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Eine Reform, die falsch angepackt wurde

Wie viele andere „Reformen“, die der seit den achtziger Jahren grassierende Neoliberalismus hervorgebracht hat, bewirkte die sogenannte Liberalisierung der Stromwirtschaft letzten Endes das Gegenteil: Es entstand ein Oligopol von nationalen und internationalen „Champions“, die über eine bisher unvorstellbare Marktmacht verfügten und diese rücksichtlos ausnutzten. Ein führender Vertreter der industriellen Großstromverbraucher, Werner Marnette, charakterisierte im Juni 2005 den erreichten Zustand so:

„Was wir jetzt haben, ist noch schlimmer als ein Monopol: In Deutschland hat sich - und zwar mit Duldung der Politik - auf dem Strommarkt ein Oligopol gebildet. Deutschland ist jetzt quasi aufgeteilt in vier Besatzungszonen: Die Konzerne E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW beherrschen 90 Prozent des Marktes, und zwar bis tief hinein in die kommunalen Strukturen. Zwischen den Besatzungszonen findet kein Wettbewerb statt. Früher haben sich die Monopolisten noch um große Kunden bemüht. Heute müssen wir als Großkunden die Erzeuger bitten, uns ein Angebot zu machen. Und dann stellen wir fest, daß das Angebot ganz zufällig identisch ist mit dem, was unser lokaler Besatzer auch fordert.“

Ganz ähnlich äußerte sich mehrfach die Monopolkommission, die eigentlich die Bundesregierung beraten sollte, bei dieser aber mit ihren Warnungen auf taube Ohren stieß. Da auch dieses Gremium mehrheitlich dem neoliberalen Credo anhing, gemahnten seine Klagerufe ein bißchen an den Zauberlehrling, der die Geister, die er leichtfertig beschwor, nicht mehr zu bannen vermochte.

Vom Regen in die Traufe?

Rückblickend hätte man vielleicht besser alles so belassen, wie es war. Trotz der unleugbaren Mängel, die das alte System aufwies, gewährte es eine halbwegs preisgünstige und in technischer Hinsicht sogar hervorragende Stromversorgung. Wirtschaftlich und politisch gab es keinen zwingenden Grund, das in hundert Jahren entstandene System der „integrierten“ Stromversorger aufzubrechen. Dem Problem der satt bemessenen Strompreise hätte man mit verstärkter behördlicher Kontrolle der Tarife und Erleichterung der industriellen Eigenerzeugung beikommen können. Den Technikern standen ohnehin die Haare zu Berge, wenn ihnen die Deregulierungskommission mit dem Ansinnen kam, die „Durchleitung“ vom Ausnahme- zum Regelfall zu machen. Für sie waren das marktwirtschaftliche Ideologen und blutige Laien, die keine große Ahnung von Lastverteilung, Stromflüssen im Netz oder Kraftwerkseinsatz hatten.

Gewiß: Die Stromversorger besaßen in ihren abgeschotteten Versorgungsgebieten ein unumschränktes Monopol. Die Kunden hatten keine Wahlmöglichkeit. Sie gehörten dem jeweiligen Versorger wie früher die Untertanen dem Fürsten. Die Freistellung der Stromwirtschaft vom Kartellverbot bedeutete aber nicht Willkür. Sie war vielmehr mit gesetzlichen Auflagen verbunden. Vor allem mußten die Stromversorger ihre Preise vom Staat kontrollieren und genehmigen lassen. Um im Bild zu bleiben: Es herrschte nicht Fürstenwillkür, sondern eher eine Art konstitutionelle Monarchie.

Die behördlich genehmigten Tarife deckten die Kosten für Erzeugung, Transport und Vertrieb des Stroms plus einer Gewinnmarge ab. Die Stromversorger waren damit in der angenehmen Lage, stets aus dem Vollen wirtschaften zu können. Da sie praktisch alle Kosten auf die Verbraucher weiterwälzen konnten, andererseits aber ihr geschäftlicher Aktionsradius auf das Versorgungsgebiet beschränkt und die Rendite durch staatliche Preisaufsicht begrenzt war, ließen sich Gewinne nur verstecken und der Unternehmenswert steigern, indem sie möglichst viel in Netze und Kraftwerke investierten. Die Rendite war in jedem Falle garantiert und ermöglichte eine mehr als auskömmliche Existenz. Andererseits war die Gewinnmarge aber doch nicht so üppig, um Börsenphantasien zu beflügeln. Die Aktien der großen Stromversorger galten als grundsolide „Witwen- und Waisenpapiere“, denen weder Abstürze noch Höhenflüge zuzutrauen waren.

