapazitäten per "Redispatch" (121109). Nun wurde sie auch noch zur Bildung einer vertraglich abgesicherten Netzreserve ermächtigt (§ 1). Voraussetzung war, daß andernfalls "örtliche Ausfälle des Übertragungsnetzes oder kurzfristige Netzengpässe zu besorgen sind oder zu besorgen ist, daß die Haltung von Frequenz, Spannung oder Stabilität durch die Übertragungsnetzbetreiber nicht im erforderlichen Maße gewährleistet werden kann" (§ 2). Die ersten Netzreserveverträge wurden Ende 2014 unterzeichnet (141219).

Seit 2016 gilt die Verordnung unbefristet und ist im Energiewirtschaftsgesetz verankert

Die Reservekraftewerksverordnung sollte zunächst Ende 2017 auslaufen. Sie wurde dann aber durch das "Strommarktgesetz" vom Juni 2016 (160604) geändert, in Netzreserveordnung (NetzResV) umbenannt und gilt seitdem unbefristet (170508). Zugleich wurde im Energiewirtschaftsgesetz mit § 13d ein spezieller Paragraph zur "Netzreserve" eingeführt. Er nimmt auf die Verordnung Bezug, definiert die Voraussetzungen für in Frage kommende Anlagen und läßt deren Betreiber auch an dem Verfahren zur Beschaffung der "Kapazitätsreserve" (siehe unten) teilnehmen.

Im ersten Winterhalbjahr 2013/2014 wurde die Reserve überhaupt nicht benötigt

In ihrem Bericht zur Feststellung des Reservekraftwerksbedarfs für den Winter 2014/2015 räumte die Bundesnetzagentur ein, daß im zurückliegenden Winter 2013/2014 keine der angenommenen Risiko-Situationen (Starkwindszenario, Gasknappheitsszenario, Schwachwindszenario) eingetreten ist. Die vorgesehene Netzreserve von 2.500 MW mußte deshalb kein einziges Mal in Anspruch genommen werden. Schon gar nicht wurden Notfallmaßnahmen nach § 13 Abs. 2 EnWG im Übertragungsnetz erforderlich; vielmehr fanden alle erforderlichen Anpassungen von Stromeinspeisungen, Stromtransiten und Stromabnahmen im Rahmen der normalen, marktbasierten und vertraglich abgesprochenen Maßnahmen gemäß § 13 Abs. 1 EnWG statt. Die Bundesnetzagentur warnt aber davor, daraus den Schluß zu ziehen, die Netzreserve sei entbehrlich gewesen. Die günstige Netzsituation sei nur dem extrem milden Winter zu verdanken gewesen (140503).

Ab 2015 traten wiederholt kritische Situationen auf

Tatsächlich mußte die Netzreserve im Frühjahr 2015 gleich zweimal eingesetzt werden: Am 16. März erforderte eine hohe Windstromeinspeisung in der Regelzone von 50Hertz die Mobilisierung einer Leistung von knapp 1.600 MW. Eine zweite kritische Situation mit hoher Windstromeinspeisung entstand zwischen dem 30. März und dem 2. April durch das Orkantief Niklas. Hier wurden Netzreserven mit einer maximalen Gesamtleistung von 4.369 MW erforderlich (151201).

Im November 2015 gab es eine ungewöhnliche starke Windstromerzeugung, wofür vor allem die Sturmtiefs "Heini" und "Iwan" sorgten. Da die Windkraftkapazitäten hauptsächlich im Norden Deutschlands angesiedelt sind, strapazierte der Stromtransport die in Richtung Süddeutschland bzw. Österreich bestehenden Engpässe, die bereits von der EU-Regulierungsbehörde beanstandet wurden (150907). Zusätzlich zum üblichen "Redispatch" (121109) aktivierten die Übertragungsnetzbetreiber deshalb erstmals die für den bevorstehenden Winter vorgesehene Netzreserve – sechs Wochen früher als im Vorjahr, als erst kurz vor Weihnachten eine derart kritische Situation eintrat (150505). Vom 9. bis 19. November kam die Netzreserve täglich zum Einsatz. Mit jeweils acht Tagen waren der erdgasbetriebene Block 4 des Kraftwerks Staudinger (130802) sowie der Block 5 des Gaskraftwerks Irsching (130418) am längsten am Netz (Irsching 5 fiel offiziell nicht unter die Reservekraftwerksverordnung, diente aber faktisch demselben Zweck). Das Reservekraftwerk Irsching 3 war zwei Tage in Betrieb, die Reservekraftwerke Heilbronn und Walheim (140106) jeweils einen Tag.

Im Winterhalbjahr 2017/2018 erreichte der Reservebedarf mit 10.400 MW einen vorläufigen Höchststand

Bei der Prüfung des Reservekraftwerksbedarfs für den Winter 2015/16 stellte die Bundesnetzagentur fest, daß fast doppelt soviel konventionelle Kraftwerksleistung vorgehalten werden müsse wie für den kommenden Winter. Insgesamt sei eine Leistung von 4.800 MW erforderlich. Gründe für den erhöhten Bedarf seien eine weitere Verschiebung der Erzeugung in den Norden und die Abschaltung des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld Ende 2015. Zudem werde in den Szenarien für den Winter 2015/16 vorsichtshalber mit eine Verzögerung von wichtigen Netzprojekten wie der "Thüringer Strombrücke" (130703) gerechnet (130604).