Soweit die Stromversorger tatsächlich unangemessene Gewinne machten und diese verstecken konnten, hielt sich der Schaden schon deshalb in Grenzen, weil sie ganz oder teilweise der öffentlichen Hand gehörten. Darin widerspiegelte sich die Entwicklung der deutschen Stromversorgung, die teils von „unten“ durch die Kommunen und teils von „oben“ durch die Länder bzw. das Reich organisiert worden war. Rein private Unternehmen gab es nur auf regionaler und lokaler Ebene, und auch hier als historisch bedingte Ausnahmen, die weder zahlenmäßig noch sonst ins Gewicht fielen. Auch der Platzhirsch RWE war ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen, das seinen Aufstieg zum größten deutschen Stromversorger einer symbiotischen Verbindung kommunaler und privater Interessen verdankte.

Entsprechend war das Selbstverständnis der Branche, die sich quasi als halbstaatliche Einrichtung des Gemeinwohls begriff. Sogar das börsennotierte RWE unterhielt keine Filialen, sondern „Verwaltungsstellen“, und anstelle einer Konzernspitze besaß es eine „Hauptverwaltung“. Es waren keine Managertypen, die in den Führungsetagen den Ton angaben, sondern Administratoren.

Damit einher ging eine ausgeprägte Parteienwirtschaft. Die Besetzung leitender Posten hing nicht nur von der fachlichen Qualifikation der Bewerber ab, sondern oft auch von deren politischen Verbindungen. Mitunter handelte es sich um reine Pfründen. Die halbstaatliche Stromwirtschaft eignete sich hervorragend, um verdienten Parteifreunden eine gutbezahlte Stellung zu verschaffen. Es gab unter den Repräsentanten der deutschen Stromwirtschaft deshalb ein paar ziemlich erbärmliche Kreaturen. Es gab aber auch hervorragende Fachleute, die in der Regel einen technischen Hintergrund hatten.

Die hier skizzierte deutsche Stromwirtschaft war in Teilen sicher ein Ärgernis. Dennoch stellt sich inzwischen die Frage, ob es sich nicht um das kleinere Übel handelte, wenn man die Folgen ihrer „Deregulierung“ betrachtet. Wurde nicht zumindest der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben? Oder gerieten die Stromverbraucher gar vom Regen in die Traufe?

Das „natürliche Monopol“ der Netzbetreiber wurde acht Jahre lang nicht hinreichend neutralisiert

Deregulieren ließen sich ohnehin nur Stromerzeugung und -vertrieb, nicht aber das Netz als Kern des Stromgeschäfts. Nach der Aufhebung der Versorgungsmonopole wurde das Netz sogar die einzige Existenzgrundlage für alle kommunalen und regionalen Verteiler, die über keine nennenswerte eigene Stromerzeugung verfügten. Das Netz war und blieb ein „natürliches Monopol“, das nicht dereguliert werden konnte, sondern im Gegenteil einen enormen Regulierungsaufwand erforderte, um es einigermaßen zu neutralisieren. Daß dieser Regulierungsaufwand gescheut und erst mit jahrelanger Verspätung nachgeholt wurde, war der Kardinalfehler des deutschen Sonderwegs zur Liberalisierung der Stromwirtschaft.

Unabhängig davon, daß die Deregulierung falsch angepackt wurde, stellt sich aber weiterhin die Frage, ob sie volkswirtschaftlich überhaupt sinnvoll war. Schließlich ignorierte man mit der wirtschaftlichen Trennung des Netzes von den übrigen Bereichen der Stromversorgung vorsätzlich den engen technischen Zusammenhang zwischen Erzeugung, Netz und Vertrieb, der nicht zufällig zur Entstehung der „integrierten“ Stromversorger geführt hat – ganz ähnlich wie bei den Eisenbahnen, wo Schienennetz und Bahnbetrieb so eng miteinander zusammenhängen, daß man früher nie auf die Idee gekommen wäre, beides unternehmensmäßig trennen zu wollen.