Im Frühjahr 2017 bestätigte die Bundesnetzagentur für das kommende Winterhalbjahr einen Bedarf von 10.400 MW Netzreserve, den die Übertragungsnetzbetreiber angemeldet hatten. Zum ersten Mal seit dem Erlaß der "Reservekraftwerksverordnung" überschritt er damit die Grenze von 10.000 MW. Die Übertragungsnetzbetreiber verfügten bereits über 8.800 MW an gesicherter Leistung, so dass ein Defizit von zwölf Prozent verblieb. Davon stammten 5.700 MW aus deutschen Kraftwerken, die von ihren Betreibern zur Stillegung angemeldet wurden, aber als "systemrelevant" gelten und deshalb auf Anordnung der Bundesnetzagentur als Reservekraftwerke weiterhin vorgehalten werden müssen. Hinzu kamen 3.100 MW aus ausländischen Kraftwerken, mit denen entsprechende Verträge bestehen. Die Beschaffung der restlichen 1.600 MW sollte durch weitere Verträge mit ausländischen Unternehmen erfolgen. In der Praxis sind das hauptsächlich österreichische Kraftwerke. Diese sind aufgrund ihrer Lage am besten geeignet, die Netzengpässe zu entlasten, die durch die hohen Exporte von norddeutschem Windstrom nach Österreich entstehen. (170508)

Engpaß-Bewirtschaftung an Grenze zu Österreich bringt dringend benötigte Entlastung

Ein weiterer Anstieg des Netzreservebedarfs ist vorläufig nicht in Sicht. Im Gegenteil: Für das Jahr 2018/2019 wird sogar ein deutliches Absinken auf 3.700 Megawatt erwartet. Der Bedarf kann dann vollständig aus den zu diesem Zeitpunkt vorhandenen inländischen Netzreservekapazitäten in Höhe von 6.600 Megawatt gedeckt werden. Für den Winter 2019/20 rechnen die Übertragungsnetzbetreiber sogar mit nur noch 1.600 MW. Dieser Rückgang ergibt sich aus dem Engpaßmanagement an der Grenze zu Österreich, das zum 1. Oktober 2018 eingeführt wird (170501).

Allerdings könnte sich ab 2021der Bedarf wieder erhöhen: Im süddeutschen Raum entfallen dann mit der Abschaltung von Gundremmingen C (Ende 2021) sowie von Isar 2 und Neckarwestheim 2 (Ende 2022) gleich drei Kernkraftwerke mit einer Leistung von 3.800 MW. Mit der Fertigstellung der geplanten HGÜ-Strombrücken zwischen dem Norden und dem Süden Deutschlands ist aber erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zu rechnen (170302).

 

Die Netzreserve besteht größtenteils aus Kohle- und Gaskraftwerken, die zur Stillegung vorgesehen sind, wegen ihrer "Systemrelevanz" aber am Netz bleiben müssen. Ende 2017 durften insgesamt 6825 MW Kraftwerksleistung nicht stillgelegt werden und waren damit prädestiniert für den Abschluß von Netzreserve-Verträgen.

 

Derzeit gelten 27 Blöcke mit 6.825 MW als "systemrelevant"

Schon seit 2013 sind die Kraftwerksbetreiber durch § 13b EnWG verpflichtet, die vorläufige oder endgültige Stillegung von Kapazitäten mit mehr als 10 MW mindestens zwölf Monate vorher der Bundesnetzagentur zu melden. Diese entscheidet dann in Absprache mit den zuständigen Übertragungsnetzbetreibern, ob auf das jeweilige Kraftwerk tatsächlich verzichtet werden kann oder ob es "systemrelevant" für die Aufrechterhaltung der Versorgungsicherheit ist und deshalb am Netz bleiben muß. Die erste "Kraftwerksstilllegungsanzeigenliste" (KWSAL) veröffentlichte die Bundesnetzagentur Anfang 2014 mit 37 Kohle- und Gasblöcken, von denen fünf als systemrelevant eingestuft wurden (140106). Die gesetzlich verfügte Stillegung von 17 Kernkraftwerken (110601) und acht Braunkohle-Kraftwerken (151005) bleibt dabei außer Betracht.

Nach jüngsten Angaben der Bundesnetzagentur (November 2017) wurde bisher für 95 Kraftwerksblöcke mit einer Netto-Nennleistung von 20.493 MW die endgültige oder vorläufige bzw. saisonale Stillegung beantragt. Für 27 Blöcke mit einer Kapazität von 6.825 MW hat die Behörde die Stillegung jedoch nicht genehmigt, weil sie von den Übertragungsnetzbetreibern als systemrelevant eingestuft wurden. Diese Kraftwerke sind prädestiniert für den Abschluß eines Netzreserve-Vertrags. Sie stellen den Großteil jener "gesicherten Leistung" für das Winterhalbjahr, die dann je nach Bedarfsschätzung durch den Abschluß weiterer Netzreserve-Verträge mit anderen Betreibern ergänzt wird.