Inzwischen steht fest, daß es technisch tatsächlich geht. Aber um welchen Preis? – Anstelle vieler größerer und kleinerer Gebietsmonopolisten gibt es jetzt in Deutschland ein Oligopol von vier marktbeherschenden Konzernen. Auf europäischer Ebene teilt sich ebenfalls eine Handvoll Giganten den Markt. Und sie kontrollieren zunehmend nicht nur die Strom-, sondern auch die Gasversorgung. Für die Verbraucher ist die Energie nicht billiger, sondern teuerer geworden. Und die Versorgungssicherheit hat im Zweifelsfall eher ab- als zugenommen.

Zuerst schien der Wettbewerb zu funktionieren – aber dann wurde der Strom teurer als zuvor

Nur unmittelbar nach der Liberalisierung schien der Wettbewerb tatsächlich in Fahrt zu kommen. Die Stromrechnungen sanken sogar ganz erheblich – bis etwa um die Mitte des Jahres 2000 die Strompreise für Haushalte und Industrie wieder zu steigen begannen und sogar bald höher waren als vor der Liberalisierung. Zum Teil lag dies sicher auch an den mittlerweile stark erhöhten staatlichen Belastungen des Strompreises. Noch wichtiger war aber der Umstand, daß es in Deutschland als einzigem Land der EU keine Regulierungsbehörde gab, welche die Höhe der Netznutzungsentgelte wirksam überwachte. Es war vielmehr den Stromunternehmen überlassen worden, mit den anderen Branchenpartnern die Bedingungen für den Netzzugang und die Berechnung der Entgelte zu vereinbaren. Eigentümer der Netze waren aber ausschließlich die alten EVU, auch wenn deren Netzbetrieb mittlerweile buchhalterisch getrennt war oder sogar eine rechtlich eigenständige Gesellschaft bildete. Diese alten Platzhirsche konnten die Netznutzungsentgelte so hoch ansetzen, wie es die von ihnen hochgeschraubten Bestimmungen zuließen. Daran änderte auch die nachträgliche Mißbrauchsaufsicht durch das Bundeskartellamt nichts, zumal die umstrittenen „Verbändevereinbarungen“ Anfang 2003 auch noch durch eine Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz aufgewertet und zur „guten fachlichen Praxis“ erklärt wurden.

Unter diesen Umständen mußten die meisten der neuen Stromanbieter bald aufgeben. Auch unter den etablierten Stromversorgern ließ der Wettbewerb stark nach. Einer kurzen Phase scharfer Konkurrenz folgte der Rückzug auf die angestammten Versorgungsgebiete. Insbesondere galt dies für die vier großen Stromkonzerne RWE, E.ON, Vattenfall und EnBW, die nicht nur über achtzig Prozent der Stromerzeugung verfügen und das Transportnetz betreiben, sondern direkt oder indirekt auch den größten Teil des Endkundengeschäfts kontrollieren. Die amtliche Monopolkommission beklagte in ihrem 15. Hauptgutachten für die Jahre 2002/2003 ein „wettbewerbsloses Oligopol“, das von der Großhandelsebene auf sämtliche Bereiche der Stromwirtschaft ausstrahle und überall den Wettbewerb lähme.

Eindruck eines abgestimmten Markverhaltens

Es sieht so aus, als ob die Konzerne bereits im Jahr 2000 übereingekommen wären, der ruinösen Konkurrenz ein Ende zu bereiten – zunächst vielleicht mit Ausnahme der EnBW, die aber mittels der überhöhten Netzentgelte auch bald zur Räson gebracht werden konnte und sich mit ihrem Billigstromanbieter „Yello“ nur eine blutige Nase holte. Jedenfalls gingen in der zweiten Jahreshälfte 2000 die Strompreise wieder nach oben – erst für die Haushaltskunden, und gegen Ende des Jahres auch für die Industriekunden. Ende Dezember 2000 kam es an den Spotmärkten sogar zu einer regelrechten Preisexplosion. Bei der LPX in Leipzig war man bis dahin auf solche hektischen Preissprünge nicht einmal technisch vorbereitet, denn sie stießen an die Grenze des elektronischen Börsensystems (siehe Strombörsen).