Systemrelevante Kraftwerke liegen fast ausschließlich in Süddeutschland

Anfang 2017 enthielt die KWSAL insgesamt 88 Blöcke mit einer Leistung von 19.196,5 MW. Davon durfte man allerdings schon mal getrost das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld mit 1.274 MW abziehen, das nur deshalb auf die Liste geriet, weil E.ON seine Stillegung ein halbes Jahr vor dem gesetzlich festgelegten Termin beantragt und genehmigt bekommen hatte (150606). Nach Abzug der ölbefeuerten Anlagen mit 1.668 MW verblieben im wesentlichen noch 73 Gas- und Kohleblöcke mit 8.330 MW bzw. 5.795 MW. Bei 17 stand dabei "geplant vorläufig", bei 30 "geplant endgültig" und bei 26 "endgültig stillgelegt". (Siehe Grafik)

Insgesamt neun der "vorläufig" und 13 der "endgültig" geplanten Stillegungen waren mit einem Häkchen versehen, das ihre Systemrelevanz signalisierte. Diese 22 Blöcke mußten also bis auf weiteres als Reservekraftwerke vorgehalten werden. Mit Ausnahme des Vattenfall-Gasturbinenkraftwerks Thyrow, das vorerst noch als "Schwarzstartreserve" für das Braunkohlekraftwerk Jänschwalde benötigt wurde, befanden sich diese Kraftwerke durchweg im Süden Deutschlands. Sie verfügten über eine Leistung von insgesamt 6.470 MW. Der größte Teil dieser Kapazität entfielt auf fünf Anlagen der Uniper (2.313 MW), acht Anlagen der Energie Baden-Württemberg (1.271 MW) und zwei Anlagen der Steag (1.377 MW). Weitere betroffene Kraftwerkseigentümer waren die Kraftwerke Mainz-Wiesbaden, der Papierhersteller UPM, die Darmstädter Entega, die Frankfurter Mainova, die Nürnberger N-Ergie und die Stadtwerke Augsburg (170508).

 

 

Während die Netzreserve vor allem den Weiterbetrieb von systemrelevanten Gaskraftwerken ermöglichen soll, zielt die Kapazitätsreserve auf den Abbau von Kohle-Kapazitäten. Diese Grafik zeigt die Anteile, die beide Kraftwerkstypen im Februar 2017 an der Gesamtkapazität von 19.196 MW hatten, die bis dahin zur Stillegung angemeldet wurde.

 

(2) Die "Kapazitätsreserve" nach § 13e EnWG

Im später kodifizierten Sinn tauchte der Begriff Kapazitätsreserve erstmals im "Grünbuch Strommarkt" auf, das der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) im Herbst 2014 vorlegte (141105). Genaueres folgte in einem "Weißbuch" vom Juli 2015, in dem Gabriel die von der Großen Koalition beschlossenen "Eckpunkte für eine erfolgreiche Umsetzung der Energiewende" aufbereiten ließ (150701). Die zusätzliche Reserve sollte die in Süddeutschland angesiedelte Netzreserve bundesweit ergänzen und nur dann eingesetzt werden, "wenn es trotz freier Preisbildung am Großhandelsmarkt wider Erwarten einmal nicht zur Deckung von Angebot und Nachfrage kommen sollte". Sie werde nur Kraftwerke umfassen, "die nicht am Strommarkt teilnehmen und daher auch nicht den Wettbewerb und die Preisbildung verzerren". An der Ausschreibung dieser Reserve würden sich auch "voraussichtlich nur solche Kraftwerke beteiligen, die am Strommarkt nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können".

Gabriel brauchte eine netztechnische Begründung für den Abbau von Kohle-Kapazitäten

Das klang nicht gerade so, als ob netztechnisch ein dringender Bedarf an einer solchen zusätzlichen Reserve vorhanden sei. Dieser Eindruck verstärkte sich bei "Weißbuch"-Sätzen wie:

"Im unwahrscheinlichen Fall, dass am Vortag – das heißt am Day-Ahead-Markt – trotz freier Preisbildung nicht ausreichend Strom an der Strombörse angeboten wird, um die Nachfrage zu decken, fordern die Übertragungsnetzbetreiber die Kraftwerksbetreiber auf, ihre Anlagen 'in Bereitschaft' zu versetzen. Die Kraftwerke fahren auf ihre Mindestteillast hoch und warten auf weitere Anweisungen der Übertragungsnetzbetreiber. Am Tag darauf folgt der kurzfristige, untertägige Handel (Intraday-Markt). Nur für den Fall, dass auch am Intraday-Markt die Nachfrage trotz freier Preisbildung nicht vollständig gedeckt wird, greifen die Übertragungsnetzbetreiber ein. Zunächst nutzen sie die verfügbare Regelleistung. Genügt dies nicht, fordern die Übertragungsnetzbetreiber die Reservekraftwerke auf, die verbleibende Nachfrage zu decken."

Tatsächlich ging es wohl auch gar nicht um eine netztechnisch notwendige Reserve – zumindest nicht in erster Linie und deutlich weniger plausibel als bei der Netzreserve. Im Vordergrund stand vielmehr ein politisches Konzept: Gabriel sah die energie- und klimapolitische Notwendigkeit, die Überkapazitäten bei den Kohlekraftwerken abzubauen. Die Erreichung dieses Ziels wollte er mit finanziellen Hilfen für die betroffene Branche verbinden und so erleichtern. Weil diese Hilfen nicht aus dem Bundeshaushalt kommen durften – das wäre auch beihilferechtlich problematisch gewesen – mußte eine netztechnische Begründung her, um sie über die Netzentgelte auf die Stromverbraucher abwälzen zu können. Zugleich wollte er sich so die Zustimmung der Gewerkschaft IGBE sichern, die die Interessen der Beschäftigten in diesem Wirtschaftsbereich vertritt.

"Zum Gürtel noch ein Hosenträger"

In einem Eckpunktepapier vom März 2015 charakterisierte Gabriel die Kapazitätsreserve als eine Art "Hosenträger", der den bereits vorhandenen "Gürtel" in Form der Reservekraftwerksverordnung ergänze (150301). Das war ein sehr schöner und fast selbstironisch anmutender Vergleich: Es schien, als wolle der Minister augenzwinkend eine Camouflage eingestehen, wie sie in der Politik nun mal ab und zu unvermeidlich ist. Aber das war sicher nicht seine Absicht, denn er gab sich zugleich viel Mühe, der Duplizität von Hosenträger und Gürtel die unfreiwillige Komik zu nehmen: "Kapazitäts- und Netzreserve sind zwei unterschiedliche Instrumente", versicherte er in dem Weißbuch vom Juli 2015. Die Kapazitätsreserve sei sogar wichtiger und dauerhafter angelegt, denn die Netzreserve werde längerfristig mit dieser "verzahnt" werden und auslaufen:

"Während die Kapazitätsreserve deutschlandweit und unbefristet eingeführt wird, erfüllt die Netzreserve eine regionale, zeitlich begrenzte Aufgabe, die maßgeblich vom Fortschritt des Netzausbaus abhängt. Die Netzreserve kann in dem Umfang auslaufen, wie wichtige Netzausbauvorhaben abgeschlossen und keine Reservekraftwerke mehr für den sicheren Netzbetrieb erforderlich sind."

Kraftwerksbetreiber wollten subventionierte "Kapazitätsmärkte"

Die von Gabriel vorgeschlagene Kapazitätsreserve war Bestandteil eines ganzen Katalogs von energierechtlichen Änderungen im Rahmen eines "Strommarktgesetzes", das im zeitgeistigen Habitus eines Software-Updates als "Strommarkt 2.0" daherkam. Sie sollte nicht zuletzt ein anderes Konzept verhindern, das der Branchenverband BDEW unter dem Schlagwort "neues Strommarktdesign" propagierte: Damit war die Einführung sogenannter Kapazitätsmärkte gemeint, die von den Kraftwerksbetreibern seit längerem gefordert wurde (111104, 130702, 130406). Bei der schwarz-gelben Vorgängerregierung war die Branchen-Lobby damit auf offene Ohren gestoßen (120502). Auch zu Zeiten der Großen Koalition wurde diese Forderung noch immer von einflußreichen Teilen der CDU/CSU unterstützt.

Dagegen sah der Koalitionsvertrag vom November 2013 – hauptsächlich auf Drängen der SPD – keine Dringlichkeit zur Einführung eines derartigen Kapazitätsmarktes (131101). Neben der Schaffung eines neuen Subventionstatbestands wollte man wohl auch verhindern, daß sich die neue Pfründe perpetuieren und zur klimapolitischen Bremse entwickeln würde. Die ersatzweise vorgeschlagene Ausmusterung von unrentablen Kraftwerkskapazitäten und ihre Überführung in eine betriebsbereite Kapazitätsreserve hatte klimapolitisch einen ähnlichen Effekt wie die subventionierte Vorhaltung von Kohle- und Gaskapazitäten. Allerdings mußten bei beiden Lösungen die Netzkosten spürbar steigen und über eine entsprechende Erhöhung der Netzentgelte die Stromverbraucher belasten.

Neben der Reserve war zunächst auch eine "Klimaabgabe" geplant

In dem Eckpunktepapier vom März 2015 war neben der Kapazitätsreserve noch das Konzept einer "Klimaabgabe" enthalten. Diese sollte einen Ausgleich dafür schaffen, daß der Handel mit Emissionszertifikaten bisher praktisch wirkungslos geblieben war (140406, siehe Hintergrund November 2017) und die EU trotzdem erst ab 2021 eine sogenannte Markstabilitätsreserve einführen wollte (140109). Die Klimaabgabe hätte nur fossil befeuerte Kraftwerke betroffen, die älter als zwanzig Jahre sind. Überdies hätten alle Kraftwerke einen Freibetrag in Tonnen CO2 pro Gigawatt erhalten, der so hoch angesetzt ist, daß letztendlich 90 Prozent der fossilen Stromerzeugung den Klimabeitrag nicht leisten müssen. Bei Überschreitung des Freibetrags hätten die Kraftwerke zusätzliche Emissionsberechtigungen aus dem Europäischen Emissionshandelssystem (ETS) erwerben müssen, die anschließend stillgelegt werden.