Der Anschein eines abgestimmten Marktverhaltens bei den potentesten Börsenteilnehmern verstärkte sich in den folgenden Monaten und Jahren, denn die Spotmarktpreise bewegten sich nun nach Art einer Springprozession – zwei Schritte vor, einer zurück - unaufhaltsam nach oben. Nachdem die Stromkonzerne auch noch dazu übergingen, den Marktwert ihrer kostenlos erhaltenen Emissionshandels-Zertifikate auf die Strompreise aufzuschlagen, erreichten diese im Juli 2006 einen vorläufigen Höchststand mit 74,4 Euro/MWh für Grundlast rund um die Uhr („base“) und 134,50 Euro/MWh für Mittellast von 9 bis 20 Uhr („peak“).

Vor allem die Einbeziehung der Emissionshandels-Zertifikate in den Strompreis ließ für jeden unbefangenen Beobachter erkennen, daß hier Wettbewerb nicht praktiziert, sondern lediglich simuliert wurde. Zum Beispiel hätte auch der Chemiekonzern BASF seine fiktive Belastung durch Emissionszertifikate als „Grenzkosten“ auf die Preise aufschlagen können. Er tat es aber nicht, weil er im internationalen Wettbewerb stand und sich mit einer willkürlichen Verteuerung nur ins eigene Fleisch geschnitten hätte.

„Hochkonzentrierte Marktstrukturen“ haben sich verfestigt

In ihrem 16. Hauptgutachten für die Jahre 2004/2005, das sie im Juli 2006 dem Bundeswirtschaftsministerium überreichte, betrachtete die Monopolkommission die Entwicklung auf den Strom- und Gasmärkten weiterhin „mit großer Sorge“. In beiden Bereichen spiele der Wettbewerb bisher nur eine äußerst geringe Rolle. Bei Strom sei er „nach einer dynamischen Anfangsphase in den ersten beiden Jahren nach der Marktöffnung nahezu vollständig zum Stillstand gekommen“. Bei Gas habe er sich „noch nicht einmal ansatzweise“ entwickeln können“. Die Einführung einer Regulierungsbehörde habe zwar die Rahmenbedingungen verbessert, garantiere aber noch keinen funktionsfähigen Wettbewerb. Aufgrund der mittlerweile „hochkonzentrierten Marktstrukturen“ sei sogar nicht auszuschließen, „daß der Wettbewerb in der Strom- und Gaswirtschaft auch durch einen funktionsfähigen Durchleitungswettbewerb kaum noch wiederbelebt werden kann“.

Das seit 2005 geltende neue Energierecht soll nun für wirksameren Wettbewerb sorgen und eine Diskriminierung verhindern, indem es die Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde ermächtigt, alle Konditionen des Netzzugangs zu bestimmen. Natürlich kann die Regulierung nicht unabhängig von der tatsächlichen Kostensituation der Netzbetreiber erfolgen. Es soll aber auch nicht blindlings akeptiert werden, was das einzelne Unternehmen an Kosten zuzüglich einer Gewinnmarge geltend macht, wie das bisher bei den Tarifgenehmigungen der Fall war. Vielmehr werden Obergrenzen für die Netznutzungsentgelte vorgegeben, die sich längerfristig nicht mehr an den individuellen Kosten orientieren. Als Maßstab gilt, was bei günstig wirtschaftenden Unternehmen möglich und zumutbar wäre. Wer dabei Gewinn macht, darf den behalten. Der Gewinn ist umso größer, je günstiger das Unternehmen wirtschaftet. Deshalb wird das Verfahren als „Anreizregulierung“ bezeichnet.

Zugleich soll die Bundesnetzagentur aber auch auf die Versorgungssicherheit achten. Die Einsparungen der Netzbetreiber dürfen also nicht dazu führen, daß das Risiko von Stromausfällen merklich zunimmt. Hieraus ergibt sich ein Zielkonflikt, den die Netzbetreiber sicher eher zu Lasten der Versorgungssicherheit lösen werden. Sie haben jedenfalls schon mehrfach verkündet, daß es die Versorgungssicherheit gefährde, wenn ihnen die verlangten Netzentgelte nicht zugestanden würden. Und ob es der Regulierungsbehörde gelingt, die Strompreise wieder nennenswert sinken zu lassen, steht auch noch in den Sternen.