Kapazitätsreserve und gesetzliche Auflagen zur CO2-Minderung waren so zwei sich ergänzende Vorschläge. Gabriel wollte aus beiden eine Art Zwickmühle konstruieren, um durch Abschaltung der ältesten und emissionsträchtigsten Kohlekraftwerke das Klimaziel zu erreichen, wie es im Koalitionsvertrag festgelegt war (131101), schließlich aber meilenweit verfehlt wurde (180104).

Verzicht auf Klimaabgabe sollte BDEW, BDI und IGBCE miteinbinden

Vorläufig offen blieb dabei das Mischungsverhältnis zwischen gesetzgeberischem Druck per Klimaabgabe und finanziellen Anreizen per Kapazitätsreserve. Bald wurde allerdings klar, daß Gabriel auf den Druck weitgehend verzichten und stattdessen die Kraftwerksbetreiber mit finanziellen Anreizen zur Stillegung von Anlagen bewegen wollte. Auf die Klimaabgabe wurde schließlich ganz verzichtet. Dafür entstanden aus dem ursprünglich weiter gefaßten Begriff Kapazitätsreserve – der als terminus technicus nach wie vor seine Berechtigung hat – die Kapazitätsreserve im engeren Sinne von § 13e EnWG sowie die "Sicherheitsbereitschaft" im Sinne von § 13g EnWG (siehe hierzu auch Hintergrund, Juli 2015)

Den Verzicht auf die Klimaabgabe erklärte Gabriel zielgruppenbewußt in einer Rede vor dem Jahreskongreß des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) am 24. Juni 2015 in Berlin (150602). Ersatzweise griff er den Vorschlag der Gewerkschaft IGBCE und des Bundesverbands der Deutschen Industrie auf, alte Braunkohlekraftwerke in eine "strategische Reserve" zu überführen, deren Vorhaltung über die Netzkosten bzw. den Strompreis finanziert wird. Er beugte sich damit dem Widerstand der Braunkohle-Lobby, die von den SPD-regierten Braunkohle-Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Brandenburg unterstützt wurde (150404).

Insgesamt sollten 4,5 Gigawatt Kraftwerksleistung nur noch als "Kapazitätsreserve" vorgehalten werden

Als die schwarz-rote Koalitionregierung dann am 14. November 2015 den Entwurf des "Strommarktgesetzes" beschloß, war einer der wichtigsten Punkte des des zwölf Artikel umfassenden Gesetzes-Pakets der Abbau der bestehenden Überkapazitäten durch die Stillegung von Kraftwerken mit einer Leistung von insgesamt 4,5 Gigawatt. Diese Kraftwerke sollten vom Netz gehen und aus der kommerziellen Stromerzeugung ausscheiden. Sie sollten aber nicht endgültig stillgelegt werden, sondern noch eine gewisse Zeit zur Verfügung stehen, falls ein Mangel an Kraftwerken auftreten und die Versorgungssicherheit gefährden sollte. In diesem Fall so hieß es, würden sie dann auf Anforderung der Übertragungsnetzbetreiber reaktiviert und ausschließlich für netztechnische Zwecke eingesetzt. Für die weitere Vorhaltung der Anlagen und deren Einsatz würden den Betreiber angemessene Vergütungen gewährt.

Separate Lösung für acht Braunkohle-Blöcke mit 2,7 Gigawatt

Zunächst umfaßte das "Kapazitätsreserve"-Konzept auch die Braunkohle. Für die acht Braunkohle-Blöcke mit 2,7 Gigawatt wurde dann aber mit § 13g EnWG eine separate Lösung geschaffen, wobei man die Entschädigungen für die Betreiber mit einer angeblich notwendigen "Sicherheitsbereitschaft" dieser Blöcke nach ihrer Abschaltung begründete. Das Strommarktgesetz verengte so den Begriff "Kapazitätsreserve": Es reservierte ihn fortan für Kohlekraftwerke und andere konventionelle Anlagen, die grundsätzlich abgeschaltet und dem Markt entzogen sind, sich aber im Bedarfsfall schneller aktivieren lassen. Der neue § 13g EnWG wurde dagegen schlicht und zutreffend mit "Stilllegung von Braunkohlekraftwerken" überschrieben. Die netztechnische Begründung diente hier offensichtlich nur noch als Vorwand, um die Entschädigungen für die Kraftwerksbetreiber in die Netzkosten eingehen zu lassen und so auf die Stromverbraucher abzuwälzen (siehe unten).

Rückkehr zur kommerziellen Stromerzeugung ausgeschlossen

Nach § 13e soll die "Kapazitätsreserve" ab dem Winterhalbjahr 2017/2018 eine Leistung von 1,8 Gigawatt vorhalten und ab dem Winterhalbjahr 2019/2020 jeweils fünf Prozent der durchschnittlichen Jahreshöchstlast abdecken können. Sie wird im Rahmen eines wettbewerblichen Beschaffungsverfahrens organisiert, das die Übertragungsnetzbetreiber ab 2016 "in regelmäßigen Abständen" durchführen. Im Unterschied zu den acht Braunkohle-Blöcken, die nach vier Jahren "Sicherheitsbereitschaft" definitiv stillgelegt werden, können sich hier die eingebrachten Anlagen noch an weiteren einschlägigen Ausschreibungsrunden beteiligen. Eine Rückkehr zur kommerziellen Stromerzeugung ist aber ebenfalls ausgeschlossen.

Im wesentlichen geht es um die Stillegung älterer Steinkohle-Blöcke

Der § 13e beschränkt die "Kapazitätsreserve" nicht auf bestimmte Kraftwerkstypen. Die gleichzeitig veröffentlichte "Kapazitätsreserveverordnung" ist aber sichtlich auf die Stillegung älterer Steinkohle-Blöcke zugeschnitten: Die Anlagen müssen in maximal 12 Stunden aus dem kalten Zustand angefahren werden können. Sie müssen ferner in der Lage sein, die vertraglich vereinbarte Einspeisung um bis zu fünfzig Prozent zu reduzieren und sie im Teillastbetrieb binnen 15 Minuten um 30 Prozent der vereinbarten Kapazität zu verändern.

Angeblich wird der Duchschnittshaushalt jährlich mit nur 3,50 Euro belastet

Die Zahlungen an die Betreiber der acht Braunkohle-Blöcke bezifferte die Bundesregierung mit rund 230 Millionen Euro jährlich bzw. mit 1,6 Milliarden Euro über die gesamte Laufzeit von sieben Jahren. Das Verfahren zur Berechnung der Vergütungen regelt eine Anlage, die dem Energiewirtschaftsgesetz hinzugefügt wurde. Die Kosten der "Kapazitätsreserve" waren dagegen nur grob abschätzbar, da sie sich erst aus dem Ausschreibungsverfahren ergeben. Die Bundesregierung bezifferte sie vorläufig mit 130 bis 260 Millionen Euro pro Jahr. Ihren Angaben zufolge würde die Umlegung beider Maßnahmen auf die Netzentgelte den Netto-Endverbraucherpreis um etwa 0,1 Cent pro Kilowattstunde erhöhen und sich damit nur geringfügig auswirken. Für den Durchschnittshaushalt mit einem jährlichen Stromverbrauch von 3500 Kilowattstunden wären das 3,50 Euro.

Falls sich die "Kapazitätsreserve" unter netztechnischen Gesichtspunkten als überdimensioniert oder sogar als überflüssig erweisen sollte, weil bereits die "Netzreserve" nach § 13d alle Risiken hinreichend abdeckt, ist ihre Rückgängigmachung frühestens zum 31. Oktober 2018 möglich: Anschließend überprüft und entscheidet die Bundesnetzagentur mindestens alle zwei Jahre, ob eine Anpassung des Umfangs der Kapazitätsreserve erforderlich ist.

 

 

Betreiber Anlage MW (netto) Inbetriebnahme Beginn der "Sicherheitsbereitschaft" endgültige Stillegung
RWE Frimmersdorf P
284
1966
1. 10. 2017
2021
RWE Frimmersdorf Q
278
1970
1. 10. 2017
2021
RWE Niederaußem E
295
1970
1. 10. 2018
2022
RWE Niederaußem F
299
1971

1. 10. 2018

2022
RWE Neurath C
292
1973
1. 10. 2019
2023
Vattenfall Jänschwalde F
465
1989
1. 10. 2018
2022
Vattenfall Jänschwalde E
465
1987
1. 10. 2019
2023
Mibrag Buschhaus
352
1985
1. 10. 2016
2020

 

Von den insgesamt acht Braunkohle-Kraftwerken, die gemäß § 13 EnWG in den Jahren 2021 bis 2023 endgültig vom Netz gehen müssen, wurden Buschhaus (161009) und die beiden Blöcke P und Q in Frimmersdorf (171102) bereits abgeschaltet und in die vierjährige "Sicherheitsbereitschaft" überführt.

 

(3) Die "Sicherheitsbereitschaft" nach § 13g EnWG

Im Sommer 2015 beschlossen die Parteien der Großen Koalition, die ursprünglich geplante "Klimaabgabe" für alte Kohlekraftwerke fallenzulassen. Ersatzweise sollten 13 Prozent der installierten Braunkohle-Leistung vom Netz genommen und die Betreiber dafür entschädigt werde. Um diese Zahlungen über die Netzentgelte auf die Stromverbraucher abwälzen zu können, sollten die Braunkohle-Kraftwerke aber nicht einfach stillgelegt, sondern schrittweise in eine "Kapazitätsreserve" überführt werden (150701). Ein Vierteljahr später kam eine entsprechende Vereinbarung zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und den Braunkohleverstromern RWE, Vattenfall und Mibrag zustande. Sie sah vor, von Oktober 2016 bis Oktober 2019 insgesamt acht Braunkohle-Blöcke mit einer Leistung von 2,7 Gigawatt vom Netz zu nehmen und nach jeweils vier Jahren endgültig stillzulegen (151005).

Brüssel genehmigte Abwrackprämie als Beitrag zum Klimaschutz

Im sogenannten Strommarktgesetz, das diesen Handel im Juni 2016 durch den neu eingefügten § 13g EnWG parlamentarisch absegnete (160604), war dann nicht mehr von einer Kapazitätsreserve die Rede. Dieser Begriff blieb nun für die Kohle- oder Gaskraftwerke reserviert, für die in § 13e EnWG eine ähnliche Lösung gefunden wurde (siehe oben). Stattdessen sprach man von einer"Sicherheitsbereitschaft", die in den jeweils vier Jahren bis zur endgültigen Stillegung angeblich notwendig sei. Zugleich wurde die Neuregelung ausdrücklich als "Beitrag zur Erreichung der nationalen und europäischen Klimaschutzziele" bezeichnet. Offenbar wollte man mit dieser Begründung vermeiden, daß die Zahlungen an die Kraftwerksbetreiber von der EU-Kommission als verbotene Beihilfe eingestuft und untersagt wurden. Das war dann auch nicht der Fall: Vier Wochen vor der Beschlussfassung des Bundestags genehmigte Brüssel die Regelung, weil sie die umweltpoltischen Ziele der Gemeinschaft fördere und Deutschand bei der Erreichung seines CO2-Minderungsziels helfe, "ohne den Wettbewerb übermäßig zu verfälschen" (160503).

Bis zur vollständigen Reaktivierung der Braunkohleblöcke würden elf Tage vergehen

Als Beispiel für eine sinnvolle Reaktivierung der abschalteten Braunkohlekraftwerke nannte die Bundesregierung in ihrer Begründung des Gesetzentwurfs den Kühlwassermangel, wie er gelegentlich in heißen Sommermonaten auftritt und dann vor allem Wärmekraftwerke mit Frischwasserkühlung zur Drosselung ihrer Stromproduktion zwingt (030801). Ferner sei im Winter ein Engpaß bei der Stromversorgung vorstellbar, weil zugefrorene Flüsse die Brennstoffversorgung von Kraftwerken behindern. Beide Beispiele wirken aber ziemlich an den Haaren herbeigezogen, zumal sich in den elf Tagen, die zwischen einer entsprechenden "Vorwarnung" durch den zuständigen Übertragungsnetzbetreiber und der vollständigen Reaktivierung der Braunkohleblöcke vergehen, die jeweiligen Engpässe bereits erledigt haben dürften.

Die vierjährige "Sicherheitsbereitschaft" ist deshalb praktisch nur ein Vorwand, um den Betreibern eine Abwrackprämie zukommen zu lassen, die über die Netzentgelte abgerechnet wird und so von den Stromverbrauchern zu bezahlen ist. In der Praxis gab und gibt es keinen Bedarf für eine derartige Reserve, und sie stünde auch nicht innerhalb der notwendigen Zeit zur Verfügung. (Siehe Hintergrund, Juli 2015)

(4) Die Netzstabilitätsanlagen nach § 11 Abs. 3 EnWG (vormals § 13k EnWG)

Aufgrund einer kurzfristig vorgelegten Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses wurde bei der Beratung des sogenannten Strommarktgesetzes im Juni 2016 dem Energiewirtschaftsgesetz der § 13k eingefügt, der mit "Netzstabilitätsanlagen" überschrieben war. Demnach durften Betreiber von Übertragungsnetzen, "Erzeugungsanlagen als besonderes netztechnisches Betriebsmittel errichten, soweit ohne die Errichtung und den Betrieb dieser Erzeugungsanlagen die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems im Sinne von § 2 Absatz 2 der Netzreserveverordnung gefährdet ist". Diese Erzeugungsanlagen durften eine elektrische Nennleistung von insgesamt 2 Gigawatt nicht überschreiten. Die Übertragungsnetzbetreiber wurden aufgefordert, den Bedarf für solche Anlagen zu ermitteln und von der Bundesnetzagentur bestätigen zu lassen.

Netzbetreiber wünschten sich schnell hochfahrbare Gaskraftwerke in eigener Regie

Im Februar 2017 legten die vier Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB), von denen vermutlich die Anregung gekommen war, den verlangten Bericht vor und präzisierten, weshalb sie den Besitz solcher Netzstabilitätsanlagen für notwendig hielten: An den süddeutschen Netzknotenpunkten müßten schnell hochfahrbare Gaskraftwerke mit einer Leistung von insgesamt rund 2000 Megawatt (MW) errichtet bzw. vor der Stillegung bewahrt werden. Andernfalls könne es in den Jahren 2020 bis 2025 zu gravierenden Störungen der deutschen und europäischen Stromversorgung kommen. Sie hielten es ferner für sinnvoll und notwendig, diese Kraftwerke in eigener Regie zu betreiben (170204).

Netzausbau hält mit Verschärfung der Engpässe in Süddeutschland nicht Schritt

"Bereits heute wird das deutsche Übertragungsnetz vornehmlich in Nord-Süd-Richtung zunehmend an seinen technisch zulässigen Grenzen belastet", hieß es in dem Bericht einleitend. Notwendige Freischaltungen von Betriebsmitteln, die zur Umsetzung des umfangreichen Netzausbaus erforderlich sind, würden diesen Trend bis 2025 weiter verstärken. Durch den Kernenergieausstieg verliere das System in erheblichem Umfang gesicherte Einspeisung in Süddeutschland. Bis 2020 und 2022 würden die letzten großen süddeutschen Kernkraftwerke planmäßig abgeschaltet. Der Netzausbau mit seinem Zieltermin 2025 werde bis dahin noch nicht fertiggestellt sein. Gleichzeitig nehme im Norden die Einspeisung aus Windenergie kontinuierlich zu. Außerdem wachse der Übertragungsbedarf für den europäischen Stromhandel. Die zur Verfügung stehenden Netzquerschnitte könnten mit diesen Entwicklungen nicht Schritt halten. Mit dem bis Ende 2025 erreichten Netzausbau werde dann voraussichtlich eine Entspannung eintreten. Belastbare Prognosen seien aber für diesen Zeithorizont momentan noch nicht möglich.

Auch die Bundesnetzagentur sah einen Bedarf von 1,2 Gigawatt

Pflichtschuldigst erwiesen die vier Regelzonenbetreiber dem von Brüssel geforderten "Unbundling" ihre Reverenz, indem sie bekräftigten, daß "für die Bereitstellung von Systemdienstleistungen primär der Markt zuständig" sei. Zugleich verwiesen sie aber auch darauf, welche Vorteile es hätte, wenn sie im Notfall über die gewünschten "Netzstabilitätsanlagen" verfügen könnten:

Die Bundesnetzagentur bestätigte den Bedarf an solchen Anlagen grundsätzlich. Sie kürzte lediglich die beantragten 2 Gigawatt, mit denen die Übertragungsnetzbetreiber das gesetzliche Limit voll ausschöpfen wollten, auf 1,2 Gigawatt.

Für die EU-Kommission war die neoliberale Dogmatik verletzt

Trotzdem wurde aus den Netzstabilitätsanlagen in der geplanten Form nichts. Im Grunde handelte es sich nämlich um eigene Kraftwerke der Netzbetreiber zur Bereitstellung von Regelenergie. Und dies widersprach einem grundlegenden Dogma der Brüsseler Energiepolitik, die auf einer chemisch reinen Trennung zwischen Kraftwerken und Netzen besteht, obwohl der Stromnetzbetrieb ohne ständige Zufuhr von Regelenergie sofort zusammenbrechen würde. Die EU-Kommission legte sich jedenfalls quer und der nationale Gesetzgeber in Berlin gehorchte.

Vor diesem Hintergrund wurde im Zuge einer im Juni 2017 beschlossenen Novellierung der § 13k im Energiewirtschaftsgesetz komplett gestrichen. Stattdessen kam mit dem § 11 Abs. 3 ein nur schwächlicher Ersatz zustande: Begrifflich tauchten die "Netzstabilitätsanlagen" gar nicht mehr auf. Inhaltlich schrumpften sie zu "besonderen technischen Betriebsmitteln", derer sich die Netzbetreiber mit Hilfe Dritter bedienen können, die sie aber keinesfalls selber besitzen dürfen (170604).

Technisch sinnvoll ist es aber sicher nicht, wenn man den Übertragungsnetzbetreibern weiterhin eigene Anlagen zur Deckung ihres Bedarf an Regelenergie vorenthält. Schließlich verlangt man auch von der Feuerwehr nicht, dass sie ihren Bedarf an Löschwasser am Markt ausschreibt und von externen Dienstleistern bezieht. Zum Beispiel wären die vier Netzbetreiber ideale Kandidaten für die Übernahme jener Pumpspeicherkraftwerke, die der Stromkonzern Vattenfall nur noch stillegen oder irgendwie loswerden möchten, weil solche klassischen Regelenergie-Anlagen im neoliberalisierten Markt nicht mehr rentabel sind (170610, 150902, 140804, siehe auch Hintergrund August 2014). In ihrer Stellungnahme zum Strommarktgesetz forderten deshalb die sachverständigen Ausschüsse des Bundesrats, das "Pumpspeicherkraftwerke und andere geeignete Energiespeicher als systemrelevante Netzsicherungsanlagen auch im Eigentum von Netzbetreibern betrieben werden können". In der geglätteten Fassung, die mit dem Segen des Länder-Plenums zwei Wochen später der Bundesregierung übermittelt wurde, war diese Ketzerei allerdings schon wieder gestrichen (151212).

 

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